Europa als Nährboden für türkischen Ethno-Nationalismus

Nach Ansicht der bekannten türkischen Soziologin Nilüfer Göle ist es vielen europäischen Ländern nicht gelungen, ihre muslimischen und türkischstämmigen Bürger zu integrieren. Dies habe die gesellschaftliche Polarisierung in Europa weiter gefördert, so Göle im Gespräch mit Luca Steinmann.

Von Luca Steinmann

Nach Ansicht vieler Beobachter will derbtürkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht nur von seinen Staatsbürgern, sondern auch von den in Europa lebenden türkischstämmigen Menschen und den sunnitischen Muslimen als Führer wahrgenommen werden. Mit welchen Strategien könnte er versuchen, europäische Muslime an die Türkei zu binden?

Nilüfer Göle: Mit den Migrationsbewegungen sind in den europäischen Staaten einige soziale und politische Fragen verbunden, die spezifisch türkisch sind. Hierzu zählt in Europa insbesondere die Konfrontation zwischen Erdoğans Anhängern und seinen Gegnern. Es ist ja nicht so, dass es unter den im Ausland lebenden Türken keine Opposition gegen den türkischen Präsidenten gibt. Seit vielen Jahren versuchen wir die Frage zu beantworten, ob und wie weit die Regierung in Ankara eine Führungsfunktion für die im Ausland lebenden Türken wahrnimmt. Fest steht, dass die Türkei auf viele türkischstämmige Bürger im Ausland eine erhebliche Soft Power ausübt.

Diese Einflussnahme lässt sich in zwei Perioden unterteilen: Zwischen 1980 und 2010 manifestierte sich das türkische Modell in Form von Kulturfestivals, Fernsehserien, Theaterstücken und verschiedenen Publikationen. Erdoğan förderte damals diese Art von Soft Power. In den letzten Jahren nahm das türkische Modell eine ethno-nationale Wende und nutzte hierzu den Islam als politisches Instrument. Wir sprechen daher mittlerweile von einer "Sunnifizierung". Wie konsequent die europäischen Türken diesem Modell folgen, hängt von ihrer Akzeptanz in den Gesellschaften der Länder ab, in denen sie leben. Je stärker sie sich ausgegrenzt fühlen, desto größer ist ihre Offenheit für diese Ideologie.

Worin bestehen die größten Fehler der europäischen Länder in Hinblick auf die Integration ihrer "Neubürger"?

Göle: Vielen europäischen Ländern ist es nicht gelungen, ihre muslimischen und türkischstämmigen Bürger zu integrieren. Diese Chance wurde verpasst. 2010 begann die türkische Regierung, eine transnationale Strategie zu verfolgen. Die Schwierigkeiten, eine Synthese zwischen den muslimischen Bürgern und ihren europäischen Heimatländern herzustellen, beschert uns heute einen wachsenden gegenseitigen Extremismus: Auf der einen Seite finden wir die Neopopulisten, die von homogenen Gesellschaften träumen und Ausländer ausgrenzen. Auf der anderen Seite wächst der Erfolg von Bewegungen wie Millî Görüş. Diese Bewegung ist vor allem in Deutschland sehr stark. Sie bietet den Türken eine nationalistische Perspektive, die ebenso gefährlich wie kontraproduktiv ist.

Je schlechter es um die Einbeziehung von Muslimen bestellt ist, desto größer sind die Erfolgsaussichten von Millî Görüş. Ein weiterer Fehler ist der Glaube, eine multikulturelle Gesellschaft könne praktisch aus dem Stand geschaffen werden. Doch der Weg dahin ist lang. Die europäischen Gesellschaften und ihre Bürger mit Migrationshintergrund sollten einen eigenen Weg des Zusammenlebens finden.

Gibt es bereits erfolgreiche Modelle für diesen eigenen Weg?

Göle: Ein Beispiel ist die Zentralmoschee in Köln, die von den bekannten deutschen Architekten Paul und Gottfried Böhm entworfen wurde. Sie planten einen eigenständigen Gebäudekomplex, der sich stimmig in seine Umgebung einfügt. Das zeigt, wie neue Wege im Zusammenleben zwischen Christen, Muslimen und Atheisten gefunden werden können.

