"Wir brauchen mehr Zeit, um mehr Freiheit zu gewinnen"

Das "Freedom Theatre" in Jenin ist eines der wenigen palästinensischen Kultureinrichtungen, das internationales Renommee erworben hat. Im Gespräch mit Ylenia Gostoli erläutert Nabil Al Raee, Direktor des Theaters, inwiefern sich das neueste Bühnenstück in die große und kontroverse Geschichte des "kulturellen Widerstands" Palästinas einfügt.

Von Ylenia Gostoli

Herr Al Raee, Ihr neues Stück handelt von der 39-tägigen Belagerung der Geburtskirche von Bethlehem während der israelischen Militäroperation 'Defensive Shield' im Jahr 2002. Wie entstand die Idee dazu?

Nabil Al Raee: Auf einer Tournee durch die Schweiz im Jahr 2011 traf Zoe Lafferty auf jemanden, der sich nach eigenen Angaben in der Geburtskirche aufhielt. Er sprach das Team nach der Aufführung darauf an. Diese Geschichte ist immer noch lebendig. Das belegen auch die Exilanten und ehemaligen Kämpfer. Auch ich habe eine persönliche Verbindung dazu: In meiner Kindheit lebte ich mit zwei der Kämpfer zusammen, die aus dem Flüchtlingslager Al-Arroub stammten. Ich wollte unbedingt ihre Geschichten hören, zumal sich unsere Wege nach den Ereignissen getrennt hatten.

Das ist Ihre erste Tournee nach Großbritannien. Warum entschieden Sie sich für dieses Stück?

Al Raee: Die Geschichte wurde in der britischen Öffentlichkeit verzerrt dargestellt. Die Medien sprachen von einer Gruppe von Terroristen, die die Geburtskirche in Bethlehem gestürmt und Geiseln genommen habe. Die internationale Gemeinschaft habe schließlich eingegriffen und zu vermitteln versucht. Hier ist einiges richtigzustellen: Zunächst einmal liegt die Geburtskirche in Palästina. Und die Kämpfer waren Palästinenser. Es waren die Israelis, die in Bethlehem eindrangen – also in eine palästinensische Stadt. Sie belagerten die Kämpfer, die sich in die Kirche geflüchtet hatten. 

Wir möchten über die Geschehnisse sprechen. Denn dies ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Geschichte spielt in unserem Leben eine wichtige Rolle. Wird Geschichte von Menschen geschrieben? Ich möchte und muss das hinterfragen. Auch als Palästinenser habe ich eine Meinung, denn ich lebe seit langer Zeit unter einer unrechtmäßigen Besatzung. 

Schränkt die Tatsache, dass Sie eine eingetragene gemeinnützige Organisation sind, Ihre Arbeit ein?

Scene from the premier of "The Siege" in Jenin, 3 April 2015 (photo: Ylenia Gostoli)
On 13 May 2015, the Freedom Theatre's first tour of the UK kicked off in Manchester. Their new production, "The Siege", written and directed by Palestinian Nabil Al-Raee and Briton Zoe Lafferty, opened in April in Jenin. Photo above: scene from the premier of "The Siege" in Jenin, 3 April 2015

Al Raee: Das wird immer befürchtet, betrifft uns aber eher nicht. Jeder, der mit uns in Kontakt treten will, weiß, dass wir schon aufgrund unserer Identität kein Theater sind, das Kunst nur um der Kunst willen macht. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass wir ein politisches Theater sind. Ich hoffe, wir können eines Tages ohne öffentliche Subventionen auskommen. Denn diese schränken uns tatsächlich in mancher Hinsicht ein. 

Sehen Sie im Flüchtlingslager Jenin Ihr Publikum? 

Al Raee: Anfänglich ja. Unser Publikum umgibt uns. Das beeinflusst unsere Arbeit selbstverständlich. Das Freedom Theatre hat seine Geschichte im Lager: Es entstand aus dem ehemaligen Stone Theatre. Die zugrunde liegende Idee geht allerdings über die örtliche Gemeinschaft hinaus. 

Die Beziehung zwischen dem Freedom Theatre und den bekanntermaßen konservativen Flüchtlingen ist nicht immer spannungsfrei. Man hat Sie sogar körperlich bedroht. Hat sich die Lage im Laufe der Jahre verändert? Müssen Sie wegen Ihres Standorts Kompromisse eingehen?

Al Raee: Wir haben es wohl mit einer Hassliebe zu tun. Als Theater müssen wir unsere Umgebung wahrnehmen. Ich würde das nicht als Kompromiss bezeichnen. Niemand will Kompromisse eingehen. Smart sein, ja. Aber Kompromisse – nein. Ich bin nicht hier, um den Leuten zu gefallen. Ich bin hier, um mitzuwirken, um mich einzubringen. Aber auch, um die Leute infrage zu stellen – ihr Denken und ihre Art zu leben. 

