Gegen Auslöschung und Umschreibung

In Ronya Othmanns Roman „Die Sommer“ ist die Hauptfigur Leyla ist Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden und besucht jeden Sommer das jesidische Dorf ihrer Großeltern in Nordsyrien. Bis es das Dorf so nicht mehr gibt. Schayan Riaz hat sich mit der Autorin unterhalten.

Von Schayan Riaz

Frau Othmann, in Ihrem Debütroman ist Leyla die Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden - so wie Sie. Leyla erinnert sich an die Sommer zurück, die sie als Kind im jesidischen Dorf ihrer Großeltern in Syrien verbracht hat. Sind das auch Ihre Erinnerungen?

Ronya Othmann: Die Sachen, die Leyla kennt, die kenne ich natürlich auch. Ich bin auch als Kind nach Syrien gefahren und kann mich gut daran erinnern, dass wir nicht sagen durften, dass wir nach Kurdistan fahren. Mir war klar, dass es Geheimdienste gibt, dass es Spitzel gibt. Mein Vater durfte oft nicht mitfahren, weil er nach seiner Flucht nicht mehr einreisen durfte. Überall hingen Bilder von Assad. Das habe ich als 4-Jährige registriert und ich fand das immer beängstigend. Aber letztlich ist Leyla nur eine Figur, mit der ich arbeite. Sie ist sehr passiv. Es ist also nicht 1:1 meine Geschichte oder die meiner Familie. Es ist so, wie wenn man etwas im Konjunktiv erzählt. Was wäre, wenn…

Wie schafft man dann die nötige Distanz, wenn man zwar eine fiktive Geschichte erzählen möchte aber so nah am Geschehen ist?

Othmann: Ich glaube, was Leyla und ich leben, ist alles sehr ähnlich, aber unsere Persönlichkeiten sind total unterschiedlich. Und ich habe ja auch in der dritten Person geschrieben, das hat mir viel Distanz verschafft.

Wie haben Sie recherchiert?

Buchcover Ronya Othmann: “Die Sommer” im Hanser Verlag
Leben zwischen zwei Kulturen: Für ihren Debütroman gewann Ronya Othmann den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs im Jahr 2019.

Othmann: Das Buch fängt zu einem Zeitpunkt an, an dem man nichts mehr hat - außer die Erinnerung. Die Welt, die Leyla kennt, die ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Das Dorf ihrer Großeltern gibt es so nicht mehr. Ich habe gemerkt, dass es vor allem dann wichtig ist, bestimmte Sachen festzuhalten. Es passieren dabei auch Fehler. Wenn ich mit meiner Schwester gesprochen habe, dann hat sie sich an bestimmte Sachen ganz anders erinnert als ich.

Ich hatte ja nur die eine Perspektive, aber um einen Roman zu schreiben, ist mir bewusst geworden, dass das nicht ausreicht. Ich habe also viel gelesen und auch mit meinem Vater gesprochen. Der kann sich ganz detailliert an Sachen erinnern. Er erzählt ohnehin sehr gerne. Er hat so eine bestimmte Dramaturgie beim mündlichen Erzählen, das gehört zur kurdisch-jesidischen Tradition dazu.

Wie gehen Sie als Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden mit der Frage nach Identität um?

Othmann: Mich nerven die ganzen Identitätsfragen, weil man durch sie alle Identitäten homogenisieren möchte. „Die Sommer“ wird wahrscheinlich als deutsche oder kurdische Geschichte gelesen, dabei ist es ja nur eine Variante davon. Identitäten wie die von Leyla sorgen für Irritation. Leyla ist queer, sie ist lesbisch. Allein das ist für ihre kurdisch-jesidische Identität ja nicht wirklich vorgesehen. Sie ist also eine Kombination aus mehreren Identitäten und Sachen.

Was ich eigentlich gemeint habe: Das kurdisch-jesidische ist in der deutschen Gesellschaft nicht wirklich präsent, geschweige denn in der Literatur. Ist „Die Sommer“ ein Versuch, dieser Identität mehr Raum zu verschaffen?

Othmann: Vielleicht auf einer politischen Ebene. Jesidisches Leben ist in der Türkei und in Syrien so gut wie ausgelöscht. Auch im Irak, durch den Genozid in Shingal. Der Großteil der Jesiden wohnt dort in Camps und nicht mehr in Dörfern. Viele sind noch auf der Flucht. Ihre Identität wird ausgelöscht, sie verschwindet. Und mit dem Kurdischen ist das auch so. Die kurdische Sprache verschwindet. Kurdische Städte in der Türkei werden umbenannt. Kurdisch ist nicht Unterrichts- oder Amtssprache. Diese Umschreibung findet also immer noch statt. Wenn man dann so einen Roman wie „Die Sommer“ schreibt, dann ist das vielleicht eine Form von Widerstand gegen diese Auslöschung, gegen diese Umschreibung, gegen Homogenisierung.

