"Radikale Muslime sind verwestlicht"

Die aufstrebende muslimische Mittelschicht in Europa will als eine westliche Glaubensgemeinschaft beachtet werden und nicht etwa als fremde Kultur, meint der französische Politologe Olivier Roy. Michael Hesse hat sich mit dem renommierten Islamismus-Experten unterhalten.

Von Annalena Junggeburth

Olivier Roy; Foto: © Siedler Verlag
Olivier Roy, Islamismusexperte aus Frankreich und Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique.

​​Herr Roy, beruhen die kulturellen Differenzen zu den in Europa lebenden Muslimen auf einer unzulässigen Vereinfachung?

Olivier Roy: Ja, zumindest auf einer Vereinfachung. Das gewöhnlich vom Islam gezeichnete Bild ist das einer muslimischen Gemeinschaft – die alle gleich sind in der Einhaltung des Islam –, welche die westlichen Werte ablehnt und ins Zentrum Europas die Konflikte des Nahen und Mittleren Ostens hineinträgt. Tatsächlich ist die muslimische Population in Europa sehr unterschiedlich, nicht allein wegen unterschiedlicher Wurzeln, sondern weil sie unterschiedliche, komplexe und oftmals auch einander entgegengesetzte Entscheidungen treffen.

Einige versuchen so weit wie möglich eine unberührte Kultur – wie ihre Sprache, Fasten oder Heiratsbräuche – zu bewahren, andere spielen mit der Säkularisation, sprechen besser Französisch oder Deutsch als Arabisch oder Türkisch und versuchen, sich zu integrieren.

Wieder andere – weitestgehend verwestlichte – versuchen eine rein religiöse Praxis in ein westlich-säkulares Umfeld umzuformen, in dem sie sich an den Modellen protestantischer und jüdischer Formen der Religion orientieren.

Und schließlich gibt es einige "Neugeborene", die von Konvertiten begleitet werden, welche die Vorstellung einer entkultivierten fundamentalistischen Marke des Islam, gemeint ist der Salafismus, fasziniert, der die traditionellen muslimischen Kulturen – die Kultur ihrer Vorfahren – in ähnlicher Weise kritisiert, wie sie es mit westlichen Kulturen praktizieren.

Kann den Muslimen in Europa ein Gefühl der Heimat vermittelt werden – als europäische Muslime?

Roy: Wir müssen unterscheiden zwischen Glaubensgemeinschaften und ethnischen Gemeinschaften. Integration wird üblicherweise geleistet auf Kosten traditioneller ethnischer Kulturen, aber der Islam kann und sollte als Glaubensgemeinschaft umgestaltet werden und auf dem gleichen Fuß wie andere Religionen stehen. Praktizierende muslimische Gläubige fordern Gleichheit und nicht den Status als einer kulturellen Minderheit.

Dennoch werden sie systematisch als fremde ethnische Kultur zurückgesetzt. Die emporstrebende muslimische Mittelschicht im Westen will als eine westliche Glaubensgemeinschaft – ich will es nicht "Kirche" nennen – beachtet werden und nicht etwa als fremde Kultur. Das Markenzeichen religiöser Praxis und Wahrnehmung wird gewöhnlich durch eine wachsende gebildete Mittelschicht verteidigt, die ein wichtiger Faktor ökonomischen Wachstums ist.

Inhaber und Gäste sitzen vor einem Spezialitätengeschäft in Berlin-Kreuzberg; Foto: dpa
Viele Muslime seien integriert, doch oft fehle dafür die Anerkennung, so Olivier Roy.

​​Was, wenn diese Gleichstellung nicht gelingt? Sehen sich die Europäer dann einer Explosion gegenüber?

Roy: Die Situation ist nicht so dramatisch. Die Frage gilt nicht so sehr den muslimischen Migranten versus der "weißen Gesellschaft", denn zu viele Muslime sind bereits integriert, auch wenn ihre Integration nicht genügend anerkannt wird.

Sollten wir scheitern, werden gewiss drei Weisen der Radikalisierung anstehen: eine Randgruppe einer zweiten Generation Jugendlicher, unangesehen ihres ökonomischen und sozialen Hintergrundes, wird durch eine gewalttätige islamistische Radikalisierung in Versuchung geführt; die Masse der jungen, nicht wahlberechtigten, joblosen Schulabbrecher wird den Kleinverbrechen und der Schattenwirtschaft frönen, mit Auswüchsen von Zusammenstößen mit der Polizei, allerdings ohne religiöse Dimension. Schließlich werden einige traditionell konservative Milieus sich in kulturelle und religiöse Ghettos abschotten.

