"Ein Schlag ins Gesicht für die Schweizer Muslime"

Der Bostoner Islamwissenschaftler Jonathan Bloom äußert sich im Gespräch mit Eren Güvercin über die Geschichte des Minaretts und seine kulturhistorische Bedeutung sowie über die Folgen des jüngsten Minarett-Verbots in der Schweiz.

Jonathan M. Bloom; Foto: privat
Jonathan M. Bloom: "Minarette sind zwar genau genommen kein notwendiger Bestandteil einer Moschee, aber deren Bau wird weithin für erstrebenswert erachtet. Das Schweizer Minarett-Verbot ist deshalb ein Schlag ins Gesicht für die dortige muslimische Gemeinde"

​​Minarette sind zu charakteristischen Symbolen des Islams geworden. Worin liegt der Ursprung des Minaretts?

Jonathan M. Bloom: Die ersten Moscheen aus dem siebten Jahrhundert hatten keine Minarette. Es wird davon ausgegangen, dass sie im späten achten oder frühen neunten Jahrhundert "erfunden" wurden. Es gibt verschiedene Theorien über den Ursprungs des Minaretts: Manche sagen, sie seien Kirchtürmen nachempfunden, andere halten Wachtürme, Leuchttürme, Stellwerke oder Siegessäulen für die eigentlichen Vorbilder.

Und was ist Ihre Meinung hierzu?

Bloom: Keine dieser Varianten ist richtig. Meine Forschungen haben ergeben, dass die ersten Minarette nicht die Funktion des Gebetsrufs übernahmen. Ich gehe deshalb davon aus, dass sie schon damals die gleiche Aufgabe wie heute hatten: Sie waren Zeichen für die Präsenz einer Moschee und damit Symbole des Islam. Erst später erfolgte von diesen Türmen der Gebetsruf.

Sie sagen, dass das Minarett historisch betrachtet nicht mit dem Gebetsruf in Zusammenhang steht?

Bloom: Der Gebetsruf wird bereits seit der Zeit des Propheten praktiziert, das Minarett entstand erst später. Der Überlieferung zufolge träumte ein Weggefährte des Propheten, Abd Allah ibn Zayd, er habe gesehen, wie jemand vom Dach der Moschee die Männer zum Gebet gerufen habe. Nachdem er dem Propheten von seinem Traum erzählt hatte, erkannte Mohammed darin eine Vision Gottes. Er wies Bilal, einen freigelassenen abessinischen Sklaven, der einer der ersten Konvertiten zum Islam war, mit den Worten an: "Steh auf, Bilal, und rufe alle zum Gebet zusammen!" Bilal, der für seine schöne Stimme bekannt war, tat, wie ihm geheißen war, und wurde so der erste Muezzin.

Liegt in dieser Zeit auch der Ursprung des Minaretts?

Die große Moschee in Samarra aus dem 9. Jahrhundert; Foto: &copy wikipedia
Minarette als unverwechselbare Symbole des Islam: die große Moschee im irakischen Samarra aus dem 9. Jahrhundert.

​​Bloom: Nein. Gemäß islamischer Tradition riefen Bilal und seine Nachfolger von einem hoch gelegenen oder öffentlichen Platz zum Gebet, etwa von einem der Stadttore oder vom Dach der Moschee, von einem hohen benachbarten Gebäude oder sogar von der Stadtmauer aus, niemals aber von einem hohen Turm. Es ist sogar überliefert, Ali ibn Abi Talib, Cousin und Schwiegersohn des Propheten, habe angeordnet, ein hoher mi'dhana, ein Platz von dem aus der Muezzin zum Gebet rief, solle abgetragen werden, da der Muezzin von dort in die Häuser rund um die Moschee schauen konnte. Ali war der Ansicht, der Gebetsruf solle nicht von einem Gebäude aus erfolgen, das höher als das Dach der Moschee sei.

Welche symbolische Bedeutung hat das Minarett überhaupt?

Bloom: Das Minarett ist, ähnlich wie das Kuppeldach der Moschee, eine der charakteristischsten Ausprägungen der islamischen Architektur. Der Klang des Gebetsrufs gehört zu Kairo, Istanbul oder Riad genau wie der Klang der Glocken zu Rom. Weltweit sind die Minarette inzwischen ein derart unverwechselbares Symbol des Islam geworden, dass politische Karikaturisten sie als Kürzel verwenden, wenn sie eine Szene im Nahen Osten oder in islamisch geprägten Gegenden verorten wollen.

Sind Minarette auch Symbole der politischen Macht des Islam?

Bloom: Ob die Minarette nun aktiv genutzt werden, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen oder nicht – sie bleiben mächtige Symbole des Islam und wurden dementsprechend als solche immer wieder ins Visier genommen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Blick auf die Hagia Sophia in Istanbul; Foto: dpa
Von der Kirche zur Moschee: Nachdem der osmanische Sultan Fatih Mehmet im Jahr 1453 Konstantinopel erobert hatte, ließ er die 900 Jahre alte Kirche Hagia Sophia zu einer Moschee umgestalten.

​​Bloom: Während des Bürgerkriegs im Kosovo platzierten die serbischen Truppen häufig Sprengstoff in den Minaretten. Sie taten dies nicht nur, um die Türme zu zerstören, sondern auch, damit die angrenzende Moschee beim Einsturz ebenfalls zerstört wurde. Durch diese Zerstörung wollten die serbischen Truppen, die überwiegend christlich-orthodox geprägt waren, die sichtbarsten Symbole des Islam von der Bildfläche tilgen. Ein solcher Zusammenprall zwischen unterschiedlichen visuellen Kulturen ist unglücklicherweise nicht erst ein Phänomen der Neuzeit, auch wenn moderne Waffen und Sprengstoffe die Folgen noch verheerender machen.

Gibt es auch Fälle, in denen Minarette errichtet wurden, um den islamischen Machtanspruch hervorzuheben?

Bloom: Ja. Nachdem der osmanische Sultan Fatih Mehmet die byzantinische Stadt Konstantinopel im Mai 1453 erobert hatte, war eine seiner ersten Amtshandlungen, auf der 900 Jahre alten Kirche Hagia Sophia ein hölzernes Minarett errichten zu lassen, um ihre Umwandlung in einer Moschee zu kennzeichnen. Das hölzerne Minarett wurde bald durch ein steinernes ersetzt und zudem wurden noch drei weitere gebaut.

Als Mehmet und seine Nachfolger weitere Moscheen in ihrer neuen Hauptstadt bauten, wurde die Silhouette Istanbuls nach und nach von dutzenden schlanken, pfeilförmigen Minaretten unterbrochen, die der osmanischen Metropole nach und nach ihr charakteristisches Aussehen gaben. Es signalisierte, dass sie nicht länger die Hauptstadt des christlichen Byzanz, sondern die neue Hauptstadt des islamischen Weltreichs war.

Gibt es in der islamischen Geschichte auch Überlieferungen von Moscheen ohne Minarett?

Bloom: In weiten Teilen der muslimischen Welt, wie etwa in Malaysia, im Kaschmir und in Ostafrika, waren Minarette bis zur Neuzeit so gut wie unbekannt. Im 20. Jahrhundert jedoch führte die Ausdehnung der modernen Kommunikation und der Reisemöglichkeiten zu einer Vereinheitlichung der regionalen architektonischen Ausprägungen zu "islamischen" Normen in Gestalt von Kuppeln und hoch aufragenden Türmen. Nichtsdestotrotz erklärte Mohamad Tajuddin bin Mohamad Rasdi von der Technischen Universität in Malaysia unlängst, dass moderne Architekten, die monumentale Moscheen mit ausgefallenen Minaretten und Kuppeln bauten, die Lehren des Propheten ignorierten.

Blick auf die Minarette einer Moschee in Genf; Foto: dpa
Bei der Schweizer Volksabstimmung Ende November 2009 hatte sich die Bevölkerungsmehrheit von 58 Prozent für ein Bauverbot von Minaretten ausgesprochen. Dieses Votum löste Besorgnis über die Einschränkung der Religionsfreiheit in Europa aus.

​​Die Schweiz hat im vergangenen Jahr ein Minarett-Verbot per Volksabstimmung erlassen. Die Bevölkerungsmehrheit sah offenbar im Minarett ein Symbol der Islamisierung. Was halten Sie von dieser Entwicklung?

Bloom: Ironischerweise war einer der ersten Gelehrten, die den Ursprung und die Geschichte des Islam studierten, vor über einem Jahrhundert der Schweizer Arabist Max van Berchem. Minarette sind zwar genau genommen kein notwendiger Bestandteil einer Moschee, aber deren Bau wird weithin für erstrebenswert erachtet. Das Minarett-Verbot ist deshalb ein Schlag ins Gesicht für die muslimische Gemeinde der Schweiz. Können Sie sich vorstellen, was geschehen wäre, wenn die Schweizer entschieden hätten, dass der Bau von Glockentürmen auf Kirchen verboten wird?

Ist diese Ablehnung der Minarette ein neuzeitliches Phänomen?

Bloom: Nein, sie kann bis ins mittelalterliche Spanien zurückverfolgt werden, als Muslime und Christen um die architektonische Vorherrschaft in den Städten kämpften. In jüngerer Zeit gab es in Oxford einen Streit um den Bau eines Minaretts, das höher als die legendären Turmspitzen der Stadt gewesen wäre. Zu einem ganz ähnlichen Konflikt war es in jüngster Vergangenheit auch in Frederick (Maryland) gekommen.

Interview: Eren Güvercin

© Qantara.de 2010

Jonathan Bloom ist Professor für islamische und asiatische Kunst am Boston College (USA).

Qantara.de

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