"Patrioten im Namen des Islam"

Reis-ul-Ulema Mustafa Ceric gilt als Mittler zwischen dem Islam und dem Christentum. In einem Interview fragt sich der oberste Mufti Bosniens und Herzegowinas, ob die Verdammung der Taliban und al-Qaidas nicht auch ein Vorwand für die Europäer ist, die bosnischen Muslime abzuwehren.

Die islamische Welt schaut mit Sympathie auf die Kämpfer im Irak, die den USA trotzen. Der Israel-Palästina-Konflikt heizt die Emotionen an, und radikale Gruppen wie die der Al-Qaida schwimmen wie Fische im Wasser. Befinden wir uns schon jetzt in einem Kampf der Kulturen?

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Reis-ul-Ulama Ceric

​​Reis-ul-Ulema Mustafa Ceric: Ich lehne diesen Gedanken rundweg ab. Wir befinden uns nämlich auf einem anderen Weg. Wir erlebten die Entwicklung von der Sklaverei zur Freiheit, vom Faustrecht hin zu einem demokratischen Rechtsstaat. Diese Entwicklung verdankt die Welt der westlichen Zivilisation und besonders Europa. Die Legitimation des Staates, also die Demokratie, ist eine der größten Errungenschaften, die es gegeben hat. Aber jetzt sind diese Werte nicht mehr nur gebunden an die westliche Zivilisation, sondern sind Werte, die auch andere akzeptieren und für sich beanspruchen. Was jetzt passiert, repräsentiert eher eine Krise der westlichen Zivilisation, die diese Werte offenbar nicht mit anderen teilen will.

Es gibt aber durchaus Strömungen im Islam, die diese Werte grundsätzlich ablehnen.

Ceric: Wir müssen etwas unterscheiden, nämlich die Prinzipien und die Modelle. Es gibt wohl kaum einen Muslim auf der Welt, der nicht prinzipiell die Freiheit anstrebt. Das Modell der westlichen Demokratie und der Menschenrechte funktioniert im Westen auf der Grundlage einer langen historischen Entwicklung. In der islamischen Welt allerdings noch nicht. Wir beobachten eine Wanderung der Muslime vom Osten in den Westen, muslimische Intellektuelle suchen den Kontakt zur westlichen Welt, während im Mittelalter die Bewegung umgekehrt verlief und westliche Geister den Kontakt mit dem Islam suchten. Die grundsätzliche Strömung im Islam ist heute also die Öffnung zum Westen hin, doch viele werden im Westen zurückgestoßen.

Die Taliban und al-Qaida sehen das wohl etwas anders.

Sicherlich, die Taliban kommen aus einer Region, in der die Stammesgesellschaft noch nicht überwunden ist. Diese Mentalität begreift die Universalität des Islam nicht. Andersherum jedoch will man vom Westen her die Muslime auf dieser Stufe lassen. Wir bosnischen Muslime sind in Europa nicht als Nation anerkannt. Europa möchte in uns eine Stammesgesellschaft sehen.

Es gibt also einen bosnischen Islam, der sich von dem Islam Indonesiens, Afghanistans oder Arabiens unterscheidet?

Ceric: Ich möchte nicht den Begriff "bosnischer Islam" verwenden. Aber es gibt einen bosnischen Erfahrungshorizont des Islam. In Bosnien entwickelte sich in über 500 Jahren ein Islam, der niemanden bedroht, sich also nicht gegen andere Völker wendet, sich auch nicht gegen die eigene Gesellschaft stellt. Wir stehen ein für Toleranz und Menschlichkeit und lehnen die Mentalität der Stammesgesellschaften ab. In Sarajevo gibt es eine Tradition, mit Christen und Juden zusammenzuleben. Wie man Unterschiede zwischen Katholiken in Polen, Österreich oder Frankreich sowie zu anderen christlichen Kirchen entdecken kann, so gibt es auch unterschiedliche Ausformungen des Islam.

Aber das heißt doch nichts anderes als die Behauptung der Existenz eines bosnischen oder europäischen Islam?

Ceric: Wenn Araber den Islam zur Durchsetzung ihrer nationalen Ziele nutzen, dann können wir in Europa dies auch tun. Wenn ein Ägypter das Recht hat, im Namen des Islam Patriot für sein Land zu sein, dann können wir europäischen Muslime auch europäische Patrioten im Namen des Islam sein. Das heißt nicht den Orient zu vergessen, die Sonne geht dort auf, alle großen Religionen schauen dort hin, der Orient ist nach wie vor eine "Orientierung", Juden, Christen und Muslime haben dort ihre gemeinsamen Wurzeln. Aber wir leben in Europa. Ich als europäischer Muslim möchte meinen Beitrag für die europäische Zivilisation leisten und als solcher ganz selbstverständlich anerkannt sein.

