"Wir dürfen das Geschehene nicht vergessen!"

Zehntausende Opfer der Diktatur Ben Alis haben bei der tunesischen Wahrheitskommission einen Antrag auf Wiedergutmachung gestellt. Seit Mitte November laufen die öffentlichen Anhörungen. Sarah Mersch hat sich mit Sihem Bensedrine, der Präsidentin der Kommission, über die schwierige Aufarbeitung der Vergangenheit unterhalten.

Von Sarah Mersch

Mehr als zwei Jahre nach der Gründung der Wahrheitskommission finden jetzt die ersten öffentlichen Anhörungen statt. Welche Bedeutung haben sie?

Sihem Bensedrine: Bis zum heutigen Tag hat die "Instanz Wahrheit und Würde" (IVD) mehr als 10.500 nicht-öffentliche Anhörungen durchgeführt. Sie geben den Opfern die nötige Zeit, zu erzählen, was ihnen widerfahren ist. Ziel der nicht-öffentlichen Anhörungen ist es, die Wahrheit zu Tage zu bringen. Bei den öffentlichen Anhörungen geht es darum, die ganze Bevölkerung zu erreichen, sie aufzuklären über sechs Jahrzehnte systematischer, massiver Menschenrechtsverletzungen durch einen Staat, der Rechte und Freiheiten seiner Bürger hätte schützen sollen. Die öffentlichen Anhörungen zeigen auf, welche Formen Rechtlosigkeit annehmen kann, wie eine despotische Herrschaft aussieht, wie die Leben von Bürgern und ihren Familien völlig zerstört wurden, weil sie ein Grundrecht ausüben wollten – und was sich deswegen nicht wiederholen darf.

Die Opfer sind nicht von Rachegedanken getrieben. Sie sagen am Ende alle: 'Das ist Teil der Vergangenheit. Ich wünsche allerdings, dass die Personen, die mich und meine Familie in tausend Stücke zerschlagen haben, die Wahrheit sagen. Dass sie mich um Vergebung bitten und dass ich ihnen dann vergebe.' Das zeigt, dass Tunesien sich unglaublich weiterentwickelt hat.

Uns wird immer wieder vorgeworfen, dass wir mit der Aufarbeitung direkt nach der Revolution hätten anfangen sollen, anstatt fünf lange Jahre zu warten. Manche Tunesier trauern heute der Diktatur nach. Die Leute sehnen sich nach mehr Sicherheit und Stabilität. Natürlich hat die Diktatur dies ein Stück weit garantiert, aber um welchen Preis?

Die Anhörungen verstehen sich also als eine Art Immunisierung der Bevölkerung für die Zukunft?

Bensedrine: Genau. Es geht darum, sie daran zu erinnern, wie abscheulich diese Diktatur gewesen ist, und dass es wirklich keinen Grund gibt, diese nostalgisch zu verklären. Denjenigen, die jene Zeit vergessen haben oder so tun, als würden sie an Amnesie leiden, führen wir die Erinnerung vor Augen. Wir dürfen das Geschehene nicht vergessen, wir müssen trauern. Und diese öffentlichen Anhörungen sind wohl der richtige Moment dafür. Danach können wir etwas Neues beginnen. Doch wir dürfen die Vergangenheit nicht mit Gedächtnisverlust quittieren, sondern sollten sie in Erinnerung behalten.

Bei den öffentlichen Anhörungen werden ausschließlich die bereits untersuchten, also aufgearbeiteten Fälle behandelt. Warum haben Sie diese Form gewählt? Ist das nicht eine Form der Inszenierung?

Bensedrine: Es handelt sich um sehr schwere Fälle, d.h. um solche nicht-öffentlichen Anhörungen, die in der Regel bis zu drei Tage dauern. Es wäre unmöglich, so etwas öffentlich zu behandeln. Die Opfer stellen bei diesen Anhörungen meist den emotionalen Aspekt in den Vordergrund, ihr Leiden unter der Folter. Wir müssen jedoch die Redezeit begrenzen, da diese Aussagen doch sehr belastend sind. Die Opfer werden selbstverständlich vor und nach den Anhörungen psychologisch betreut.

Öffentliche Anhörung der Wahrheitskommission in Tunis; Quelle: Pressestelle "Instanz für Wahrheit und Würde" (IVD)
Licht in die Schatten der Vergangenheit: Die "Instanz für Wahrheit und Würde" (IVD) hatte ihre Arbeit Ende 2013 aufgenommen. Untersucht wurden die Verbrechen von 1955 und 2013, vom Ende der Kolonialzeit, der Ben-Ali-Diktatur bis hin zur Jasminrevolution in Tunesien. Die öffentlichen Anhörungen der Wahrheitskommission wurden im ganzen Land im Fernsehen übertragen.

Zur Aufarbeitung wurden bei der IVD insgesamt mehr als 60.000 Anträge eingereicht, die sich über den Zeitraum von 1955 bis 2013 erstrecken. Ihr Mandat läuft noch für anderthalb Jahre – können Sie diese umfangreiche Arbeit denn überhaupt bis dahin bewältigen?

