"Muslime bekommen immer die Rolle des Täters"

"Muslimaniac" so nennt der Rassismusforscher und Lyriker Ozan Zakariya Keskinkilic die westliche Erfindung des Muslims als Problem: Pointiert schreibt er über Bilder und Stereotype des anti-muslimischen Rassismus. Interview von Schayan Riaz

Von Schayan Riaz

Herr Keskinkılıç, Ihr Buch "Muslimaniac“ über anti-muslimischen Rassismus ist letztes Jahr erschienen und aktueller denn je. Wie kam es zu diesem Projekt?

Ozan Zakariya Keskinkılıç: Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit anti-muslimischem Rassismus, in erster Linie aus wissenschaftlicher Perspektive. Dabei hat mir etwas gefehlt. Meine Auseinandersetzung ist immer sehr technisch, sehr analytisch, sie geschieht in Form von Fachvorträgen, Forschungsprojekten oder Seminaren. "Muslimaniac“ war eine Möglichkeit für mich, zwei Sphären zu verbinden. Denn zum einen bin ich Rassismusforscher, aber gleichzeitig wird mir auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen, den Muslimen, zugeschrieben.



Ich wollte einen Essay schreiben, in dem die wissenschaftliche Komponente zwar nicht zu kurz kommt, der aber gleichzeitig auch einen persönlichen Touch enthält. Ich wollte keine künstliche Objektivität und Distanz schaffen, sondern das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Und mit anschauen, welche Möglichkeiten es sonst noch gibt, darauf zu reagieren, zum Beispiel literarisch oder poetisch. Mit diesen Fragen habe ich mich mehrere Jahre lang auf Spurensuche begeben. Und am Ende ist dieses Buch dabei herausgekommen.

Cover von Keskinkilics "Muslimaniac", herausgegeben von der Edition Körber; Quelle: Verlag
Einmal Muslim, immer Muslim: Egal wie sehr sich Muslime um Integration bemühen, sie bleiben für die Mehrheitsgesellschaft fremd, gefährlich und rückständig. Und muslimische Frauen sind entweder unterdrückte Opfer oder sie dienen als erotische Projektionsfläche. Keskinkilic beschreibt in ‚Muslimaniac‘ ‚Orientalika‘, Objekte, Symbole und sprachliche Spuren, die die andauernden Klichees über Orient und Okzident verkörpern. Er verbindet seine Beobachtungen mit aktuellen Entwicklungen und eigenen Erfahrungen und kann so plausibel erklären, wie die deutsche Gesellschaft den „Islam“ zu ihrem Hauptfeindbild machte.

Ich habe mich beim Lesen gefragt: Möchte der Autor wirklich ein Buch über anti-muslimischen Rassismus schreiben? Oder hatte er eher einen Gedichtband im Sinn?

Keskinkılıç: Nicht jeder Mensch hat das Privileg, die Augen verschließen und sagen zu können, Rassismus berührt mich nicht. Auf gewisse Art werde ich mich mein Leben lang mit dem Thema befassen müssen. Aber der Umgang damit wird sich unterscheiden. Es gibt Menschen, die Rassismus leugnen, das ist ja auch eine Form des Umgangs mit dem Thema.

Aber ich will da nicht in einen Fatalismus verfallen. Mir geht es um den Umgang mit Rassismus und mein Buch ist ein Produkt meiner eigenen Umgangsweise damit. Ich stelle darin auch die Frage, wer wäre ich, wenn ich ohne Rassismus aufgewachsen wäre? Wenn ich damit nicht konfrontiert wäre? Ich hätte unterschiedliche Leben durchlaufen können.

"Muslimaniac“ ist einerseits eine Reaktion auf den Rassismus, der mir die Möglichkeit raubt, andere Dinge zu tun, die mich erfüllen. Andererseits gibt es auch einen Handlungsspielraum, den ich gar nicht kleinreden möchte. Mich treibt die Frage um, wie Menschen, die von Rassismus betroffen sind, in der Welt navigieren. Welche Optionen haben sie? Sie reagieren zum Beispiel mit künstlerischen, mit alltäglichen Interventionen.

Mit Zärtlichkeit und Stärke gegen Rassismus

Mit Interventionen meinen Sie eine Auswahl an Gedichten, Liedzeilen, Tweets oder Textpassagen von anderen Autoren, ob Mohamed Amjahid, Nadire Biskin, Karosh Taha oder Amira Zarari, die sie kuratiert haben. Diese Worte treten in eine Art Dialog mit ihren Gedanken. Eine schöne Idee.

Keskinkilic: Selbstredend musste es in diesem Buch den notwendigen Raum geben, um anti-muslimischen Rassismus zu dekonstruieren. So funktioniert Rassismusforschung. Aber ich wollte nicht, dass es nur um Rassismus geht. Ich habe die Literatur und speziell die Lyrik für mich als ein sehr mächtiges und gleichzeitig auch intimes Werkzeug entdeckt, bei dem Zärtlichkeit und Stärke zusammenkommen.

Also habe ich einige solcher Beispiele für poetische Interventionen ausgewählt, damit man beim Lesen in bestimmten Momenten innehält und jemand anderes weitersprechen lässt.

Das führt zu Ihrer These vom "Poetischen Islam“, ein Begriff, bei dem ich zuerst an einen Tippfehler dachte. Ist das ein bewusstes Wortspiel?