Im Buch sind es vor allem Leylas weiße Freundinnen, die sich für den Genozid nicht zu interessieren scheinen. Wie gehen Sie im echten Leben mit solch einem Desinteresse um?

Othmann: Bei mir sind wegen dieses Themas Freundschaften kaputt gegangen. Wenn die eigene Familie direkt vom Genozid betroffen ist, dann ist man ganz anders involviert. Der 3. August 2014 ist sehr präsent für mich. Es gibt dann weiße Freund*innen, die sich jedes Jahr solidarisch zeigen, die sich dafür interessieren und auch nachfragen. Und dann gibt es Leute, die können das irgendwie nicht. Für die war das 2014 ein Thema, weil es in den Nachrichten war, aber irgendwie haben sie es jetzt vergessen. Ich kann das nicht vergessen. Da gibt es keinen Kompromiss für mich. Man fühlt sich dann in einer anderen Realität.

Dabei ist es auch ein deutsches Problem.

Othmann: Die IS-Angehörige Jennifer W. ist in München angeklagt und ihre jesidischen Opfer sind auch hier. Das kann man nicht einfach wegschieben, man ist Teil von diesem Rassismus. Das müssen die Leute hier checken. Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland, nur wird Außenpolitik meiner Meinung nach manchmal zu stiefmütterlich behandelt. Weil es ja so weit weg ist.

 

Erfahren Sie als Halb-Deutsche auch Rassismus?

Othmann: Ich bin eigentlich voll „white-passing“ - gehe also als Weiße durch. Aber bestimmte Leute sagen, dass ich einen Preis nur bekomme, weil ich einen Migrationshintergrund habe. Oder sie loben mich für mein gutes Deutsch in meinen Texten. Ich schreibe über politische Themen, ich schreibe ein Buch über diesen Genozid, weil es ein Teil meiner Lebensrealität ist. Aber es gibt dann Menschen, und das finde ich unglaublich perfide, die zu mir sagen, dass der Krieg in Syrien und der Genozid doch was Gutes sind, weil jetzt alle meine Texte wollen. Das finde ich echt krass. Das ist so bitter. Ich würde alles dafür geben, damit es den Krieg nicht gibt. Wie perfide ist dieser Neid der weißen Mehrheitsgesellschaft? Was für eine Unterstellung. Man arbeitet als Autor*in mit Sprache, man schreibt über Themen wie Rassismus, Genozid, Krieg oder Vertreibung. Aber ich würde alle Literaturpreise der Welt zurückgeben, sie einzutauschen, damit der Krieg vorbei ist.

Fehlt eine gewisse Sensibilität seitens der Medien, wenn von Krieg und Genozid gesprochen wird?

Othmann: Ich finde es sehr wichtig, dass darüber geschrieben und berichtet wird. Die Bilder tun weh, aber es ist keine Lösung, sie nicht zu zeigen. Schwierig finde ich, Opfer auszuschlachten. Ich persönlich finde es zum Beispiel eklig, IS-Überlebende als „Sexsklavinnen“ zu bezeichnen. Warum sagt man nicht einfach „Überlebende des Genozids“ oder „Aktivistinnen“ zu ihnen? Dadurch, dass sie aussagen, sind sie Aktivistinnen. Sie bekommen Deutungshoheit über ihre eigene Identität. Wenn es um den Nahen oder Mittleren Osten geht, dann wird alles als Normalität abgetan. Ich kann mich noch gut an den Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ in Paris erinnern und wie in Kurdistan, in Erbil, die Zitadelle in den Farben der französischen Flagge beleuchtet wurde. Umgekehrt müsste das auch geschehen. Tote außerhalb von Europa dürfen nicht als Kollateralschaden abgetan werden. Was wäre, wenn nicht 2.800 jesidische, sondern deutsche Frauen verschwunden wären? Wäre die Welt dann auch so ruhig geblieben? Ich glaube nicht.

Das Interview führte Schayan Riaz.

© Qantara.de 2020

Ronya Othmann: “Die Sommer”, Roman, 288 Seiten, Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-26760-2