"Wir müssen die Überlieferung hinterfragen"

Für Muslime ist es nicht nur erlaubt, kritische Fragen an die Theologie zu stellen. Es ist sogar notwendig, denn die Meinungen der Gelehrten verstellen den Blick auf den Koran, sagt Benjamin Idriz, Imam der Moschee im oberbayrischen Penzberg, im Gespräch mit Claudia Mende.

Von Claudia Mende

Herr Idriz, hat Constantin Schreiber für seinen Moscheereport auch bei Ihnen in Penzberg angefragt?

Benjamin Idriz: Leider habe ich keine Anfrage bekommen. Herr Schreiber hat nicht objektiv über die Moscheegemeinden berichtet. Es gibt sicher aus unterschiedlichen Gründen Schieflagen in manchen Moscheen, aber dass sein Report ein ausschließlich negatives Bild zeichnet, ist nicht nachvollziehbar. Am Tag der ersten Sendung habe ich bei ihm angefragt, warum er nicht in Penzberg gedreht hat. Bisher habe ich keine Antwort bekommen.

Dabei halten Sie Ihre Predigten auf Deutsch.

Idriz: Ja, bei uns gibt es Predigten auf Deutsch, außerdem sind wir in Penzberg unabhängig. Wir sind seit zwei Jahren Mitglied im "Zentralrat der Muslime in Deutschland" und im "Zentralrat der Bosnischen Muslime", aber der Vorstand entscheidet autonom über die Tätigkeiten in der Moschee von Penzberg. In dieser Hinsicht sind wir neutral und unabhängig.

Sehen Sie bei Ihren Gläubigen ein Interesse, Glaubenswahrheiten kritisch zu hinterfragen?

Idriz: Ich betreue meine Gemeinde seit 22 Jahren und spüre eine Entwicklung bei den Gemeindemitgliedern. Es hängt sehr viel am Imam. Daran, was er predigt, welche Lesart des Koran er vertritt. Das entscheidet, in welche Richtung er seine Gemeinde führt. Wenn der Imam in seinen Predigten selbst Dinge hinterfragt, dann spüren die Gemeindemitglieder, dass er theologisch aufgeschlossen ist. Dann merken die Gläubigen, dass sie mit ihren Fragen zum Imam kommen können.

Die Moschee in Penzberg; Foto: dpa/pictue-alliance
Vorbildlich für den interreligiösen Dialog in Deutschland: Die 1994 gegründete Moscheegemeinde im oberbayerischen Penzberg hat durch ihre intensiven Kontakte zu allen Religionsgemeinschaften, Schulen und anderen Institutionen gezeigt, wie Integration aussehen kann. Sie ist zu einem Zentrum eines offenen, mit europäischen Wertmaßstäben kompatiblen Islam geworden, der nicht zu den Moscheeverbänden gehört. Benjamin Idriz selbst ist häufiger Gast bei interreligiösen Veranstaltungen und in Diskussionsforen.

Dabei gibt es keine Tabus. Die grundlegenden Fundamente der Religion können wir nicht in Frage stellen, aber Theologie ist nicht göttlich, sie ist menschlich. Diese von Menschen gemachte Theologie zu hinterfragen, ist nicht nur erlaubt sondern notwendig!

Sie sagen, wir brauchen eine Reform der islamischen Theologie, keine Reform des Islam. Warum dieser Unterschied?

Idriz: Für mich liegt das Problem nicht in der Religion, sondern in ihrer Auslegung, also in der Interpretation durch die Gelehrten. Aus der Perspektive eines Muslims aus dem 21. Jahrhundert in Deutschland sehe ich den Bedarf für eine kritische Debatte über die Meinungen von Gelehrten, die vor hundert, zweihundert oder tausend Jahren in einem völlig anderen Kontext gelebt haben. Es ist heute notwendig zu hinterfragen, inwieweit solche Meinungen noch gültig sind. Der Prophet Mohammed selbst hat das gefordert, als er – sinngemäß – sagte, alle hundert Jahre werde jemand kommen, der die Religion erneuert.