Keskinkilic: Wenn ich den Begriff lese, denke ich natürlich auch als erstes an den "Politischen Islam“. Doch Lyrik hat ja auch ein spielerisches Element, man testet Grenzen aus, man ist frech, man bricht Tabus. Und mit meiner These vom "Poetischen Islam“ wollte ich an diese Tradition anknüpfen. Es gibt Fragen, Worte, Themen, die Muslimen zustehen, die nur sie bearbeiten dürfen. Das kann aber nicht sein. Der "Poetische Islam“ ist ein Appell, dieses Vokabular zu hinterfragen und zu erweitern, neue Räume und Inspirationen zu finden in der lyrischen Auseinandersetzung mit Gewalt, mit Schmerz und Außenseitertum, aber auch mit Widerstand, Selbsterfüllung und kollektivem Zusammenhalt.

"Ohne Islamkritik kein Deutschland“ schreiben Sie. Was meinen Sie damit?

Keskinkilic: Das knüpft ein wenig an meinen letzten Punkt an. Ich finde es interessant, welche Fragen in der Gesellschaft gestellt werden können, welche Themen bearbeitet werden und welches Vokabular eine Gesellschaft anbietet, um über eine bestimmte Gruppe von Menschen zu sprechen. Das Vokabular, mit dem über Musliminnen und Muslime gesprochen wird, dämonisiert immer. Wir greifen ständig auf gewalttätige, negative Sprachbilder zurück. Das Repertoire ist klar umrissen, es wird medial rezipiert und von der Politik gespiegelt. Das ist ein Teufelskreis, aus dem wir schwer herauskommen.

Bücher, die anti-muslimischen Rassismus bedienen, sind viel erfolgreicher als jene, die anti-muslimischen Rassismus erklären, ihn sezieren und kritisieren. Die Gesellschaft meint immer, "die Wahrheit" über eine Gruppe zu kennen. An diese "Wahrheit“ werden wir ständig erinnert. Aber wo wird sie produziert? Was ist die Tradition dieser "Wahrheit“ über den Islam? Und welchen Zweck erfüllt sie? Mir war es wichtig zu zeigen, dass die Produktion dieser "Wahrheit“ nicht erst gestern begonnen hat, nicht mit 9/11, nicht mit den "Gastarbeitern“. Sondern dass wir auf eine sehr lange Geschichte von anti-muslimischem Rassismus zurückblicken können. Es gab schon Anfang des 20. Jahrhunderts deutsche Debatten über den Islam. Ich wollte hier die Karriere eines Feindbildes unterlaufen.

 

 

 

Anti- muslimischer Rassismus und "Queer Dschihad"

Im Kapitel "Queer Dschihad“ schreiben Sie über Themen, die vor allem in muslimischen Kreisen noch umstritten sind. Wie spricht man gleichzeitig über anti-muslimischen Rassismus und die Rechte queerer Menschen?

Keskinkilic: Ich habe das Buch nicht nur für eine weiße Mehrheitsgesellschaft geschrieben, sondern auch für Musliminnen und Muslime. Mit "Queer Dschihad“ wollte ich aufzeigen, dass im anti-muslimischen Rassismus Themen instrumentalisiert werden, zum Beispiel die Rechte von Menschen mit anderer sexueller Orientierung. In den seltensten Fällen geht es darum, queere Menschen zu schützen. Ich wollte queer-muslimische Perspektiven einbringen, damit sie auch in der muslimischen Community rezipiert werden.

Wer kennt sich denn schon mit homoerotischer Dichtkunst in frühislamischen Gesellschaften aus? Sie wurde aus dem islamischen Kanon gedrängt. Und wie schreiben Musliminnen und Muslime heute über Begehren, Spiritualität und Liebe? Welche Orte stehen ihnen dafür zur Verfügung? Wer fühlt sich wo wohl? Menschen erfahren ja nicht nur anti-muslimischen Rassismus, muslimische Frauen, queere Musliminnen und Muslime erleben mehrere Formen von Diskriminierung gleichzeitig, auch Sexismus und Queerfeindlichkeit. Es ist wichtig, diese Diskriminierungen im Zusammenspiel zu verstehen und sie gemeinsam zu adressieren.

"Muslimaniac“ ist Marwa-El-Sherbini gewidmet, die 2009 während einer Strafverhandlung im Landgericht Dresden vom Angeklagten getötet wurde. Warum war Ihnen das wichtig?

Keskinkilic: Die sogenannte Islamdebatte weist Rollen zu. Und "die Muslime“ bekommen immer die Rolle des Täters zugewiesen. In dem Moment aber, in dem wir muslimisches Leben als bedroht und diskriminiert betrachten, werden wir immer abgewiesen. Wir schaffen es nicht, aus dieser banalen, plakativen Binarität heraus zu kommen. Weil sich im anti-muslimischen Rassismus die weiße Mehrheitsgesellschaft als Opfer der Minderheit sieht.

Es ist viel einfacher, Gewalttaten von Muslimen zu benennen als jene Taten, bei denen sie zu Opfern geworden sind. Es gibt so viele Fälle von Attacken und Anschlägen auf Moscheen. Doch wir sehen Musliminnen und Muslime nicht in ihrer Menschlichkeit. Dürfen Muslime auch Forderungen stellen? Dürfen sie auch Bürger sein? Ist die Demokratie auch bereit, ihren Ansprüchen gerecht zu werden? Egal wem gegenüber? Das ist auch eine Frage an die Demokratie — kann sie Musliminnen und Muslime überhaupt ertragen?

Das Interview führte Shayan Riaz.

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