Eine neue Dimension der Einschüchterung

Mit der staatlichen Zwangsaufsicht und Übernahme der regierungskritischen Zeitung "Zaman" hat die Türkei die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Land ausgehebelt, meint der Türkei-Experte Yaşar Aydın im Gespräch mit Helena Baers.

Von Helena Baers

Die Türkei hat die regierungskritische Zeitung "Zaman", die der Gülen-Bewegung nahe steht, gestürmt und unter staatliche Aufsicht gestellt. Was beabsichtigt die Regierung damit?

Yaşar Aydın: Die Unternehmergruppe, der auch die "Zaman" angehört, wird der finanziellen Hilfe für eine Terrorgruppe bezichtigt. Da läge es natürlich nahe, dass die Unterstützung geprüft oder unterbunden wird. Aber hier wird eine kritische Zeitung unter Aufsicht gestellt und über Nacht in ein regierungstreues Presseorgan verwandelt. Der eigentliche Hintergrund ist ein Machtkampf mit der Gülen-Bewegung. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sieht sie als ein Hindernis für seinen Führungsanspruch und seinen Führungsstil, die auch in den eigenen Reihen nicht unangefochten sind.

Nach Ihrer Einschätzung ist die Übernahme von "Zaman" also ein Vorwand, um allgemein gegen die oppositionellen Medien im Land vorzugehen?

Aydın: Ich denke, die türkische Staatsführung will oppositionelle Medien und kritische Journalisten einschüchtern. Dabei setzt sie auf politischen und wirtschaftlichen Druck auf die Medien, aber auch auf Einschüchterungsversuche, die eine neue Dimension erreicht haben. Die Sorgen über die fehlende Medienfreiheit in der Türkei sind berechtigt.

Wie steht es nach der Übernahme der "Zaman" um die Pressefreiheit in der Türkei?

Der Türkeiexperte Yaşar Aydın; Foto: privat
Yaşar Aydın : "Die Pressefreiheit in der Türkei ist stark eingeschränkt. Man muss dazu sagen, dass die AKP-Regierung einen großen Teil der Medien kontrolliert und diese Medien als Instrument einsetzt, um Oppositionelle einzuschüchtern und um die öffentlichen Diskurse in der Türkei zu lenken."

Aydın: Die Pressefreiheit in der Türkei ist stark eingeschränkt. Man muss dazu sagen, dass die AKP-Regierung einen großen Teil der Medien kontrolliert und diese Medien als Instrument einsetzt, um Oppositionelle einzuschüchtern und um die öffentlichen Diskurse in der Türkei zu lenken. Verantwortlich für diese Situation ist aber auch die Verstrickung von Medien und Wirtschaft. Die Investitionstätigkeiten der Medien im Bau-, Transport- und Industriesektor halten sie von der Kontrollfunktion ab, wie sie für etablierte Demokratien üblich sind.

Wie werden denn die Übernahme der "Zaman", die Festnahme von zwei Redakteuren der "Cumhuriyet" und andere Vorfälle gegen Medien von den Menschen in der Türkei selbst bewertet?

Aydın: Unterschiedlich. Diejenigen, die die AKP-Regierung unterstützen, erheben ihre Stimmen nicht. Sie sind von den Anschuldigungen der Regierung gegen solche Medien überzeugt. Aber es gibt auch einen kritischen Bevölkerungsteil, der das nicht gut findet, der sich jetzt mit der Zeitung "Zaman" – zuvor mit der Zeitung "Cumhuriyet" – solidarisiert hat. Es gibt in der Türkei eine starke Solidarisierungswelle mit den kritischen Journalisten und oppositionellen Medien im Land.

Ist die Türkei mit ihrem Vorgehen gegen kritische Medien auf dem Weg zur Diktatur?

Aydın: Ich möchte nicht von einer Diktatur sprechen, aber man kann mit Sicherheit sagen, dass in der Türkei gegenwärtig Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ausgehebelt sind – und das ist besorgniserregend.

Proteste gegen die Stürmung der "Zaman"-Redaktion in Istanbul; Foto: picture-alliance/abaca/Depo Photos
Die politischen Rivalen der Gülen-Bewegung im Visier: "Zaman" gehörte bislang zur Hikmet-Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der seit 1999 im Exil in den USA lebt und zu den erbittertsten Gegnern von Präsident Erdoğan zählt. Die türkischen Behörden hatten die mit 650.000 Exemplaren auflagenstärkste Zeitung des Landes am letzten Freitag unter Zwangsverwaltung gestellt. Der bisherige Chefredakteur Abdulhamit Bilici wurde gefeuert.

Die Europäische Union ist auf die Türkei angewiesen, um das Flüchtlingsproblem in den Griff zu bekommen. Nutzt Erdoğan das aus?

Aydın: Sicherlich bietet die Flüchtlingsfrage für ihn eine gute Gelegenheit, um auch im Inneren gegen Journalisten vorzugehen. Man darf aber nicht vergessen: Auch vor der Flüchtlingskrise hat es solche Fälle gegeben. Bereits vor Einsetzen der Flüchtlingskrise wurde die Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei eingeschränkt. Es ist also nicht der einzige Grund.

Ist die Türkei nach dem jüngsten Vorgehen gegen kritische Medien realistisch betrachtet noch ein EU-Beitrittskandidat?

Aydın: Es ist wichtig, die Gespräche über einen EU-Beitritt mit der Türkei fortzusetzen. Man muss aber ein klares Signal an die Staatsführung senden, dass die Türkei wieder auf den Weg der Demokratie zurückfinden muss. Wir dürfen nicht vergessen: In den 1970er Jahren, als man anfing, Gespräche mit den Ostblock-Ländern zu führen, waren diese Länder auch nicht demokratisch. Die Türkei hat sich von der Demokratie weg entwickelt, aber wenn man jetzt die Verhandlungen mit der Türkei ganz aussetzt, dann würde man überhaupt keinen Hebel mehr haben, um Einfluss auf sie auszuüben, um die demokratischen Kräfte zu unterstützen.

Dr. Yaşar Aydın ist Sozialwissenschaftler und lehrt an der HafenCity Universität Hamburg. Er ist außerdem Mitglied des TürkeiEuropaZentrums.

Das Interview führte Helena Baers.

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