Erneuerung ist eine Forderung des Islam selbst?

Idriz: Erneuerung ist ein Begriff der islamischen Quellen. Ich sehe zwei Dimensionen der göttlichen Botschaft. Gott hat gesagt, was er sagen wollte, aber seine Botschaft ist damit nicht abgeschlossen. Die Offenbarung muss die Menschen weiter begleiten, d.h. der Koran ist da und wir müssen uns fragen: Wie kann ich mit diesen Texten Probleme von heute lösen?

Es stellen sich neue Fragen, die es im 7. Jahrhundert noch gar nicht gab. Wie geht man damit um? Der Islam hat nur eine Tür geöffnet. Vernunft ist das wichtigste Mittel, um den Text zu verstehen. Für mich gibt es einen zentralen Koranvers, der lautet: "Gott werde vor jenen Menschen Abscheu schaffen, die ihre Vernunft nicht gebrauchen." Gott verlangt ausdrücklich von uns, unsere Vernunft zu verwenden, denn ohne sie kann man die Texte nicht verstehen.

Muslim studiert den Koran; Foto: dpa/picture-alliance
Für eine zeitgemäße Lesart und Deutung des Korans: "Wenn Allahs Botschaft universell ist, dann können wir nicht mit den Interpretationen von vor 200 Jahren leben. Das wäre ahistorisch. Wir müssen den Gelehrten zwar ein Ohr schenken, aber in erster Linie der Vernunft. Denn die Gelehrten sind verstorben, die Vernunft ist da", meint Benjamin Idriz.

Was bedeutet das konkret? Bitte nennen Sie ein Beispiel.

Idriz: Fast alle Gelehrten haben Frauen grundsätzlich von der Pflicht zum Freitagsgebet ausgeschlossen. Aber Gott hat doch von allen Gläubigen verlangt, freitags am Gebet teilzunehmen. Erst später haben die Gelehrten Frauen aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen. Es gibt sogar Berichte, wonach Frauen während der Predigt häufig kritische Fragen gestellt haben. Einige Männer hat das so gestört, dass sie deswegen verfügten, Frauen sollten zuhause bleiben.

Nach meiner Interpretation muss eine Frau nur an bestimmten Tagen nicht beten. Sie kategorisch auszuschließen, wäre falsch. Da widerspreche ich den Gelehrten. Nicht Gott hat sie vom Gebet ausgeschlossen, sondern die Männer. Wir müssen eine Theologie hinterfragen, die diskriminiert und ausschließt.

In vielen Moscheen gibt es eine Zweiteilung in die "Welt des Islam" und die "Welt der Ungläubigen". Wie gehen Sie mit diesem Thema um?

Idriz: Die Kategorisierung der Welt in zwei Teile, "Dar al-harb" und "Dar al-islam", das "Haus des Krieges" und das "Haus des Islams", war im 12.-14. Jahrhundert vielleicht zeitgemäß. Heute, in einer globalen Welt, haben solche Begriffe keine Bedeutung mehr. Das ist auch ein Widerspruch zum Koran. Meine Intention ist, dass wir zum Koran zurückkehren. Die Überlieferungen zerstören unser Islamverständnis. Der Islam wurde durch zumindest einige dieser Überlieferungen deformiert. In manchen Punkten stehen die Aussagen der Gelehrten im Widerspruch zum Koran.

Heißt das, Sie verstehen den Koran nicht als wortwörtlich von Gott gegeben?

Idriz: Jeder Buchstabe ist göttlich. Die Botschaft ist an die Menschheit gesendet, aber Menschen müssen einen Zugang dazu haben. Diese Verbindung von Mensch und Text muss horizontal sein. Der Mensch muss sich von diesem Text ernähren, der eine heilende Botschaft enthält. Er soll die Menschen begleiten in all ihren Sorgen, Hoffnungen und Herausforderungen. Gott sagt, er habe den Koran nicht offenbart, um die Menschen unglücklich zu machen. Wenn Allahs Botschaft universell ist, dann können wir nicht mit den Interpretationen von vor 200 Jahren leben. Das wäre ahistorisch. Wir müssen den Gelehrten zwar ein Ohr schenken, aber in erster Linie der Vernunft. Denn die Gelehrten sind verstorben, die Vernunft ist da.

