Interview mit Nushin Atmaca vom Liberal-Islamischen Bund

Der Liberal-Islamische Bund (LIB) hat eine neue Vorsitzende: Nushin Atmaca. Die Islamwissenschaftlerin und Assistentin der Direktion am Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin wurde Ende April in das Amt gewählt. Im Interview mit Paula Konersmann spricht sie über Herausforderungen und Chancen des persönlichen Dialogs.

Frau Atmaca, was möchten Sie als neue Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes bewegen?

Nushin Atmaca: Wir möchten weiterhin Ansprechpartner für Politik und Gesellschaft sein. Auch möchten wir uns in die islamische Theologie einbringen, etwa bei der Gestaltung von Lehrplänen an Universitäten. Zudem möchten wir unsere Gemeindestruktur stärken. Unsere Gemeinden umfassen nicht nur Mitglieder, sondern auch Muslime, die sich durch unseren Ansatz angesprochen fühlen. Inhaltlich orientieren wir uns auch künftig an einer diskursiven, liberalen islamischen Theologie, die wir weiter vorantreiben möchten.

Werden Sie als liberale Muslime nicht häufig als Splittergruppe wahrgenommen?

Atmaca: Das ist unterschiedlich. Manchen gesellschaftspolitischen Akteuren sind wir noch nicht ausreichend bekannt. Auch werden wir innerhalb der muslimischen Community manchmal skeptisch beäugt. Aber sobald wir mit Menschen ins Gespräch kommen - ob sie Muslime sind oder nicht -, funktioniert es oft auf persönlicher und lokaler Ebene. Dennoch wird es wohl noch ein längerer Weg sein, sowohl von muslimischer als auch von nichtmuslimischer Seite anerkannt zu werden - gerade auf nationaler Ebene - und ein Mitspracherecht einfordern zu können. Das heißt nicht, dass wir andere zurückdrängen wollen. Aber es gibt eine Vielfalt im Islam, und wir sind Teil davon.

Im Gegensatz zu den Kirchen haben die Muslime keine zentrale Organisationsstruktur. Wie schätzen Sie diese Situation ein?

Atmaca: Das macht die Kommunikation schwieriger, denn es gibt nicht einen zentralen Ansprechpartner, der für sich beanspruchen kann, etwa für alle Muslime in Deutschland zu sprechen. Eine zentralere Struktur könnte gewinnbringend sein. Die Voraussetzungen dafür sind jedoch gegenseitiger Respekt und Anerkennung unterschiedlicher Positionen innerhalb der muslimischen Community in Deutschland. Wir zum Beispiel repräsentieren eine Minderheit innerhalb einer Minderheit. Der liberale Ansatz hat aber ebenso eine Daseinsberechtigung wie traditionelle Herangehensweisen.

Über den Islam wird derzeit viel debattiert. Welche Schwerpunkte erscheinen Ihnen besonders wichtig?

Atmaca: Mit der sogenannten Flüchtlingskrise kommen alte Debatten wieder auf: etwa die Frage, ob der Islam überhaupt zu Deutschland passt, ob der Islam demokratisch und tolerant gegenüber Andersgläubigen ist. Wir sind noch immer nicht an dem Punkt, entspannt von «deutschen Muslimen» oder «muslimischen Deutschen» zu sprechen. In öffentlichen Debatten wird vielmehr getrennt zwischen «den Muslimen» und «den Deutschen».

Was macht die deutschen Muslime aus Ihrer Sicht aus?

Atmaca: Der allergrößte Teil von ihnen kommt gut zurecht mit dem politischen System, mit den Rechten und Freiheiten. Das ist übrigens kein deutsches Phänomen. In der islamischen Geschichte gab es stets eine große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Der Islam schreibt kein bestimmtes Gesellschaftsbild vor. Bei den Debatten über islamische Vorschriften, die sowohl von Muslimen als auch von Nichtmuslimen geführt werden, wird oft vergessen, wie Muslime tatsächlich leben.

Ein anderes wiederkehrendes Thema ist der Terror ...

Atmaca: Mit Radikalisierungstendenzen müssen wir uns auseinandersetzen. Wir müssen uns fragen, wie wir damit umgehen und was wir dem entgegensetzen. Dazu gehört auch das kritische Hinterfragen bestimmter Denk- und Argumentationsstrukturen, was liberale und progressive Muslime bereits tun. Ich vertrete nicht die Position, die Religion an sich sei verantwortlich für Terrorismus. Aber wir müssen uns kritisch fragen, wie bestimmte, religiös inspirierte und Gewalt billigende Denkmodelle solch eine Anziehungskraft entwickeln konnten.

Gleichzeitig hat es radikale und gewalttätige Auswüchse von Religion immer gegeben. Zudem wechselt der Extremismus sein Gewand: So gab es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Europa eine Zeit des linksextremen Terrors, heute gibt es islamistischen Extremismus, und möglicherweise wird es in Zukunft wieder andere Ideologien geben. Sich mit der Frage auseinanderzusetzen, warum Extremismus in bestimmten Zeiten für bestimmte Gruppen so attraktiv erscheint – das ist daher eine Aufgabe für uns alle.

Sowohl jungen Radikalen als auch Islamkritikern werfen Experten ein Halbwissen über den Islam vor. Wie schätzen Sie das ein?

Atmaca: Beide teilen die Herangehensweise: Sie sagen, dieses und jenes steht im Koran geschrieben. Sie reißen bestimmte Sätze aus dem Kontext und nehmen sie wortwörtlich. Damit fehlt jede kritische oder historische Auseinandersetzung. Vielmehr werden auf diese Weise Ressentiments bestärkt, gerade wenn es um den angeblichen gewalttätigen und intoleranten Charakter des Islam geht. Wir und mit uns auch andere Verbände mahnen daher einen anderen Umgang mit den religiösen Texten an.

Wie könnte umgekehrt die Integration sehr traditioneller Muslime verbessert werden? Derzeit wird beispielsweise über verweigerte Handschläge debattiert ...

Atmaca: Es wäre gut, wenn sich beide Seiten mit Respekt begegnen. Menschen, die anderen nicht die Hand geben möchten, könnten dies auf eine Weise kommunizieren, die das Gegenüber nicht abwertet. Dann könnte die andere Seite vielleicht akzeptieren, dass diese Art von Begrüßung nicht stattfindet, aber eine akzeptable Begrüßung. Insofern wird von beiden Seiten etwas verlangt.

Was wünschen Sie sich für den Dialog der Religionen?

Atmaca: Die Berliner Gemeinde, die ich bisher koordiniert habe, ist - wie auch die Kölner LIB-Gemeinde - in den Räumen einer evangelischen Gemeinde untergekommen. Zwischen uns gibt es einen regelmäßigen Austausch. Bei jedem Treffen beschäftigen wir uns mit einem bestimmten Thema. Dort besprechen wir auch Fragen, die man sich sonst vielleicht nicht zu stellen traut. Jede Seite beobachtet so Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Doch entscheidend ist, sich auf das jeweils andere einzulassen. Das erleben wir auch mit unserer jüdischen Partnergemeinde. Wenn man Erinnerungen und Emotionen teilt, kann das viel bewirken und verändern - und zu einem wirklichen Miteinander beitragen. (KNA)