"Eine Alternative zum Fundamentalismus"

Die US-amerikanische Religionssoziologin Helen Rose Ebaugh sieht in der Bewegung des umstrittenen türkischen Predigers Fethullah Gülen eine Chance für den Westen – und eine ernsthafte alternative zum religiösen Extremismus. Mit Helen Rose Ebaugh sprach Matthias Daum.

Helen Rose Ebaugh; Foto: University of Houston (www.uh.edu)
Dialogisch oder islamistisch?: Die Gülen-Bewegung "ist eine vom Islam inspirierte Bürgerbewegung. Sie ist weder politisch noch per se religiös", sagt Helen Rose Ebaugh.

​​ Wieso tut man sich im Westen so schwer mit der Gülen-Bewegung?

Helen Rose Ebaugh: Das hat viel mit einer allgemeinen Islamophobie nach 9/11 zu tun. Fundamentalistische Bewegungen beunruhigen die Leute sehr. Gleichzeitig weiß man wenig über sie. Das gilt auch für andere islamisch geprägte Bewegungen, wie etwa die Gülen-Bewegung.

Also klären Sie uns auf. Wie würden Sie die Gülen-Bewegung beschreiben?

Ebaugh: Es ist eine vom Islam inspirierte Bürgerbewegung. Sie ist weder politisch noch per se religiös. Ihre Ursprünge hat sie in der Türkei. In den turbulenten 1960er Jahren umwarben Kommunisten und Sozialisten die Jugend. Fethullah Gülen war darüber sehr beunruhigt. Er wollte der Jugend eine Alternative bieten.

In Europa gilt die Bewegung als konservativ. Ist sie das?

Ebaugh: Sie ist konservativ insofern, als Herrn Gülens Message lautet: "Wir müssen die Jugend erziehen." Er sagt, gute Muslime könnten gleichzeitig die besten Doktoren, Lehrer oder Forscher sein.

Welches Menschenbild vertritt Fethullah Gülen?

Ebaugh: Der gute Mensch sollte gebildet sein, moralisch-ethische Werte vertreten, eine Beziehung zu Gott haben und soziale Verantwortung übernehmen. Den Mitmenschen zu helfen, ist oberstes Gebot. Alle Gülen-Anhänger spenden. Zu verstehen ist die Spendenbereitschaft nur vor dem Hintergrund der osmanischen Kultur.

Was in der Kritik steht, ist die Intransparenz der Bewegung…

​​ Ebaugh: Es gibt keine Hierarchie, nur einige Meinungsführer, um die sich Anhänger gruppieren. Für die Bewegung selbst ist das kein Problem, sondern eine Stärke. Die Leute sind die Bewegung. Als ich für mein Buch "The Gulen Movement" recherchierte, zeigte man sich mir gegenüber allerdings sehr offen. Ich bekam in vielen Gülen-Institutionen Einblick in Budgets und Buchhaltungen. Es ist nicht mangelnde Transparenz, woran man sich stört, sondern fehlende Bürokratie. Man kann kein Organigramm zeichnen. Niemand ist verantwortlich, weil alle verantwortlich sind.

Also fehlt es an Ansprechpartnern?

Ebaugh: Ja, aber diese sehr horizontale Organisation hat auch Vorteile. So ist etwa der Aufbau von Schulen immer eine lokale Angelegenheit. Eine Bürokratie existiert nur in den Institutionen selbst. Zum Beispiel beim TV-Sender Samanyolu, bei der Zeitung "Zaman", die beide der Regierung von Recep Tayyip Erdogan nahestehen, oder dem Hilfswerk "Kimse Yok Mu".

Wie steht es um die Dialogbereitschaft gegenüber anderen Religionen?

Ebaugh: Es ist eine der Bewegungen, die am stärksten den Dialog zwischen abrahamitischen Weltreligionen fördert.

Aber inwieweit ist sie bereit, Konzessionen zu machen? Etwa bei der Gleichberechtigung der Frauen?

Ebaugh: Das ist ein Problem. Man sieht nicht viele Frauen in öffentlichen Positionen der Bewegung. Ich glaube aber, dass sich dies ändern wird.

Heiß diskutiert wird in Europa hierbei auch die Kopftuch-Frage. Wie steht die Gülen-Bewegung dazu?

Ebaugh: (lacht) Deshalb lieben es Türken, in den USA zu sein. Hier kümmert sich niemand um das Kopftuch. Ich weiß auch nicht, was an dieser Frage dran ist.

Trotzdem, die Frage wird diskutiert.

Ebaugh: Also, Herr Gülen selber sagt dazu: Wenn es darum gehe, sich zwischen dem Kopftuch und einer guten Bildung zu entscheiden, dann entscheide dich für die Bildung.

Eine sehr pragmatische Sicht.

Ebaugh: Genau. Denn für die Gülen-Bewegung sind andere Fragen wie die Trennung von Religion und Staat in der Türkei wichtiger.

Fethullah Gülen; Foto: AP
Die Vorwürfe der Kritik reichen von Nationalismus und Islamismus bis zu einem "verwässerten" Islam. Fakt ist: Gülen ist schwer krank. Sein Ableben würde die Bewegung aber nicht schwächen, denn "sie ist viel zu stark. Darin unterscheidet sie sich von einer Sekte oder einer Kommune", meint Ebaugh.

​​ Wie sollte denn Ihres Erachtens der Westen mit der Gülen-Bewegung umgehen?

Ebaugh: Ich halte mich da an die ehemaligen US-Außenminister James Baker und Madeleine Albright oder den Ex-CIA-Mann Graham Fuller. Sie sagen: Wir müssen solche Bewegungen unterstützen, denn sie sind eine Alternative zum Fundamentalismus. Jüngst sah ich Daten aus der Südosttürkei, die zeigten, dass Gülen-Schüler wohl auch dank ihrer guten Ausbildung nicht der PKK zulaufen.

Man hört, dass Fethullah Gülen sehr krank sei. Was wird mit der Bewegung nach seinem Tod passieren?

Ebaugh: Nichts. Die Bewegung ist viel zu stark. Darin unterscheidet sie sich von einer Sekte oder einer Kommune.

Interview: Matthias Daum

© Neue Züricher Zeitung 2010

Helen Rose Ebaugh lehrt Religionssoziologie an der University of Houston in Texas. Sie ist Autorin des Buchs "The Gulen Movement: A Sociological Analysis of a Civic Movement Rooted in Moderate Islam". Springer Verlag Niederlande, Houston 2009.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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