Was machen Sie dann mit Versen, die nicht mehr zeitgemäß sind. Also da, wo Männer den Frauen überlegen sein sollen oder zum Kampf gegen Ungläubige aufgerufen wird?

Idriz: Ich sehe keinen einzigen Vers, der störend ist. Das Problem ist, dass wir diese Verse nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Etwa die Verse, die zur Gewalt aufrufen wie: "Tötet die Ungläubigen, wo ihr sie antrefft". Vor diesem Satz und nach ihm stehen andere Verse, die diesen erst erklären. Auch der Satz "Ihr dürft nicht angreifen" steht in der Textpassage und ohne ihn könnte man den Koran falsch verstehen. Um dein Leben zu retten, ist die Verteidigung erlaubt, aber du darfst nicht angreifen. Das ist die Botschaft.

Wenn man die Aussagen in ihrem Textumfeld und in seinem historischen Kontext betrachtet, kann man sie verstehen?

Idriz: Es ist unmöglich, einen Koranvers ohne die "Asbab al-nusul", die "Gründe der Offenbarung", richtig zu verstehen. Das gilt vor allem für jene Verse, die als Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis, eine Person, einen Ort geoffenbart wurden. Sie können nicht überregional und für alle Zeiten gelten. Ein Vers, der besagt, die gläubigen Männer dürfen die Frauen des Propheten nicht heiraten, war nur für die Situation im 7. Jahrhundert gedacht. Es gibt solche Koranverse, die in einem bestimmten historischen Kontext geoffenbart wurden und für die heute kein Grund mehr existiert, um sie umzusetzen. Es sind Verse ohne eine tatsächliche Bedeutung für unsere Zeit.

Sie sind nicht nur Theologe sondern auch Praktiker. Wie beeinflusst das Ihre Theologie?

Idriz: Theologen schreiben schlaue Bücher, aber mit der Basis haben die meisten wenig zu tun. Ich versuche, mein theologisches Verständnis in die Praxis umzusetzen. Zum Beispiel beim Freitagsgebet. Es ist schön zu schreiben, dass Frauen genauso in der Pflicht stehen, am Freitag in der Moschee zu beten wie Männer. Aber bei uns in Penzberg wird das umgesetzt. Ob nur eine Frau kommt oder hundert – der Gebetsraum für Frauen ist nur für sie da. Selbst wenn der Gebetsraum für Männer voll sein sollte, dürfen die Männer nicht im oberen Teil beten. Seither steigt jeden Freitag die Zahl der betenden Frauen. Der Austausch zwischen Frauen und Männern ist etwas Normales geworden.

Hat die Gemeinde da mitgezogen?

Idriz: Am Anfang war es nicht einfach. Auch was die Predigten auf Deutsch betrifft. Einige fragten, warum wir nicht unsere Muttersprache pflegen. Aber ich predige aus theologischen Gründen auf Deutsch und nicht, um die Öffentlichkeit zufriedenzustellen. "Wir haben keinen Propheten gesandt außer in der Sprache des Volkes", heißt es im Koran. Wenn wir in Deutschland leben, dann muss diese Sprache Deutsch sein. Da Frauen wie Maria, die Mutter Jesu, oder die Frauen des Propheten Mohammed eine wichtige Rolle gespielt haben, dürfen Frauen in der Gemeinde nicht nur putzen oder kochen, sondern sie müssen im Vorstand und in der Administration, in der Öffentlichkeitsarbeit oder bei den Führungen in der Moschee sichtbar sein.

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2017

Die Dissertation von Benjamin Idriz zum Thema "Horizontale Aspekte im Islam" erscheint demnächst auf Deutsch.