"Der Film schadet Ägyptens Image nicht!"

Die in Kanada lebende ägyptische Regisseurin Tahani Rached zeigt in ihrem Dokumentarfilm "El-Banate dol" das Leben obdachloser Mädchen in Kairo. Mit der Regisseurin unterhielt sich Nelly Youssef.

Tahani Rached; Foto: Studio Masr
"Wir alle tragen für diese Mädchen die Verantwortung, weil sie Opfer einer Gesellschaft sind, die an Armut leidet", so die Regisseurin Tahani Rached

​​Warum haben Sie gerade dieses Thema für Ihren Film gewählt?

Tahani Rached: Weil ich mich für diese Mädchen interessiert habe. Ich habe mich gefragt, wie sie ihr Leben auf der Straße inmitten der Müllberge verbringen.

Für mich war es wichtig, ihr Leben aufzuzeichnen, das nur wenige schöne Momente hat. Ich wollte auch die kindliche Unschuld sichtbar machen, die sie immer noch bewahren, trotz der schwierigen Lebensbedingungen und trotz der Gefahren, denen sie ausgesetzt sind.

Ich habe dieses Thema gewählt, weil ich – wie jeder andere in Ägypten lebende Mensch – diesen Mädchen auf den Straßen Ägyptens begegne. Ich wollte einen Blick hinter die Kulissen dieser unbekannten Welt werfen. Schon 1997 habe ich mich mit dem Thema beschäftigt, 2004 habe ich mit den Dreharbeiten begonnen.

Gemeinsam mit dem Produktionsteam habe ich vor dem Dreh sechs Monate lang das Feld erkundet. Das war erforderlich, um eine Vertrauensbasis zwischen uns und den Mädchen herzustellen.

Dabei kam ich mit vielen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen in Kontakt, die für Straßenkinder sorgen und ihnen seelischen Beistand geben. Eine dieser Organisationen ist die "Gam'ijjat al-Amal", zu der auch Frau Hind gehört. Für die Mädchen ist Frau Hind eine gute Freundin und eine Ersatzmutter, die ihnen die Liebe schenkt, die sie so sehr missen.

​​Mein Ziel bestand von Anfang an darin, dass die Zuschauer mit den Mädchen mitfühlen, sie sympathisch finden und sie als Menschen sehen, denen eine Ungerechtigkeit widerfahren ist.

Denn diese Mädchen haben es im Leben sehr schwer. Sie zahlen den Preis für die Verhältnisse, unter denen ihre Eltern leben. Sie kommen aus zerrütteten Familien, denen sie entfliehen, sobald sich eine Gelegenheit zur Flucht bietet.

Nach ihrer Flucht aber dreht sich das Elendskarussell weiter. Diesmal sind die Mädchen den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft ausgesetzt.

Wir alle tragen für diese Mädchen die Verantwortung, weil sie Opfer einer Gesellschaft sind, die an Armut leidet. In einer solchen Gesellschaft gestalten sich die Sicherung des Lebensunterhalts und die Wahrung der Menschenwürde schwierig.

Sie haben sich lange mit diesen Mädchen beschäftigt. Warum leben sie auf der Straße?

Rached: Es gibt mehrere Gründe dafür. Der Hauptgrund bleibt jedoch die Armut. Zudem tragen Ehescheidungen und zerrüttete Familienverhältnisse zur Obdachlosigkeit bei. Jedes Mädchen hat auch seine eigene Geschichte.

Was ich an ihnen bewundere, ist der Umstand, dass sie mit dem, was das Leben ihnen bietet, nicht zufrieden sind. Sie möchten eigentlich ein völlig anderes Leben führen. Dieser tief sitzende Wunsch hat mich sehr beeindruckt.

Allerdings verfolgen sie bei ihrer Suche die falsche Fährte. Sie sind noch sehr jung, etwa zwischen zehn und 22 Jahre. Sie möchten spielen, Spaß haben und ein Leben beginnen, das frei von Zwängen, Entbehrungen und Armut ist.

Vielen emigrierten Filmemachern wird vorgeworfen – das betrifft auch Sie – dass sie stets die hässlichen Seiten der ägyptischen Gesellschaft ins Visier nehmen, um den Erwartungen westlicher Filmfestspiele zu entsprechen. Sie würden damit dem Ruf Ägyptens schaden. Wie stehen Sie dazu?

Rached: Der "Ruf Ägyptens" ist eine große Sache, man sollte ihn nicht allzu leichtfertig in so einen lächerlichen Zusammenhang bringen.

​​Überall auf der Welt, in reichen wie in armen Ländern, gibt es Menschen, die auf der Straße leben. Dass dieses Problem ungeschminkt gezeigt wird, schockiert einige Leute. Sie wollen sich nicht vorstellen müssen, dass diese Realität existiert. Es scheint, dass sie die Realität verdrängen wollen.

Außerdem lege ich den Fokus lediglich auf einen Ausschnitt der Gesellschaft und nicht auf die gesamte ägyptische Gesellschaft.

Das Problem ist aber eigentlich die Denkweise der Menschen, die so etwas sagen. Was Ägypten wirklich in Verruf bringt, sind Vorfälle wie der Untergang einer Fähre vor einigen Monaten, dem Tausende zum Opfer fielen, ohne dass später die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden.

Oder der Theaterbrand im Kulturpalast in Assiut, bei dem Menschen starben, weil keine Sicherheitskräfte und Krankenwagen in der Nähe waren. Das schadet dem Ruf Ägyptens, nicht ein Film, der sich mit Straßenmädchen beschäftigt.

Viele wollen, dass solche Themen behandelt werden, aber ohne die vulgären Ausdrücke wie in Ihrem Film. Die gaben ja letztlich den Ausschlag für das Verbot der ägyptischen Zensurbehörde.

Rached: Das hat nichts mit künstlerischer Freiheit zu tun. Wenn ich einen realitätsnahen Dokumentarfilm drehe, kann ich den Mädchen nicht aufzwingen, sich in einer bestimmten Art und Weise ausdrücken.

Das Vokabular im Film hören wir nun einmal täglich auf der Straße. Ich bin fest davon überzeugt, dass Realität und Wahrheit so auf die Leinwand gebracht werden müssen, wie sie sind.

Es wird behauptet, dass die Heime, die sich um die Mädchen kümmern, schuld an der Flucht der Mädchen auf die Straße seien. Wie bewerten Sie diese Institutionen?

Rached: Meiner Meinung nach fehlt es dort an Liebe. Die Mädchen brauchen Liebe und Wärme, die in der Person von Frau Hind verkörpert werden. Es ist nicht das Anliegen von Frau Hind, die Situation der Mädchen zu ändern. Sie versucht lediglich, ihnen nützliche Ratschläge zu erteilen.

Die Heime und die verschiedenen Hilfsorganisationen müssen unbedingt ihre Arbeitsweisen ändern. Sie müssen aber auch mit allen Mitteln der Regierung und der Zivilgesellschaft dabei unterstützt werden. Und letztlich müssen auch wir unseren Umgang mit diesen Mädchen überdenken.

Interview: Nelly Youssef

Übersetzung aus dem Arabischen von Raoua Allaoui

© Qantara.d 2007

Tahani Rached wurde 1947 in Kairo/Ägypten geboren. Sie emigrierte 1966 nach Kanada, wo sie in Montreal am Fachbereich der schönen Künste studierte.

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