Ist die Begegnung zwischen Europa und dem Islam Teil eines Kampfes der Kulturen?

Roy: Die Debatte der dänischen Cartoons, der Gotteslästerung und Freiheit der Kunst wird nicht zwischen einem liberalen Westen und einem obskuren Osten geführt. Die meisten religiösen Konservativen Europas befürworten eine Begrenzung der Freiheit des Ausdrucks – so gewann die französische katholische Kirche vor zwei Jahren eine Gerichtsschlacht, um eine Darstellung zu verbannen, in der das "Letzte Abendmahl" in verletzender Weise dargestellt wurde, die Apostel wurden durch halbnackte Frauen ersetzt. Die meisten katholischen Bischöfe sind gegen die Schwulen-Hochzeit.

Und nebenbei gesagt, haben viele Muslime eine sehr kritische Sicht zu der fehlenden Freiheit und Demokratie in arabischen Staaten, deren Regime von uns, dem Westen, unterstützt werden wie etwa Tunesien oder Ägypten. Es ist keine Debatte zwischen Kulturen, wohl aber eine zwischen Werten.

Zudem ist es eine Debatte, die innerhalb der Grenzen Europas geführt wird: Sollten wir etwa die katholische Kirche Spaniens als muslimisch bestimmen, nur weil sie die Säkularisation ablehnt, wie auch die Trennung von Kirche und Staat, Schwulen-Hochzeit und absoluter Freiheit der Religion. Die modernen Merkmale des Fundamentalismus – wie Wahhabismus, aber auch protestantischer Evangelikalismus – sind nicht Produkte traditioneller Kulturen, sondern im Gegenteil Erzeugnisse einer Krise der traditionellen Kulturen, das Produkt der De-Kultivierung und Globalisierung. Religiöse Spannungen verweisen stets auf Krisen traditioneller Kulturen – und sind nicht deren Ausprägung.

Was soll der Westen gegen Al Kaida und den Islamismus tun?

Roy: Al Kaida und der Islamismus sind nicht dasselbe. Nicht alle Fundamentalisten sind politische Radikale, und es steckt tatsächlich eine kleine Religion in Al Kaida. Fundamentalismus ist ein permanenter Trend in jeder Religion und es macht keinen Sinn, von außerhalb einen "guten Islam" zu befördern; der Fundamentalismus wird immer einige Leute erreichen. Die Aufgabe ist, Raum zu schaffen für einen glaubwürdigen Hauptstrom Islam, der die religiösen Ansprüche der Masse der Muslime erfüllt.

Wir sollten nicht in die Falle Bin Ladens tappen: Der Westen denkt, dass der Islam die Wurzel der Radikalisierung ist, also sehen wir automatisch in Bin Laden den Vorreiter der muslimischen Welt. Vielmehr sollten wir ihn bekämpfen als Terroristen, nicht als Muslim. Faktisch werden junge Menschen nicht deshalb zu Terroristen, weil sie den Koran lesen oder in die Moschee gehen. Sie tun es um der Wirkung willen. Sie sind die wirklichen Erbberechtigten der Ultralinken der 1970er Jahre: besessen von Amerika und der Wall Street, sind sie anti-imperialistischer als die Befürworter der Scharia.

Ein Blick in die auf Video aufgezeichneten Inszenierungen der Enthauptungen der Geiseln im Irak genügt, um zu sehen, dass es sich um Reproduktionen des Mordes an Aldo Moro durch die Roten Brigaden handelt – das hat nichts zu tun mit der traditionell muslimischen Vorstellungswelt.

Die Geschichte junger Terroristen ist die eines individuellen Heldensprungs zur Rettung die Umma vor der westlichen Barbarei. Die Religion spielt keine besondere Rolle in dem Prozess individueller Radikalisierung. Wir sollte diesen Heroismus delegitimieren, indem wir die Geschichte von Heldentum entlarven, anstatt die muslimische Gemeinschaft aufzufordern, den Terrorismus zu verdammen – sie tun es, aber niemand scheint es zu hören. Lasst uns also aufhören über Religion und Kultur zu reden, was weniger wichtig ist, sprechen wir besser von Politik und generationsabhängiger Radikalisierung.

Besucher beim Tag der Offenen Moschee; Foto: AP
Kulturelle Identitäten befinden sich heute in einer Krise, so Olivier Roy.

​​Was bedeutet heute Multikulturalismus?

