"Der Islam konfrontiert uns Christen mit längst überfälligen Debatten"

Pater Tobias Zimmermann leitet eine katholische Schule in Berlin. Kürzlich hat er eine Lehrerin eingestellt, die Kopftuch trägt. Weil Schule auch ein Versuchslabor sein sollte. Mit ihm sprach Julia Ley.

Von Julia Ley

Pater Tobias Zimmermann, lange graue Haare, Ring im linken Ohr, leitet das Berliner Canisius-Kolleg, eine von drei Jesuitenschulen in Deutschland. Die Schule beschreibt sich selbst als Gymnasium "mit christlich-humanistischer Prägung". Junge Menschen sollen hier nicht nur eine gute Bildung erhalten, sondern auch zu verantwortungsbewussten Menschen reifen. Mit seiner Entscheidung, eine kopftuchtragende Muslima als Lehrerin einzustellen, hat Zimmermann in Berlin für einigen Wirbel gesorgt. Er war, das betont Zimmermann gleich zu Beginn, ein bisschen überrascht über den Medienrummel. Denn eigentlich hat er ja nur eine Lehrerin eingestellt. Oder?

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Pater Zimmermann, Sie haben in Zeiten, in denen die AfD im Bundestag sitzt, an einer katholischen Schule eine muslimische Lehrerin eingestellt. War das ein Statement?

Tobias Zimmermann: Nein. Ausschlaggebend war die Tatsache, dass diese Frau ein sehr gutes Profil hatte. Und übrigens nicht etwa, weil wir zu wenige Bewerber hatten. Allerdings hatten wir uns schon vorher mit der Frage beschäftigt, wie gehen wir damit um. Wir haben schon lange eine sehr vielfältiges Kollegium: Viele Lehrer sind natürlich katholisch, manche kommen aus dem Osten und hatten nie die Gelegenheit, das Christentum von innen kennenzulernen. Andere sind evangelisch. Was die Muslime betrifft, erinnert mich die Situation heute in gewisser Weise an die 70er Jahre. Damals haben wir uns entschieden, auch evangelische Schüler anzunehmen. Und dann folgten eben irgendwann auch evangelische Lehrer.

Sie haben in den vergangenen zwei Jahren zwei Flüchtlingsklassen bei sich an der Schule eröffnet. Also hatte die Entscheidung auch damit zu tun?

Zimmermann: Ja, sicherlich. Wir haben heute etwa 30 muslimische Schüler, damit hat der Islam eine andere Sichtbarkeit. Und damit stellen sich neue Fragen: Brauchen wir nun andere Gebetsräume? Nicht zwingend islamische, aber zumindest welche, in denen verschiedene Religionen gemeinsam beten können? Wir denken auch darüber nach, ob wir islamischen Religionsunterricht anbieten sollen.

Also müssen Kinder von Lehrern unterrichtet werden, die ihren kulturellen Hintergrund teilen?

Zimmermann: Natürlich nicht nur. Aber Schule ist für mich auch Versuchslabor. Hier haben wir die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Und wenn die Gesellschaft wie hier in Berlin von unterschiedlichen Weltanschauungen geprägt ist, muss sich das in der Lehrerschaft wiederspiegeln. Wir experimentieren hier als christliche Schule mit etwas, von dem ich glaube, dass es eine gute Schule ausmacht.

Frauen mit Kopftuch in Berlin; Foto: Imago/Ralph Peters
Auf die Frage, ob nicht Christen ihre Symbole wie das Kreuz wieder stärker in den Alltag zurückholen sollten statt von Musliminnen zu verlangen, das Kopftuch abzulegen, sagte Zimmermann: "Genau. Und dann miteinander reden. Wir brauchen einen offenen Diskurs mit dem Islam über den Umgang mit Symbolen."

Wie haben Schüler und Eltern auf die Entscheidung reagiert?

Zimmermann: Die Schüler haben mich wirklich beeindruckt. Sie haben die neuen Mitschüler, die ja schon vor der Lehrerin kamen, ganz selbstverständlich und ohne viel Aufheben integriert. In den Weihnachtsferien haben ehemalige Schüler freiwillig ein Kennenlernprogramm durch die Stadt Berlin für die Neuankömmlinge organisiert. Da war eine Lehrerin mit Kopftuch dann auch kein großer Schritt mehr. Die Eltern unterstützen mich auch weitgehend. Aber ich habe auch einige wirklich unschöne E-Mails bekommen.

Das Canisius-Kolleg steht für christliche Werte. Kann eine Muslima diese vermitteln?

Zimmermann: Eine Muslimin kann in einer Stadt wie Berlin zumindest sehr glaubwürdig dafür werben, dass Religion wichtig ist. Uns ist wichtig, dass unsere Schüler ihre Religion reflektieren. Aber dafür gibt es dann den Religionsunterricht. Die neue Kollegin unterrichtet Mathe und Naturwissenschaften.

Können Sie Menschen verstehen, die darin eine "fortschreitende Islamisierung" sehen?

Zimmermann: Nein, ehrlich gesagt überhaupt nicht. Wenn mir jemand so kommt, frage ich mich immer, wann unserer Gesellschaft eigentlich das Selbstvertrauen abhandengekommen ist. Schauen Sie sich mal an, wie viele Muslime es in Deutschland gibt. Es ist absurd, da von Islamisierung zu sprechen. Außerdem sollten wir wegkommen von Klischeebildern. Auch im Islam gibt es viele verschiedene Richtungen. Wer also sind "die Muslime"? Ich frage mich manchmal wirklich, woher diese Hysterie kommt.

in Kruzifix hängt am 01.06.2011 in einem Klassenzimmer des katholischen Maria-Ward-Gymnasiums in Augsburg; Foto: imago/epd
Pater Tobias Zimmermann: „Ich bin übrigens auch dagegen, dass Schulen nur von einer einzigen Weltanschauung geprägt sind. So ist die Gesellschaft nicht mehr. Muslime leben seit 60 Jahren in Deutschland. Und wir haben zugelassen, dass jetzt in der dritten Generation die Trennung zwischen uns so groß ist."

Sind wir uns unserer selbst nicht sicher genug?

Zimmermann: Ein Freund von mir nennt das, was wir heute oft leben, "Verschonungspluralismus". Um sich nicht auseinandersetzen zu müssen, einigt man sich oft auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Gar keine religiösen Symbole. Jahrhundertelang waren die großen Herausforderer des Christentums die Zweifler. Bis wir irgendwann beschlossen haben, uns gegenseitig zu verschonen. Uns haben zu lange die Gegner gefehlt, deshalb sind unsere Diskussionen so flach geworden. Heute redet jeder nur noch aus seiner eigenen Blase heraus und spricht jedem, der nicht in dieser Blase lebt, den guten Willen ab. Der Islam konfrontiert uns Christen mit längst überfälligen Debatten.

Als Rektor einer staatlichen Schule hätten Sie die Dame in Berlin gar nicht einstellen dürfen. Das Berliner Neutralitätsgesetz verbietet Lehrern an öffentlichen Schulen das Tragen von Symbolen und Kleidungsstücken, die eine bestimmte Religionszugehörigkeit "demonstrieren". Der Staat will neutral bleiben. Klingt doch erst mal ganz gut, oder nicht?

Zimmermann: Unser deutsches Modell von der Neutralität des Staates wird oft falsch verstanden. Das Grundgesetz sieht vor, dass der öffentliche Raum von Vielfalt geprägt ist. Die Rolle des Staates ist es, dafür zu sorgen, dass verschiedene Weltanschauungen nebeneinander existieren können und die Debatte von Toleranz geprägt ist. Er darf nicht für eine Religion oder Weltanschauung Partei ergreifen. Aber Religion und Staat komplett zu trennen, das ist französischer Laizismus - und der funktioniert nicht, weil er für den öffentlichen Raum eine Säkularität propagiert, die selbst eine Weltanschauung ist. Meiner Meinung nach bewegt sich das Land Berlin mit diesem Gesetz nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes.

Trotzdem befürchten einige: Eine muslimische Lehrerin könnte nichtmuslimischen Kindern ihren Glauben aufzwingen.

Zimmermann: Jemandem seinen Glauben aufzwingen, darf man generell nicht. Auch wir als religiöse Schule nicht. Glaube beruht auf freier Entscheidung. Was nicht auf freier Entscheidung beruht, ist Ideologie. Aber es gehört zur Schule, dass sie Schülern etwas zumutet - auch im religiösen Bereich. Kant nennt Schule "die Erziehung zur Freiheit bei dem Zwange". Das Ziel von Schule ist immer die Freiheit, und das muss in jeder Maßnahme spürbar sein. Aber Schule agiert eben immer auf dem schmalen Grat, dass sie gleichzeitig Zwangseinrichtung ist. Dazu gehört, Schülern etwas zuzumuten, in diesem Fall die Begegnung mit dem Anderen.

Aber eine Lehrerin hat eben auch eine Vorbildfunktion.

Zimmermann: Ja, und die besteht für mich darin, Schülern zu zeigen, wie man Vielfalt lebt. Zu seinen Überzeugungen zu stehen, ohne sie jemandem aufzudrängen. Wo, wenn nicht in der Schule, passiert diese Art von Begegnung heute denn noch? Ich bin übrigens auch dagegen, dass Schulen nur von einer einzigen Weltanschauung geprägt sind. So ist die Gesellschaft nicht mehr. Muslime leben seit 60 Jahren in Deutschland. Und wir haben zugelassen, dass jetzt in der dritten Generation die Trennung zwischen uns so groß ist. Wir haben es nicht geschafft zu vermitteln: Wir wollen euch als Mitbürger. Und es ist unheimlich schade um diesen Schatz an Menschen.

Das Interview führte Julia Ley.

© Süddeutsche Zeitung 2018