"Die EU hat die Türkei nicht korrekt behandelt"

Der Buchautor, Zülfü Livaneli, bei der Buchpräsentation "Glückseligkeit", aufgenommen am 19.10.2008 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main. Foto: Arno Burgi dpa
Der Buchautor, Zülfü Livaneli, bei der Buchpräsentation "Glückseligkeit", aufgenommen am 19.10.2008 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main. Foto: Arno Burgi dpa

Zülfü Livaneli gehört zu den renommiertesten Intellektuellen der Türkei. Hülya Sancak hat sich mit ihm über seinen neuen Film über Staatsgründer Atatürk, über Demokratie und Xenophobie in der Türkei und über das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU unterhalten.

Von Hülya Sancak

Zülfü Livaneli; Foto: www.livaneli.gen.tr
Einer der renommiertesten Intellektuellen der Türkei: Zülfü Livaneli, der sich in seinem neuen Film an einem subjektiven Porträt des türkischen Staatsgründers Atatürk versucht.

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Hatten Sie Schwierigkeiten, eine historische Figur wie Atatürk auf die Leinwand zu bringen?

Zülfü Livaneli: Natürlich, es war nicht so leicht. Denn Atatürk ist in der Türkei wie ein heiliger Gral; jeder hat ein Atatürk-Bild in seinem Kopf. Für manche ist er wie ein Denkmal, wenn es etwas Menschliches zeigt, werden sie böse. Für einige ist Atatürk allerdings eine unbeliebte Persönlichkeit, und wenn man die guten Eigenschaften Atatürks zeigt, wird kritisiert, dass man ihn vergöttern würde. Aber in meinem Film wählte ich eine subjektive Erzählerperspektive aus: Seine Geschichte wird aus der Sicht von Salih Bozok erwählt, einem altem Freund Atatürks.

Also, handelt es sich nicht um "Ihren" Atatürk ...

Livaneli: Ich habe Salih Bozoks Atatürk dargestellt. Salih Bozok war seit dem sechsten Lebensjahr mit Atatürk befreundet; und nach Atatürks Tod hat er sich das Leben genommen, da er sich ein Leben ohne diesen Freund nicht vorstellen konnte. Man kann über ihren Film lange diskutieren. Aber als einen renommierten Vertreter der linken Tradition in der Türkei möchte ich Sie fragen, ob es in der Türkei eine Sozialdemokratische Tradition im europäischen Sinne gibt?

CHP Parteichef Kemal Kılıcdaroğlu; Foto: AP
Gegen Bürokratie und Hysterie: Zülfü Livaneli glaubt, dass der neue Parteichef der CHP Kemal Kılıcdaroğlu die Partei in eine sozialdemokratische Zukunft europäischer Prägung führen kann.

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Livaneli: Nein, die gibt es nicht, da alle sozialdemokratischen Parteien aus der Arbeiterbewegung hervorgingen. In der Türkei entstand sie allerdings als erste Partei der neuen, von Soldaten gegründeten Republik. Erst in den sechziger Jahren verkündet sie, dass sie "links der Mitte" sei. Als ich Abgeordneter der CHP war, habe ich mich bemüht, die Partei auf eine sozialdemokratische Linie zu ziehen. Aber ich habe erfahren, dass es nicht möglich ist und so habe ich die Partei verlassen. Aber jetzt, mit dem neuen Parteichef Kemal Kılıcdaroğlu, habe ich wieder Hoffnung. Wird die CHP mit Kemal Kılıçdaroğlu eine sozialdemokratische Partei? Livaneli: Er ist ein guter Freund von mir. Ich glaube, wenn er sich in der Parteiorganisation nicht verliert, kann er es schaffen; ich möchte dran glauben. Seine Persönlichkeit ist integer, aber die Parteiorganisation ist sehr strapazierend und entartet. Wenn die Parteibürokratie und die hysterischen Personen, die in der Partei Karriere machen wollen, ihn nicht ausbremsen, kann er es schaffen.

