Drang nach Freiheit

Ronja von Wurmb-Seibel ist Journalistin und Autorin des Buches "Ausgerechnet Kabul", in dem sie von ihrer Zeit in Afghanistan berichtet. Roma Rajpal Weiss sprach mit ihr über ein kriegsgeschütteltes Land, die Situation der Frauen und die Hoffnungen der jüngeren Generation am Hindukusch.

Von Roma Rajpal Weiss

Wie kamen Sie nach Afghanistan?

Ronja von Wurmb-Seibel: Dafür gab es nicht nur einen Grund, sondern gleich mehrere. Ich hatte vor einer Weile für die Wochenzeitung "Die Zeit" insbesondere über die Bundeswehr geschrieben. In den Artikeln ging es vor allem um die Reform der Armee. Ich interviewte Veteranen, die von ihren traumatischen Erfahrungen berichteten. Dann begann die Bundeswehr mit dem Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan und ich beschloss dorthin zu reisen, um zu erfahren, wie es für die deutschen Soldaten ist, nach einem so langen Aufenthalt das Land wieder zu verlassen.

Meine erste Fahrt führte mich ins Feldlager Faizabad, wo ich zwei Wochen blieb. Schon in dieser Zeit merkte ich, dass ich noch einmal zurückkommen musste, weil ich spürte, dass es dort noch eine Menge Geschichten gab, die nicht ihren Eingang in die Berichterstattung über das Land fand. Zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 2013, war in Afghanistan lediglich die Deutsche Presseagentur vertreten – keine der deutschen Zeitungen oder Fernsehsender hatte einen Korrespondenten in Kabul.

Wie war es für Sie, als Frau in Kabul zu leben?

Von Wurmb-Seibel: Mein Leben verlief dort normaler, als man es vermuten würde. Als ausländische Frau nimmt man in Afghanistan einen anderen Stellenwert ein, da die üblichen sozialen Regeln, die sonst für die Frauen in Afghanistan gelten, einen nicht betreffen. Natürlich sind das keine schriftlich fixierten Regeln, aber mein Eindruck als Außenstehende war, dass es mir als Frau daher leichter fiel zu arbeiten. Die Afghanen wussten, dass ich aus dem Ausland komme und erwarteten deshalb nicht von mir, dass ich mich mit der afghanischen Kultur in der gleichen Weise zurechtfinde. Deshalb verlangten sie auch nicht von mir, dass ich meine Arbeit beenden müsste, das Haus nicht verlassen oder nicht mit Männern sprechen sollte. Ich hatte immer das Gefühl, dass die Einhaltung all dieser Regeln von mir nicht verlangt wurde – oder nur zu einem gewissen Grad, jedenfalls nicht so strikt wie im Fall der afghanischen Frauen.

Wie steht es nach ihren Erfahrungen und Recherchen um die Situation der Frau im heutigen Afghanistan?

Cover of Ronja von Wurmb-Seibel's book Ausgerechnet Kabul (source: DVA)
Plädoyer gegen den Krieg: In ihrem Buch "Ausgerechnet Kabul. 13 Geschichten vom Leben im Krieg" eröffnet die junge Reporterin Ronja von Wurmb-Seibel einen vorurteilslosen Blick auf die afghanische Gesellschaft und die Folgen des jahrzehntelangen Konfliktes am Hindukusch.

Von Wurmb-Seibel: Frauenrechte sind ein wichtiges Thema im Land, aber noch wichtiger scheint mir die Diskussion darüber zu sein, wie diese Rechte in der Realität praktiziert werden können. Denn auf dem Papier stehen ihnen bereits einige wesentliche Rechte zu, wie etwa das Recht zu wählen und das Recht zu arbeiten. Die Durchsetzung dieser Rechte im realen Leben steht jedoch auf einem anderen Blatt Papier.

Ich denke jedoch, dass es in diesem Fall viel mehr hilft, genau hinzusehen und danach zu suchen, in welchen Bereichen man den Frauen konkret helfen und ihre Rechte stärken kann. Einer der Bereiche, in dem es einigen Organisationen in den letzten Jahren gelungen ist, wesentliche Fortschritte zu erzielen, ist etwa der Gesundheitssektor. Ein Gebiet, auf dem es noch einen großen Verbesserungsbedarf gibt, ist ohne Frage die häusliche Gewalt. Frauen, die zu Opfern häuslicher Gewalt wurden, müssen besser davor geschützt werden. Außerdem gibt es Programme, die Männern wie Frauen helfen, mit ihren traumatischen Kriegserfahrungen umzugehen, was die Situation der Frauen langfristig auch verbessern könnte. 

Welche Hoffnungen und Erwartungen haben junge afghanische Frauen?