Für die Europäer geht es dabei um die Frage, ob die Werte der europäischen Gesellschaftsordnung, im Speziellen die Rolle der Religion im demokratischen Staat, dann auch von Seiten der Muslime anerkannt wird. Der Lackmustest für Sie ist ja Bosnien selbst. Mit dem Krieg und vor allem danach kamen islamische Extremisten ins Land, Fundamentalisten aus Saudi-Arabien, die Wahhabiten, bauten über 100 Moscheen und Gemeindehäuser und propagieren insgeheim so etwas wie eine islamische Gesellschaft. Das können Sie dann doch nicht dulden?

Ceric: Man tendiert jetzt in Europa dazu, diese Leute überzubewerten und dabei zu vergessen, dass von Karadzic und Mladic in Srebrenica und anderswo große Verbrechen an den Muslimen Bosniens begangen wurden. Die bosnischen Muslime
Vor dem Krieg 1992-1995 stellte die muslimisch-bosnische Bevölkerung 44 Prozent der Gesamtbevölkerung von 4,5 Millionen Bosniern, der Anteil der orthodoxen Serben war 33, derjenige der katholischen Kroaten 18 Prozent. Der Rest gehörte kleineren Gruppen an oder wollte sich nicht national definieren. 180.000 Muslime sollen nach Schätzungen im letzten Krieg ihr Leben gelassen haben. Europa sollte beschämt sein über das, was geschah und dass man es zugelassen hat. Wenn wir in Bosnien jetzt in die terroristische Ecke gestellt werden, dann hat dies etwas mit dem schlechten Gewissen uns gegenüber in Europa zu tun. Dabei gab es hier in Bosnien nach dem Ende des Krieges keine Revanche gegenüber den Tätern, obwohl es viele Gründe dafür gegeben hätte. Wir haben uns zivilisiert benommen. Während des Krieges mussten wir jegliche Hilfe annehmen, weil Europa zögerte, uns gegenüber der Aggression zu verteidigen. Deshalb kamen so genannte Mudschaheddin ins Land, die solidarisch mit uns sein wollten. Das liegt also auch in der europäischen Verantwortung. Zudem muss man sich fragen, was der Wahhabismus eigentlich ist. Es gibt einen politischen und religiösen Wahhabismus, der politische wurde vom Westen kreiert, um das türkisch-osmanische Reich zu schlagen. Saudi-Arabien ist nach wie vor Verbündeter des Westens. Der ideologische Wahhabismus, die Theologie, ist uns bosnischen Muslimen fremd geblieben. Wir haben ein anderes Verständnis von Staat und Gesellschaft, die bosnischen Muslime werden sich darin nicht verändern, da können sie sicher sein.

Mit dem Geld aus Saudi-Arabien wird doch auch Politik gemacht.

Ceric: Glauben Sie mir, in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien gibt es weit mehr solcher Leute als hier. Deutschland hat 100.000 Euro für den Wiederaufbau der orthodoxen Kirche in Mostar gegeben, bisher aber wurde von keinem europäischen Land außer Schweden etwas für den Wiederaufbau von Moscheen gespendet. Immerhin wurden während der ethnischen Säuberungen ja fast 1.000 Moscheen in Bosnien zerstört, darunter die berühmten Moscheen in Foca und Banja Luka. Wir akzeptieren das Geld aus Saudi-Arabien für den Wiederaufbau. Sollen wir denen sagen, Europa liebt euch nicht, deshalb wollen wir kein Geld? Wir sind arm, alleine können wir das nicht schaffen, wir brauchen Hilfe von außen.

Die Institution des Reis-ul-Ulema ist nach der Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und einzigartig in der Welt des Islam. Sie sind sowohl ein religiöses Oberhaupt und Ihre Institution bedeutete ursprünglich auch, ein politischer Repräsentant der Muslime Bosniens zu sein. Vor zwei Jahren haben Sie vorgeschlagen, die Institution des Reis-ul-Ulema europaweit zu verankern. Bedeutete dies einen Schritt hin zur Institutionalisierung des Islam in Europa?

Ceric: Richtig. Ich lebe für den Tag, an dem die Muslime Europas die Chance haben, erfolgreich zu sein und ihren Beitrag für das gemeinsame Europa zu leisten. Ich bin über unsere Zukunft als religiöse Gemeinschaft in Bosnien nicht besorgt, schon eher über jene in Westeuropa. Wir hier haben nämlich den Reis-ul-Ulema, die höchste religiöse Instanz, in Westeuropa gibt es hunderte von islamischen Gruppen mit den unterschiedlichsten Auffassungen. Wir hier in Bosnien haben eine lange und gefestigte Tradition. In West- und Mitteleuropa gibt es Einwanderungsgesellschaften, deren Mitglieder jetzt zwar schon in der dritten oder vierten Generation dort leben, dennoch aber zersplittert sind. Deshalb meine ich, die Muslime in Europa müssten eine einheitliche Repräsentanz entwickeln. Das ist im Interesse Europas. Unsere religiösen Lehrer sollten in Europa ausgebildet werden und sich als europäische Muslime verstehen. Das heißt dann auch, die Werte der europäischen Gesellschaft in Bezug auf Freiheit und Rechtsstaat zu akzeptieren und weiter zu entwickeln.

Interview: Erich Rathfelder, © taz, 16. April 2004