Die Türkei kämpft seit Jahren auf internationaler Bühne mit der ungelösten Armenierproblematik. Wie beurteilen Sie die Situation – unternimmt die Türkei die richtigen Schritte?

Die armenische Kirche zum Heiligen Kreuz auf der Insel Akdamar im ostanatolischen Vansee; Foto: picture-alliance/dpa
Die Armenierpolitik der türkischen Regierung sieht Livaneli kritisch: "Jahrzehntelang betrieb man eine Verleumdungspolitik; man hat den Kopf in den Sand gesteckt."</wbr>

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Livaneli: Nein, sie geht die notwendigen Schritte nicht. Jahrzehntelang betrieb man eine Verleumdungspolitik; man hat den Kopf in den Sand gesteckt. Danach kam die Aussage, dass Türken und Armenier sich gegenseitig ermordet haben. Hierfür trägt das Komitee für Einheit und Fortschritt die Schuld. Damals hat man die Schuldigen verurteilt und aufgehängt. Man kann aber nicht sagen, dass die Türken die Armenier aus Willkür getötet haben. Das entspricht nicht den Tatsachen. Wir können über diese Sachen ohne Scheu diskutieren. Aber was wir bis jetzt betrieben haben, diese Verleumdungspolitik, hat uns auf der internationale Ebene alles erschwert. Kann man die Kurdenproblematik auch in diesem Zusammenhang betrachten?

Kurden mit Flaggen; Foto: AP
Bürger eines Landes: "Wir müssen 98 Prozent unserer Übereinstimmung hervorheben, nicht die zwei Prozent, die uns trennen", so Livaneli zur Kurdenfrage in der Türkei.

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Livaneli: Lange Zeit wurde das kurdische Volk und deren Kultur verleugnet. Dann kam der Militärputsch von 1980. Damals im Gefängnis in Diyarbakır wurden die Häftlinge unmenschlich behandelt und grausam gefoltert. All dies hat das Problem noch weiter vertieft und erschwert. Nun, heute, glaube ich nicht, dass die kurdischen Bürger der Republik, der größte Teil des kurdischen Volkes sich von der Türkei abspalten wollen. Sie wollen nur, dass man ihre Sprache und ihre Kultur akzeptiert. Das ist keine politische Forderung, sondern Teil der Menschenrechte. Man muss doch die Muttersprache der Menschen respektieren. Aber wenn ich meine Meinung so laut sage, werde ich kritisiert. Wir sind indessen alle Bürger dieses Landes, wir hören die gleiche Musik, wir haben den gleichen Geschmack, wir lieben die gleichen Fußballmannschaften; wir müssen 98 Prozent unserer Übereinstimmung hervorheben, nicht die 2 Prozent, die uns trennen.

Was ist Ihre Meinung zu den neuen Ereignissen zwischen Israel und der Türkei?

Livaneli: Zum einen muss ich sagen, dass Israel hier ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Das muss von der ganzen Welt missbilligt werden und es müssen die nötigen Konsequenzen gezogen werden. Zweitens: die israelische Regierung hatte im Vorfeld angeboten, dass man die Hilfe durch das Rotes Kreuz oder den Roten Halbmond nach Gaza hätte bringen können. Dagegen ist eine Zivilinitiative, die mit Schiffen in das Kriegsgebiet unterwegs ist, von vornerein unsicher. Es bedeutet soviel wie, "wenn ihr mich tötet, kann ich damit Propaganda betreiben." Ich finde, hier hatte die türkische Regierung einen Fehler gemacht. Kann man nach den neuen Ereignissen von einem Kurswechsel der Türkei und von einer zunehmenden islamistischen Strömung reden?

Türkischer Premierminister Erdogan; Foto: AP
"Zerstörung der traditionellen Politik der Türkei": Livaneli wirft Premier Erdogan und seiner AKP vor, die Türkei zu islamisieren.

