Tanger – vom mythischen Glanz einer Stadt

Auf westliche Besucher üben viele arabische Urlaubsziele oft einen unwiderstehlichen Reiz von Exotik und Ursprünglichkeit aus. Alfred Hackensberger hat sich mit dem Schweizer Autor und Übersetzer Florian Vetsch über Orientklischees und über sein neues Buch "Tanger Trance" unterhalten.

Auf westliche Besucher üben viele arabische Urlaubsziele oft einen unwiderstehlichen Reiz von Exotik und Ursprünglichkeit aus – märchenhafte Welten aus 1001 Nacht. Alfred Hackensberger hat sich mit dem Schweizer Autor und Übersetzer Florian Vetsch über Orientklischees und über sein neues Buch "Tanger Trance" unterhalten.

​​ Beim Reisen spielt die Erfahrung des Unbekannten, des Fremden eine wichtige Rolle. Was ist daran so faszinierend?

Florian Vetsch: Weil es anders ist und anders sein und bleiben soll. Weil es unseren Horizont erweitert, uns über uns selbst hinausträgt. Nur durch die Erfahrung des Fremden begreifen wir überhaupt erst das Eigene. Wie will jemand, der nie etwas Fremdes erfahren hat, das Eigene kennen? Erst wer draußen war, weiß doch, was es heißt, drinnen zu sein. Wer nur drinnen bleibt, weiß nicht, was es heißt, drinnen zu sein.

Ich, das Eigene, das Andere – das sind westliche Begriffe, Kategorien. Hat man damit nicht die Schublade im Kopf?

Vetsch: Wir alle bringen eine Geschichte mit: einen Habitus, Vorprägungen, Strukturen, Codes, die zum Teil seit unserer Kindheit und Jugend in unseren Köpfen sind – kulturell, sozial oder familiär bedingte Vorurteile. Sie sind nicht per se schlecht. Sie dienen uns zur ersten Orientierung. Gefährlich werden sie, wo wir sie uns nicht als solche bewusst machen, wo sie im Unaufgeklärten bleiben. Man selbst – und vor allem andere – können dann leicht zu ihrem Opfer werden. In Bezug auf das Fremde heißt das, dass es schnell und leichtfertig verklärt oder aber verdammt wird.

Ein Stück Exotik scheint also das Fremde attraktiver machen…

Vetsch: Ja, man begreift ein Reiseziel wohl als exotisch, wenn es außerhalb des eigenen Gesichtskreises liegt, außerhalb des eigenen kulturellen Horizonts. Dann bringt es aus sich selbst einen genügend hohen Grad an Fremdartigkeit mit, um diese Bezeichnung generieren zu können.

Blick auf die Altstadt von Tanger; Foto: dpa
"Meeting Point" der Beatgeneration: Die Hafenstadt Tanger war in den Zeiten der Interzone von 1923-1956 Anziehungspunkt für zahlreiche Grenzgänger - Literaten, Bohemiens und Musiker aus dem In- und Ausland.

​​Geht es nicht hauptsächlich um Klischees? Menschen "im Süden" gelten als warmherziger, offener oder auch lebendiger.

Vetsch: Gewiss verfällt man leicht diesen Klischees! Es ist alles durchwebt von Täuschung. Vor ihr sind wir nie wirklich gefeit. Die totale Objektivität existiert nicht. Aber die Konfrontation mit der Wirklichkeit hilft, falsche Bilder zu korrigieren.

Egal, ob Pauschaltourist, Abenteurer oder Intellektueller – zuhause wird über seine Erfahrungen berichtet. Man kategorisiert, ordnet das fremde Land mit seinen Menschen und seiner Kultur ein. Was ist das für ein Prozess?