Bensedrine: Auf jeden Fall. Viele denken, wir hätten erst am 16. Juni, dem Stichtag für die Einreichung der Anträge, mit unserer Arbeit begonnen. Das ist natürlich nicht richtig. Wir haben bereits lange vorher damit angefangen, die Anträge zu sortieren und zu bearbeiten. Die Anträge werden zunächst registriert, dann sortiert. Anschließend findet eine nicht-öffentliche Anhörung statt, bei der das Protokoll aufgenommen und alle Informationen in der Datenbank gespeichert werden, dann geht die Akte an die dafür zuständige Forschungsabteilung. Es sind Juristen die die Fälle prüfen. Sie suchen nach Archivmaterial und Beweismitteln, welche die Anliegen der Opfer stützen. Sie laden Zeugen und mutmaßliche Täter zur Gegenüberstellung vor – so wie es ein Richter auch tun würde.

Aber es handelt sich hierbei um keine gewöhnliche Justiz, die einen Fall nach dem anderen bearbeitet. Bei dieser "Übergangsjustiz" stellt der Sachverhalt der Menschenrechtsverletzung einen zentralen Aspekt dar, also die Frage, in welchem Rahmen ein bestimmtes Verbrechen stattgefunden hat. Der Zeitfaktor wird bei uns in einem gesonderten Rahmen untersucht, welcher uns erlaubt, diese große Menge an Fällen überhaupt zu bearbeiten. Wir unterscheiden insgesamt 18 historische Ereignisse, in deren Rahmen es zu Verletzungen kam, und zu diesen liegen bereits alle wichtigen Informationen vor.

Es existieren inzwischen hundert Anhörungszentren, in denen jeweils ein Soziologe und ein Jurist tätig sind. Je nach Fall finden dort zwei bis drei Anhörungen täglich statt, vorausgesetzt es handelt sich um vergleichsweise einfache Fälle. Bei schwereren Fällen dauert eine Anhörung mindestens einen Tag. Wir sind also in der Lage, im Durchschnitt 200 bis 300 Fälle am Tag zu bearbeiten. In acht Monaten wollen wir alle nicht-öffentlichen Anhörungen durchgeführt haben. Wir können das schaffen, allerdings sollte man muss uns auch arbeiten lassen. Ständig werden uns Steine in den Weg gelegt.

Wen meinen Sie damit?

Bensedrine: Ich meine damit den sogenannten "tiefen Staat". Hier wird der demokratische Staat neu geboren, der alte ist jedoch noch nicht tot. Er versucht uns in die Vergangenheit zurückzuziehen. Jedes Mal, wenn wir es mit Vertretern dieses "tiefen Staates" zu tun haben – und diese Personen sitzen in jeder Verwaltungsbehörde – benötigen wir unglaublich viel Zeit, um an nötige Informationen zu gelangen. Letztendlich kommen wir zwar zu unserem Recht, doch es ist jedes Mal ein Kampf. Außerdem werden häufig Leute eingestellt, die gegen uns arbeiten und versuchen, unsere Arbeit zu blockieren.

Wegen dieser internen Auseinandersetzung kam es seit ihrer Gründung zu Rücktritten und Entlassungen innerhalb der Kommission. Wäre die Arbeit denneinfacher, wenn sie voll besetzt wären?

Bensedrine: Es ist Aufgabe des Parlaments, die Posten neu zu besetzen. Wenn hier jemand seinen Aufgaben nicht nachkommt, dann ist es das Parlament. Wir können nicht an seiner Stelle Leute einstellen. Wir haben ein Mandat von vier Jahren, seit zweieinhalb Jahren warten wir aufs Parlament. Ich habe bereits 15 Briefe verfasst und mich insgesamt viermal mit dem Parlamentspräsidenten getroffen. Er verspricht mir schon seit Juli 2015, sich um diese Angelegenheit zu kümmern.

Das heißt, es mangelt an politischem Willen?

Bensedrine: Obwohl die "Übergangsjustiz" in der Verfassung festgeschrieben ist, kommt es immer wieder zu Abweichungen der Politik.

Worin bestehen die Herausforderungen bei Ihrer täglichen Arbeit?

Bensedrine: Wir haben zwar Zugang zu vielen staatlichen Stellen, so dass wir trotzdem vorankommen, allerdings noch nicht zum Archiv des Innenministeriums. Die gute Nachricht ist, dass die tunesische Verwaltung alles dokumentiert und auf eine lange Archivtradition zurückblickt. Ein Dokument kann sich in drei Ausführungen an drei verschiedenen Orten befinden. Es kommt immer wieder vor, dass wir Dokumente irgendwo finden, wo sie eigentlich gar nicht sein sollten. Unsere Arbeit ist also nicht einfach, aber wir erzielen trotzdem gute Ergebnisse.

In den von uns jetzt vorgestellten Fällen haben wir nicht nur die Beweise, sondern auch die Geständnisse der Täter vorliegen. Viele von ihnen bitten um Vergebung. Und genau darum geht es uns: die Täter dazu zu bringen, einzugestehen, dass ihre Taten verbrecherisch waren. Sobald also dieser Vergebungswille vorhanden ist, werden auch die Opfer ihren inneren Frieden finden.

Das Interview führte Sarah Mersch.

© Qantara.de 2016