Im Zwielicht

Im Westen begegnet man islamischen Hilfsorganisationen häufig mit Misstrauen, da sie verdächtigt werden, radikale Gruppierungen zu unterstützen. Weshalb derlei Zweifel überzogen sind, erklärt Jonathan Benthall, ehemaliger Direktor des "Königlichen Anthropologischen Instituts" in London, im Gespräch mit Martina Sabra.

Jonathan Benthall; Foto: privat
Jonathan Benthall, ehemaliger Direktor des "Königlichen Anthropologischen Instituts"</wbr>, gilt als Experte auf dem Gebiet islamischer Hilfsorganisationen. Gegenwärtig ist er Vorsitzender des "International NGO Training and Research Centre"</wbr> in Oxford.

​​Herr Benthall, nach dem 11. September 2001 sind in den USA die Vermögenswerte vieler islamischer NGOs eingefroren worden, weil diese angeblich in Verbindung zu Terroristen im Nahen Osten standen, insbesondere zur radikal-islamischen Widerstandsbewegung Hamas. Wie beurteilen Sie diese Maßnahmen vor dem Hintergrund Ihrer Recherchen?

Jonathan Benthall: Wegen dieser Kriminalisierung einer Reihe von islamischen Hilfsorganisationen durch die USA, besonders in den Palästinensergebieten, gibt es enorme Probleme. Die Regierungen Israels und der USA behaupten, unter dem Deckmantel solcher Organisationen agiere in Wirklichkeit die Hamas.

Im Auftrag der Schweizer Regierung habe ich jedoch an einer Studie mitgearbeitet, bei der diese so genannten Zakat-Komitees (Komitees für Almosensteuer; Anmerkung der Redaktion) – allein im Westjordanland gibt es davon 90 verschiedene – und ihre jüngste Vergangenheit genau unter die Lupe genommen wurden.

Das Genfer "Graduate Institute of International and Development Studies" hat die Untersuchung erst kürzlich veröffentlicht. Auf empirischer Grundlage ist dabei herausgekommen, dass die Zakat-Komitees unabhängige Hilfsorganisationen sind. Aber aus amerikanischer Sicht sind Spenden an solche Stiftungen dasselbe wie Spenden an terroristische Vereinigungen, für die man ins Gefängnis wandern kann. Diese Haltung basiert auf Fehlinformationen.

Hat der Westen nach dem 11. September überreagiert?

Benthall: Im Hinblick auf islamische Hilfsorganisationen schon. Da ist in den USA eine Art "Neo-Carthyismus" ausgebrochen. Den Skandal von Guantánamo und die Rechtssprechung der Bush-Ära kennt jeder, doch die gezielten Angriffe auf islamische Organisationen sind weniger bekannt. Obwohl sie in den Vereinigten Staaten ein ernstes Problem darstellen.

Lässt sich der Schaden beziffern, der den betroffenen Organisationen daraus entsteht?

Benthall: Das ist schwierig. Lassen Sie es mich so sagen: Wir haben festgestellt, dass Hilfsorganisationen wie "Islamic Relief", die sich an Gläubige im Exil wenden, in Großbritannien sehr erfolgreich sind. Sie sind immer weiter gewachsen und zu wichtigen Akteuren geworden. In den USA gibt es diese Entwicklung nicht, obwohl die Bevölkerung dort vier- bis fünfmal so groß und der Anteil der Muslime sehr hoch ist. Es gibt auch eine starke Tradition des wohltätigen Spendens, aber keine muslimischen Hilfsorganisationen von nennenswerter Größe. "Islamic Relief" darf zwar noch arbeiten, aber sie sind eine Tochter des britischen Zweigs. Und das liegt durchaus an diesen übertriebenen Reaktionen.

​​"Islamic Relief" arbeitet auch in Deutschland, die Organisation unterhält Büros in Berlin und Köln. Ihre Arbeit kommt nicht nur Muslimen zugute, sondern auch Nicht-Muslimen, wofür die jüngste Katastrophe in Haiti ein Beispiel ist. Trotzdem werden in Deutschland immer wieder Stimmen laut, die behaupten, die Organisation stehe der Muslimbruderschaft nahe. Hani Al-Banna, der Direktor von "Islamic Relief", stammt angeblich aus derselben Familie wie Hassan Al-Banna, der Gründer der Bruderschaft.