Ich wehre mich dagegen, alle zu Opfern zu machen. Man muss allerdings genau hinsehen, um die Dinge durchschauen zu können. So betrachtet ist die Reaktion der Leute ebenso normal wie anormal. Man muss das einkalkulieren. 2002 wurde das Flüchtlingslager Jenin im Zuge einer israelischen Militäroperation fast vollständig zerstört. Ausrechnet ein israelischer Soldat (gemeint ist Juliano Mer Khamis, Anm. der Red.) schlug dann die Brücke zu allem Neuen und Fremden.

Heute sagt es sich leicht: "Verlegt das Theater in die Stadt". Doch was wäre damit gewonnen? Dieser Ort und sein Wesen sind hier verwurzelt. Die Geschichte der Menschen, die sich dem Theater verbunden fühlen, handelt hier. 

Wie die Geschichte von Juliano Mer Khamis. Der Sohn einer jüdischen Mutter und eines palästinensischen Vaters war nach eigenen Angaben "zu 100 Prozent Palästinenser und zu 100 Prozent Jude". Was ist sein Vermächtnis? Hat sich das Freedom Theatre seit seinem Tod verändert?

Al Raee: Von bestimmten Menschen war er hier nicht akzeptiert, weil er Jude war. Und in Israel war er auch nicht akzeptiert, weil er Palästinenser war. Er war der personifizierte Konflikt. Dennoch wies er unermüdlich darauf hin, unsere Situation sei kein Konflikt und sei niemals ein Konflikt gewesen, sondern eine Besatzung.

Juliano Mer Khamis; Foto: AP
2006 gründet Juliano Mer Khamis das "Freedom Theatre" und schafft damit einen Raum, wie er in Jenin einzigartig ist: "Ich möchte den Kindern von Jenin einen Ort ermöglichen, wo sie frei sind. Frei vom prügelnden Vater, frei vom prügelnden Soldaten, frei von der Unterdrückung um sie herum. Ich möchte ihnen ein Stück Normalität geben. Die Kinder haben so viele Angehörige verloren, dass sie emotional wie tot sind. Beim Theaterspielen können sie lernen, wieder etwas zu spüren."

Juliano war ebenso mit dem Stone Theatre verbunden wie mit dem Freedom Theatre und der neuen Idee des kulturellen Widerstands. Ich denke schon, dass viel geschehen ist. Aber am wichtigsten ist doch, dass die eigentliche Idee lebt und weiter wächst.

Der Mord an Juliano hat die Menschen hier sehr aufgebracht. Die Tat ist niemals richtig aufgeklärt worden. Die Menschen waren so tief verletzt, dass sie sich schließlich gegenseitig bekämpften. Wir wussten einfach nicht wohin mit unserer Wut. Einige von uns beschuldigten sich gegenseitig. Doch die meisten von uns entschieden sich dazu, weiterzumachen. Wären wir einfach weggegangen, würden wir den Mördern von Juliano in die Hände spielen, so dachten wir letztlich. Der Mord sollte dem Freedom Theatre wahrscheinlich ein Ende setzen und die Idee von Juliano zu Grabe tragen.

Welche Idee sollte Ihrer Meinung nach beerdigt werden und warum?

Al Raee: Gedanklich frei zu sein, ist sehr gefährlich. Sein Denken von Schranken zu befreien, nein zu sagen und die Dinge infrage zu stellen. Das ist ein großer Schritt.

Damals war es ein Novum, Mädchen und Jungen gemeinsam auf die Bühne zu bringen. Aber was sollte daran falsch sein? Einige Menschen haben das Thema unnötig aufgebauscht. Sie haben uns angefeindet, aber sie töten deswegen nicht. Warum hat uns vorher niemand im Lager aufgefordert, unsere Sachen zu packen und zu verschwinden? Die hätten das tun können. Anderen Organisationen ist es ja mehrfach so ergangen. Ich glaube nicht, dass die Schuldigen am Mord von Juliano auf dieser Ebene zu suchen sind. Ich glaube nicht, dass er Opfer der üblichen Anfeindungen wurde.

Wer steckt dann hinter dem Mord?

Al Raee: Wir halten uns an die Aussage, dass der Tod nicht aufgeklärt wurde.

Ist das Freedom Theatre frei? 

Al Raee: Wir behaupten, zunächst kommt die Freiheit des Einzelnen, dann kämpfen wir gemeinsam für die Freiheit der Gemeinschaft, falls wir können. Wir sind frei, aber wir brauchen mehr Zeit, um mehr Freiheit zu gewinnen. 

Das Interview führte Ylenia Gostoli.

© Qantara.de 2015

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers