Alle Fäden laufen beim algerischen Regime zusammen

Der renommierte algerische Autor Yasmina Khadra hatte sich bereits 2013 als erster parteiunabhängiger Kandidat für die Präsidentschaftswahl in seinem Land aufstellen lassen. Doch am Ende fehlten ihm die notwendigen 60.000 Unterschriften, um als Unabhängiger zur Wahl antreten zu können. Regina Keil-Sagawe hat sich mit ihm über die politische Misere in Algerien unterhalten.

Von Regina Keil-Sagawe

In Ihrer Biographie, dem "Schreiber von Koléa", gibt es eine überraschende Begegnung zwischen Ihnen, dem jungen Dichter der Militärakademie, und dem früheren algerischen Staatschef Boumedienne. Hätten Sie damals gedacht, dass Sie einst selbst für das höchste Amt im algerischen Staat kandidieren würden?

Yasmina Khadra: Wie hätte ich damals an so etwas denken sollen? Ich war Gymnasiast, meine Schulaufgaben lagen mir näher als alles andere. Damals träumte ich nur davon, Schriftsteller zu werden. Die Literatur war die einzige Berufung, die mich zum Träumen brachte. Ich bewunderte die Schriftsteller. Sie zeigten mir, wie man die Welt neu erfindet, die die Armee mir genommen hatte. Ich stamme aus einer alten Dichterdynastie. In meinen Adern fließt die Liebe zum Wort. Ich sah es als meine Bürgerspflicht an zu kandidieren. Als Algerier fand ich es unerträglich, dass man die Würde meines Volkes mit Füßen tritt. Als Schwerkranker eine vierte Amtszeit anzustreben, wie Präsident Bouteflika das tut, ist erbärmlich und absurd.

Wie haben Sie Ihren Wahlkampf als einer von rund hundert Präsidentschaftskandidaten erlebt?

Khadra: Das war eine sehr schmerzliche Erfahrung. Ich bin 10.000 Kilometer kreuz und quer durch Algerien gefahren und habe festgestellt, wie sehr unser Volk durch ein halbes Jahrhundert Demagogie und Desillusionen traumatisiert ist. Ich war sehr naiv, denn ich hatte fest mit der Unterstützung der Intellektuellen und Eliten unseres Landes gerechnet und stand dann ganz allein in der Arena. Wahlkampfveranstaltungen durfte ich keine abhalten – daher beschloss ich, literarische Begegnungen durchzuführen, drei an der Zahl, in Constantine, in der Kabylei und in Oran, aber es reichte nicht, um meine Mitbürger hinreichend zu sensibilisieren. Bei einem nur zweimonatigen Vorwahlkampf gab es aber auch nur einen geringen zeitlichen Spielraum. Zudem habe ich meine Kampagne allein finanziert. Ich hatte keinerlei Unterstützung, was meine ganze Planung durchkreuzthat. Und so bin ich eben gescheitert: statt der obligatorischen 60.000 Stimmen, die für eine Kandidatur notwendig gewesen wären, konnte ich nur 43.000 Stimmen aufbringen.

Und wie erklären Sie sich die Gründe Ihres Scheiterns?

Proteste der "Barakat!"-Bewegung in Algier gegen eine vierte Amtszeit Bouteflikas; Foto: dpa/picture-alliance
Protest gegen politischen Stillstand und autokratische Herrschaft: Anhänger der "Barakat"-Bewegung in Algier demonstrieren gegen eine neuerliche Präsidentschaftskandidatur Bouteflikas. Im vergangenen Jahr war er nach einem Schlaganfall monatelang in Frankreich behandelt worden. Seitdem trat er nicht mehr öffentlich auf. Seine Bewerbung um eine vierte Amtszeit kam daher überraschend und stieß in Teilen der Bevölkerung auf starke Ablehnung.

Khadra: Das hängt mit vielen Faktoren zusammen. Da ist zunächst die Parteinahme der Behörden zu erwähnen, die meine Anhänger entmutigt haben. Manche meiner Unterstützungskomitees wurden infiltriert, andere eingeschüchtert oder bedroht. Ziemlich bald haben einige meiner Wahlkampfbüros schließen müssen. Meine eigenen Wahlkampfleiter haben mich teilweise im Stich gelassen. Und nachdem einige Privatsender, die dem Regime nahestehen, mein Image befleckt haben, wurde ich von den Medien gänzlich ignoriert. Dazu kommt, dass meine Leser nicht wollten, dass ich mich in die Höhle des Löwen begebe, denn sie waren fest davon überzeugt, dass ich verlieren und vielleicht sogar ermordet werden würde. Es herrschte eine sehr gespannte Atmosphäre. Trotz meiner Entschlossenheit, den Weg doch noch bis zum Ende zu gehen, habe ich nur wenig Unterstützung erfahren. In der Kabylei und im Aurès-Gebirge habe ich sehr viele Stimmen erhalten, aber in der Region Oran, aus der ich komme, war das Ergebnis katastrophal.

Das überrascht kaum, wenn man bedenkt, dass es zugleich diese Region die Hochburg von Präsident Bouteflika ist … Was hätte denn auf der Prioritätenliste des politischen Programms eines Präsidenten Mohammed Moulessehoul alias Yasmina Khadra gestanden?

Khadra: Die Normalisierung des Lebens der Algerier, die von den Institutionen verfolgt und von den Entscheidungsträgern im Staat missachtet werden. Mein Programm war primär darauf ausgerichtet, die Algerier zu mündigen Staatsbürgern zu machen. Die Algerier haben nicht das Gefühl, im eigenen Land zu leben. Sie werden von keiner Institution respektiert und von niemandem aus der Führungsspitze gehört. Ihr Leben besteht aus permanenter Angst, Unsicherheit und Abscheu. Unsere Jugend hat keine Träume und Perspektiven mehr. Die Mutigsten springen in brüchige Fischerboote, nur um nach Europa zu kommen. Viele von ihnen verlieren dabei ihr Leben.

Das algerische Bildungssystem ist eine Bankrotterklärung. Aus dem Schulunterricht ist eine Art Parallelwirtschaft geworden. Die Universität bildet keine Eliten und Führungskräfte mehr aus. Das Regime hält sich nur dadurch an der Macht, dass es Verstand und Gewissen korrumpiert. Es hat weder ein Gesellschaftsprojekt noch Kompetenz zu bieten. Es begnügt sich damit, die Staatskassen zu leeren, indem es gigantische Bauvorhaben lanciert, die nur der Immobilienmafia und den Finanzhaien nützen.

In manchen Blogs ist längst von Bouteflikas algerischer Bananenrepublik die Rede …

Khadra: Mein Programm wäre es gewesen, gegen diesen Irrsinn anzugehen, dem Volk wieder in Lohn und Arbeit zu bringen und dahin zu kommen, dass der Erdölreichtum aus uns Baumeister und keine Rentenprofiteure macht, dass wir Arbeitsplätze schaffen und Reichtümer erwirtschaften, statt Empfänger von Almosen zu sein. Unglücklicherweise laufen alle Fäden beim algerischen Regime zusammen, das sich weigert, auch nur ein Jota an jene abzugeben, die nicht gemeinsame Sache mit ihm machen. Seine Kraft und Langlebigkeit beruhen ausschließlich auf dem Mangel an nationaler Solidarität und fehlendem Ehrgeiz. Wer in Algerien einen Knochen hat, der nagt ihn still in seinem Winkel ab – alles andere ist ihm egal.

Aber es gibt doch die Bewegung "Barakat!" und einige rebellische Stimmen der jüngeren Generation, wie zum Beispiel den Rapper Anes Tina, der Bouteflika in seinem Videoclip "Botschaft an den Präsidenten" nahe legt, sich aufs Altenteil zu begeben, oder andere kritische Akteure im Land, die sich gegen das Regime zu Wort melden.

Khadra: Ja, das stimmt. Und noch ist ja nicht alles verloren. Es erheben sich Gegenstimmen, es gibt Demonstrationen und Protestmärsche, und die Nation erwacht allmählich. Ich hoffe auf eine hohe Wahlbeteiligung unserer Bevölkerung, um das Regime letztlich zu entthronen – und zwar nach demokratischen Spielregeln. Und vor allem dass es sich nicht von den Regierenden provozieren lässt, denn dieses Mal würde uns eine Gewaltspirale in Algerien definitiv den Garaus machen.

Interview: Regina Keil-Sagawe

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Der heute in Frankreich lebende algerische Schriftsteller Yasmina Khadra gehört zu den Erfolgsautoren seines Landes. Khadra, alias Mohammed Moulessehoul, veröffentlichte als hoher Offizier der algerischen Armee seine ersten Bücher wegen der strengen Zensurbestimmungen unter den beiden Namen seiner Frau. Bekannt wurde er durch seine Bücher, die die Probleme der Gegenwart aufgreifen, wie zuletzt der Afrika-Roman "Die Landkarte der Finsternis", der vom Schicksal eines Frankfurter Arztes erzählt, der von somalischen Piraten gekidnappt wird. Zuletzt erschien im März 2014 sein Roman "Der Schreiber von Koléa" in deutscher Übersetzung von Regina Keil-Sagawe im Osburg-Verlag.