Die offizielle Eröffnung der Moschee wurde allerdings von bisweilen polemischen Kontroversen überschattet, obschon sich eine große Zahl von Kölnern für die Moschee engagierte. Ein weiteres Beispiel sind die Filme des deutsch-türkischen Filmemachers Fatih Akin, in denen er eine neue Form des Europäertums aufzeigt. Es beruht auf einer Vernetzung der verschiedenen Identitäten seiner Protagonisten.

Besonders intensiv wurde zuletzt die Rolle von Mesut Özil diskutiert, einem deutschen Fußballspieler türkischer Herkunft, der aus der deutschen Fußballnationalmannschaft ausschied, nachdem er sich mit Erdoğan ablichten ließ.

Göle: Özils Fall ist symptomatisch. Eine erfolgreiche deutsch-türkische Person des öffentlichen Lebens will als Deutscher anerkannt werden, ohne seine Wurzeln aufgeben zu müssen. Seine Geschichte zeigt, wie schwierig es in Europa ist, unterschiedliche Identitäten und Zugehörigkeiten zu haben, auch wenn dies bei vielen Menschen, zum Beispiel bei vielen Juden, der Fall ist. Wenn wir diese Menschen auffordern, ihre Herkunft aufzugeben und im Gegenzug die starke nationale Identität des Landes, in dem sie leben, anzunehmen, führt dies zur Zwangsassimilation.

Enttäuschter Mesut Özil nach dem Vorrunden-Aus der deutschen Nationalmannschaft bei der WM in Russland im Juni 2018; Foto: picture-alliance
Folgenschwerer Disput um Fußball-Star Mesut Özil: Im Zuge der Erdogan-Affäre erklärte Özil am 22. Juli 2018 seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft und erhob schwere Vorwürfe gegen den DFB und dessen Präsidenten Reinhard Grindel. Özil beklagte "Rassismus und fehlenden Respekt".

Wir sollten vielmehr zu neuen Formen eines europäischen Bürgers finden, ohne unsere Wurzeln ablegen zu müssen. Viele Menschen mit Migrationshintergrund könnten sich sonst ausgeschlossen fühlen, was wir bereits bei Jugendlichen der zweiten und dritten Generation erleben.

Die Migrationsbewegungen wirken sich auch auf das Verhältnis von Europa und der Türkei aus. Der türkischen Regierung wird vorgeworfen, Migranten als Druckmittel gegen Europa zu benutzen.

Göle: Die Türkei hat bereits mehr als drei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen und große humanitäre Anstrengungen unternommen. Dies allein auf politisches Kalkül zurückzuführen, wäre nicht fair. Die Türkei steht heute vor heiklen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Integration und Assimilation der zugewanderten Menschen. Der türkische Pluralismus wird damit auf die Probe gestellt. Die Migranten haben das Erscheinungsbild ganzer Regionen und Städte verändert. Viele haben neue Kleingewerbe eröffnet und sind tief in die lokale Wirtschaft vorgedrungen.

Doch langsam verändert sich diese Lage und je stärker die akute Notlage abebbt, desto besser sind die Aussichten für die syrischen Flüchtlinge. Ihr Erfolg könnte aber rassistische Ressentiments unter der türkischen Bevölkerung wecken. Das erleben wir bereits heute. Einige werfen der Regierung vor, sich mehr um die Migranten als um die Einheimischen zu kümmern. Die Einwanderung stellt die Türkei zudem vor Herausforderungen, die es so bisher nicht gab. Das ist in Europa nicht anders. Die Türkei und Europa stehen jetzt im Grunde vor den gleichen Aufgaben.

Das Interview führte Luca Steinmann.

© ResetDoc 2018

Aus dem Englischen von Peter Lammers

Die türkische Soziologin Nilüfer Göle leitet die "École des Hautes Études en Sciences Sociale" in Paris. Seit 30 Jahren setzt sie sich mit der Entwicklung der islamischen Religion in Europa auseinander. Ihre Studien konzentrieren sich vornehmlich auf die Debatten über die Präsenz des Islam im europäischen öffentlichen Raum.