Benthall: Hani Al-Banna hat denselben Namen, aber soweit ich weiß, sind die beiden nicht verwandt. Die Muslimbruderschaft ist eine eher zwielichtige Organisation, aber zumindest in Großbritannien hat "Islamic Relief" keinen zweifelhaften Ruf. Auch die "National Charity Commission" ist zu diesem Schluss gekommen. "Islamic Relief" war in seinem gesamten Geschäftsbetrieb völlig offen und transparent. In den USA wird die Transparenz von Hilfsorganisationen nach einem Punktesystem bewertet, und selbst dort hat "Islamic Relief" die Höchstpunktzahl erreicht.

Hilfe für die Ärmsten der Armen, darum geht es ihnen. Sie versuchen niemanden zu bekehren, und sie bauen auch keine Moscheen. Andere Organisationen wie etwa CAFOD, der britische Zweig der katholischen Caritas, geben zumindest Geld für Reparaturarbeiten, wenn eine Moschee beschädigt ist. Moscheen sind für die muslimische Bevölkerung von hoher kultureller Bedeutung, heißt es dann. Wohingegen "Islamic Relief" stets sagt: Nein, aus der Religion halten wir uns komplett heraus. Falls trotzdem eine Verschwörung der Muslimbruderschaft dahinterstecken sollte, wäre sie offenbar unwahrscheinlich subtil, und daran glaube ich nicht so recht.

Es gibt aber durchaus einige große - zumeist von Saudi-Arabien - gesponserte islamische Organisationen, die unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit totalitäre Propaganda betreiben und missionieren wollen.

Benthall: Das ist tatsächlich ein Problem. In Saudi-Arabien ist eine Kultur der Verschwiegenheit und Diskretion traditionell sehr verbreitet, davon wird alles überschattet. Aber wie soll man sich gegen den Vorwurf verteidigen, man würde den Terrorismus finanzieren, wenn man unter strikter Geheimhaltung agiert, keine Geschäftsberichte veröffentlicht und niemandem erzählt, was man eigentlich tut? Ich glaube, auch die Saudis werden irgendwann begreifen, dass sie sich transparenter aufstellen müssen. Allerdings ist die Einrichtung eines Saudischen Hochkommissariats für Entwicklungshilfe schon 2002 angekündigt worden, und es ist bis heute nichts passiert.

Was könnten oder sollten westliche Politiker tun, um eine bessere Zusammenarbeit mit islamischen Hilfsorganisationen zu gewährleisten? Wäre da nicht ein politisches Umdenken nötig?

​​Benthall: Ja, das würde ich vorschlagen. Abgesehen davon, dass islamische Hilfsorganisationen dort, wo es nötig ist, viel Positives erreichen, leisten sie auch einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Integration – auch hier in Europa. In gewisser Weise dominierten die jüdisch-christlichen Hilfsorganisationen lange Zeit dieses Tätigkeitsfeld. Das hat sich nun verändert. Vor ein paar Jahren war das Netzwerk der islamischen Entwicklungshilfe eine Art Parallelwelt, die in entsprechenden Strukturanalysen nicht vorkam und nicht besonders ernst genommen wurde. Heute ist dies nicht mehr der Fall.

Dennoch gibt es zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Hilfsorganisationen oft beträchtliche ethische Differenzen, die sich nicht einfach beiseite schieben lassen …

Benthall: Nein, keineswegs. Was die Menschenrechte angeht, vor allem die Rechte von Frauen und Kindern, gibt es da ganz klare Diskrepanzen, die man unbedingt näher unter die Lupe nehmen sollte. Ich persönlich glaube, dass im Verhältnis islamischer Organisationen zu anderen Hilfsorganisationen vor allem die so genannte "Gender-Frage" eine Menge Sprengstoff enthält. Die islamischen Organisationen sind im Hinblick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter oft etwas konservativ eingestellt. Andererseits können sie in konservativ geprägten Ländern und Gesellschaften gerade deshalb besonders effektive Arbeit leisten. Ein anderes Problemfeld ist die Glaubensfreiheit, aber da scheinen die Konflikte weniger ausgeprägt zu sein.

Interview: Martina Sabra

© Qantara.de 2010

Aus dem Englischen von Ilja Braun

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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