Von Wurmb-Seibel: Die meisten Frauen, mit denen ich sprach, waren im Alter zwischen 20 und 25 Jahren. Für sie ist das wichtigste Thema die Freiheit. Sie wollen arbeiten oder zumindest die Freiheit haben, darüber selbst entscheiden zu dürfen, ob sie arbeiten oder nicht. Eine junge Afghanin möchte sich mit ihrem Freund treffen können, ohne sich dabei vor ihren Eltern verstecken zu müssen. Kurz gesagt wollen sie ein selbstbestimmtes Leben führen. Allerdings ist das kein Wunsch, den nur junge Frauen hegen. Ganz allgemein wünscht sich die jüngere Generation in Afghanistan mehr Wahlfreiheit. Viele junge Leute wollen, dass der Krieg endet, sie wollen Sicherheit und sie wollen endlich ein sogenanntes "normales Leben" führen können. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie damit automatisch das westliche Modell favorisieren.

Wie denken die Männer über die Situation der Frauen in Afghanistan?

Von Wurmb-Seibel: Die jungen afghanischen Männer, mit denen ich sprach, wünschen sich mehr Freiheit für sich genauso wie für die Frauen. Auch der durchschnittliche Mann möchte sich offen mit seiner Freundin treffen können. Viele vertreten die Ansicht, dass ihre zukünftigen Frauen die Möglichkeit haben sollten, arbeiten zu können, sofern sie das möchten – auch wenn das etwas ist, was innerhalb der Familie wahrscheinlich erst hart erkämpft werden muss, sind doch viele ältere Afghanen sehr traditioneller eingestellt. Zwar genießen die Männer insgesamt eine größere Freiheit, wenn es um die wesentlichen Entscheidungen für ihre Zukunft geht – schließlich wird von ihnen erwartet, dass sie arbeiten – aber wenn es um ihren künftigen Lebensstil geht oder etwa darum, wen sie heiraten, dann stehen sie vor einem ganz ähnlichen Problem, wie die Frauen. Oft liegen viele Entscheidungen nicht in ihrer Macht, sondern häufig bestimmt die Familie. Ich hatte den Eindruck, dass dies etwas ist, was zu akzeptieren den jungen Männern oft sehr schwerfällt.

Viele junge Männer brachten ihre Solidarität mit Farkhunda zum Ausdruck, der jungen Frau, die Mitte März von einem Mob in Kabul zu Tode geprügelt wurde. Ist diese Unterstützung ein Zeichen des Wandels?

Frauen-Solidaritätsdemonstration für Farkhunda in Kabul; Foto: DW/H. Sirat
Protest in Gedenken an Farkhunda in Kabul: Nach dem Lynchmord an einer Frau in Afghanistan hatten im März rund 3.000 Menschen vor dem Obersten Gericht in der Hauptstadt Kabul demonstriert. Ein Mob hatte die 27-Jährige Farkhunda vor einer Moschee in Kabul erschlagen und die Leiche verbrannt.

Von Wurmb-Seibel: Die junge Generation fordert soziale Rechte ein. Vorfälle wie der Lynchmord an der Afghanin Farkhunda lehnen sie daher ab. Und ich hatte auch den Eindruck, dass die jungen Menschen in Afghanistan eine große Verantwortung für die Gesellschaft als Ganzes empfinden. Sie wollen wirklich etwas verändern und sind auch bereit, dafür zu kämpfen – nicht mit Waffen, aber mit den Mitteln der Kunst, mit Diskussionen, oder auch mit Journalismus und Fotografie.

Ich habe einmal einen Afghanen gefragt, warum er sein Leben dem Wandel in seinem Land verschrieben hat und er antwortete, dass er sich einmal bei seinem Vater erkundigt habe: "Warum konntest Du den Krieg nicht beenden und warum konntest Du nichts verändern?", worauf seinem Vater keine Antwort einfiel. Deshalb wolle er, wenn er selbst einmal in dem Alter sei, dass er seinen Kindern gegenüber Rechenschaft ablegen muss, ihnen wenigstens eine Antwort geben können und sagen, dass er zumindest sein Möglichstes getan habe.

Was halten die Afghanen vom Abzug der ISAF-Truppen aus Afghanistan?

Von Wurmb-Seibel: Zu diesem Thema gibt es sehr unterschiedliche Meinungen. Und ich konnte daher auch nicht feststellen, dass eine bestimmte Ansicht dominiert. Ein Teil der Afghanen ist der Auffassung, dass sich dadurch die Dinge bestimmt zum Schlechteren entwickeln werden und die Taliban womöglich wieder an Macht hinzugewinnen werden, was dann die Möglichkeit eines Bürgerkriegs nicht mehr ausschließt. Andere hingegen sind optimistischer und begreifen den Abzug als Chance für einen Neuanfang.

Das Interview führte Roma Rajpal Weiss.

© Qantara.de 2015

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Ronja von Wurmb-Seibel: "Ausgerechnet Kabul. 13 Geschichten vom Leben im Krieg", DVA-Verlag, 256 Seiten, ISBN: 978-3-421-04676-5