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Livaneli: Ja, in der Türkei gibt es eine Islamisierung – und eine Annäherung an den Nahen Osten. Die Regierung hat etwas Falsches gemacht: sie hat die traditionelle Politik der Türkei zerstört. Es war immer die traditionelle Politik der Türkei, sich vom Nahen Osten zu distanzieren. Das beruht auf den Erfahrungen des Osmanischen Reichs. Aber die Regierung hat die Türkei in den Nahen Osten hineingezogen: Während sie den Europäern "wir kommen zu Euch" sagen, hat sich das Land nach Osten verschoben. Vor acht Jahren hatten wir versucht, das unseren europäischen und deutschen Freunden klar zu machen, aber sie haben uns nicht verstanden.

Die türkische Regierung bezog sich in ihren Reden immer nur auf Europa, aber in Wirklichkeit wollen sie die Türkei islamisieren. Eine Türkei, die gute Beziehungen zu der Hamas und Ahmadinejad unterhält, hat ihre alte Position aufgegeben. Früher war Jassir Arafat der Türkei dankbar, weil sie gute Beziehungen zu Israel hatte, dadurch konnte sie als ein neutrales Land eine Vermittlerrolle einnehmen. Das würde auch heute noch Palästina helfen. Aber jetzt hat das Land seine Neutralität verloren, es steht jetzt an der Seite der Araber, und auf den Straßen der Türkei ruft man antisemitische Parolen. Das ist die Schuld der Regierung. Sie hat Fehler gemacht. Wie sie das jetzt wieder alles ausbügeln will, weiß ich nicht. Verbreitet sich in der Türkei der Antisemitismus?

Angehörige der verhafteten türkischen Aktivisten der Gaza-Hilfsflotte am Flughafen Atatürk in Istanbul; Foto: AP
Anti-Israelische Äußerungen hört man auch in der Türkei immer häufiger. Nicht zuletzt der Vorfall um die "Gaza-Friedensflotte" hat dieser Tendenz weiteren Auftrieb gegeben, so Livaneli.

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Livaneli: Ja, er verbreitet sich. Nicht nur Antisemitismus, sondern auch andere Arten von Xenophobie: Anti-Amerikanische, Anti-Europäische Stimmen sind laut geworden. Wir beobachten es. Es entspricht unserem Volk nicht, aber es wurde so geformt.

Wie bewerten sie den Umgang der EU-Staaten mit dem Streben der Türkei nach einer vollen EU-Mitgliedschaft?

Livaneli: Die EU hat die Türkei nicht korrekt behandelt. Eine Zeit lang hat man dem Land große Hoffnungen gemacht. Danach hat man in der Türkei eine große Enttäuschung erlebt. Es war wie eine einseitige Liebe, die nicht erwidert wird. Unsere Regierung hat diesen Prozess ausgenutzt. Das Anfangsdatum der Verhandlungsdebatten hat sie wie eine Beitrittserklärung lanciert und mit Feuerwerk groß gefeiert. Aber danach kam die Enttäuschung. Und dieses Gefühl, betrogen worden zu sein, ist der Hintergrund für diese neue Xenophobie und die Anti-Europäischen Parolen. Eine EU Mitgliedschaft ist in der Türkei längst nicht mehr so populär wie früher.

Hülya Sancak

© Qantara.de 2010

Zülfü Livaneli, 1946 in Ankara geboren, wurde als Sänger und Komponist international berühmt. Er hat zu über dreißig Filmen die Musik geschrieben und rund dreihundert Lieder komponiert und in Europa und den USA Hunderte von Konzerten gegeben. Für sein Schaffen als Filmregisseur und als Autor hat er verschiedene Preise erhalten. Seit 1995ist Livaneli UNESCO-Botschafter, seit 2002 Mitglied des türkischen Parlamentes und im Europarat Repräsentant der Türkei. Er lebt in Ankara.