Roy: Gar nichts. Es handelt sich um einen Slogan, der versucht die Koexistenz verschiedener Gruppen zu managen, zu einer Zeit, in der sich kulturelle Identitäten in einer Krise befinden. Der Multikulturalismus nimmt an, dass der Islam als Religion eingebettet ist in eine fremde Kultur, die sich selbst von einer zur anderen Generation aufrechterhält.

Man kann ein guter Bürger sein und zur selben Zeit mit einer Kultur identifizieren, die nicht die vorherrschende ist. Mit anderen Worten, die bürgerliche Beziehung zur Nation kann vermittelt werden durch einen kommunitaristischen Sinn der Zugehörigkeit.

Aber das Problem ist dass sich die religiöse Wiedererwachung – entweder unter undamentalistischen oder spiritualistischen Formen – bei Entkopplung von irgendeinem kulturellem Bezug entwickelt. Es gedeiht auf einer De-Kultivierung: Die jungen Radikalen sind tatsächlich vollständig verwestlicht. Entlang der Wiedergeborenen und den Konvertiten – eine Anzahl junger Frauen, die den Schleier tragen wollen, der zu diesen Kategorien hinzugehört –, wird der Islam nicht als kulturelle Relique gesehen, vielmehr als universelle, globales Religion, die bis hinter spezifische Kulturen reicht wie Evangelikalismus oder Pentekostalismus.

Islamische Reformer betonen, dass der Islam, richtig gedeutet, in keinem Konflikt mit Europa stehe.

Roy: Ja, natürlich. Im selben Sinne wie das konservative orthodoxe Judentum, evangelikalischer Protestantismus oder konservativer Katholizismus nicht für Konflikte sorgen . . . oder es eben doch tun. Sie haben eine unterschiedliche Agenda, sie blühen auf in verschiedenen Räumen, aber sie stimmen in einigen Grundregeln überein über demokratische Institutionen und Regulierung von Uneinigkeit.

Niemand fordert den Papst auf, sich seiner Position der Abtreibung zu vergewissern, um ein besserer Europäer zu sein. Religionen können eben nicht einfach unter das Joch der Politik gebracht werden – und dies ist letztlich die Ursache, weshalb Demokratien eine mehr oder weniger große Trennung zwischen Staat und Kirche etabliert haben.

Würde Europas Problem mit den Muslimen, die einen Migrationshintergrund haben, auch dann noch existieren, wenn es einen palästinensischen Staat geben würde, und wenn die USA, Großbritannien und einige andere europäische Staaten nicht in den Irak eingefallen wären?

Roy: Ja, natürlich. Wir tendieren dazu, den Einfluss der Krise des Nahen Ostens für die Radikalisierung von Muslimen im Westen überzubetonen. In Paris bringt eine pro-palästinensische Demonstration auf der Straße nicht mehr als 10.000 Menschen zusammen, obwohl zwei oder drei Millionen Muslime in und um Paris herum leben. Der Mörder von Theo van Gogh in Holland erwähnte niemals Irak, Afghanistan oder Palästina, sondern ausschließlich die Blasphemie.

Wir werden hier mit einem Generationenproblem konfrontiert – was, nebenbei gesagt, exakt dasselbe Problem mit den Ultralinken in den 70er gewesen ist –, nicht mit einer geostrategischen Frage. Bin Laden attackierte New York vor und nicht nach der Irak-Invasion der USA. Die Wurzeln der Radikalisierung liegen im Westen, nicht im Nahen oder Mittleren Osten. Lasst uns die Integration von Muslimen und den Islam als westliche Religion behandeln, und aufhören, den Fokus auf die Kriege im Nahen und Mittleren Osten zu richten, auf die wir keinen Einfluss haben, und von denen die europäischen Muslime viel weiter entfernt sind, als es angenommen wird.

Die so genannte muslimische Wut gegen den Westen geht nicht die Masse der westlichen Muslime abgesehen von Großbritannien nichts an. Aber in Kontinentaleuropa betrifft die Radikalisierung des Islam einzig den Rand von der entwurzelten zweiten Generation von Muslimen. Sie haben ansonsten keine reelle Existenz, ausgenommen in unseren Alpträumen.

Interview: Michael Hesse

© Michael Hesse 2008

Eine leicht gekürzte Version dieses Textes wurde bereits im Kölner Stadt-Anzeiger veröffentlicht.

Olivier Roy ist Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) und unterrichtet an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und an der Sciences Po in Paris. Roy ist ein weltweit gefragter Islamismus-Experte. Sein Buch "Der islamische Weg nach Westen" (2006) wurde zu einem häufig zitierten Standardwerk. Zuletzt erschien von ihm "Der falsche Krieg" im Siedler Verlag (2008).

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