Vetsch: Ich glaube, dass das ein vielschichtiger, komplexer und ein äußerst individueller Prozess ist. Natürlich hat, wer eine Reise macht, viel zu erzählen. Und das ist auch gut so, das Erzählen hilft, den Prozess des Verstehens dessen, was mit einem durch die Erfahrung des Fremden passiert ist, in Gang zu halten. Da man sich beim Erzählen an andere richtet, hilft es auch, die eigenen Erfahrungen anhand der Erfahrungen anderer zu überprüfen bzw. ihre Subjektivität aufzudecken. Denn das Kategorisieren und Einordnen des Fremden ist zwar unvermeidbar, aber es sollte mit einer gewissen reservatio mentalis betrieben werden. Die Einordnungen sollten offene, korrigier- und erweiterbare Konzepte bleiben.

Kann man denn überhaupt andere Kulturen hundertprozentig verstehen und ist das wünschenswert?

Vetsch: Man kann wohl nie genug über andere Kulturen wissen, nie genug über sie in Erfahrung bringen. Einen Satz aber, wie "ich verstehe den Islam" oder "ich verstehe die marokkanische Kultur" würde ich selbst nie zum Besten geben. Schon zu behaupten, man würde die eigene Kultur verstehen, finde ich recht anmaßend. Meines Erachtens handelt es sich um ein Eindringen, um eine ständige Vertiefung, um unabschließbare Prozesse.

Wie wichtig ist Ihnen persönlich das Reisen, das "Unterwegs-Sein"

Vetsch: Das Unterwegs-Sein bedeutet mir viel, das äußere wie das innere. Lesen ist zum Beispiel eine Form inneren Reisens. Ich bin ein mentaler Nomade. Den Satz von Rimbaud: "Ich ist ein Anderer", den würde ich glatt unterschreiben. Wenn man länger nicht mehr gereist ist, dann gibt es, wenn man z.B. endlich im Zug oder im Flugzeug sitzt, dieses Gefühl der sich lösenden Verkrustungen, der Verpflichtungen, die von einem abfallen. Das schätze ich sehr.

Florian Vetsch; Foto: wikipedia
Dr. Florian Vetsch ist Übersetzer und Herausgeber US-amerikanischer und deutscher Beatliteratur. Zuletzt erschien "Tanger Telegramm. Reise durch die Literaturen einer legendären marokkanischen Stadt".

​​Sie fahren seit mehr als 20 Jahren nach Marokko, insbesondere nach Tanger, das seit der Zeit der Internationalen Zone (1923-56) einen legendären Ruf hat. Was ist heute an dieser Stadt noch so faszinierend?

Vetsch: In der Zeit, als Tanger noch Internationale Zone war, kamen viele aus finanziellen Gründen, denn das Leben dort war für Leute aus dem Westen außerordentlich günstig. Andere zog die Libertinage an: die Stadt als Mekka für sexuellen Nonkonformismus und als Drogenumschlagplatz. Hinzu kam ein angenehm mildes, warmes Klima, auch während der Sommermonate. Ich kam 1993 zum ersten Mal nach Tanger, um dort den inzwischen leider gestorbenen US-amerikanischen Schriftsteller Paul Bowles zu besuchen. Ich arbeitete an der deutschen Übersetzung seiner Gedichte.

Auf die Frage nach dem Faszinierenden von Tanger könnte ich mit einer Bemerkung aus Bowles' Autobiografie "Without Stopping" antworten: Tanger ist eine magische Stadt, deren Asphalt mythisch aufgeladen ist, vergleichbar vielleicht mit dem antiken Athen oder Alexandria, mit Paris oder New York.

Erzählungen, mit denen der Mythos verstärkt und überlagert wurde. Wird die Idee einer Stadt durch einen kollektiven Prozess immer wieder neu erfunden?

Vetsch: Genau, das sind Schichten über Schichten. So entsteht eine Textur, und alle weben irgendwie an dieser weiter, verzerren diese oder jene Ecke des großen Gewebes, fügen dort etwas hinzu, nehmen hier etwas weg, drehen es um.

Welchen Beitrag liefert Ihr neues Buch "Tanger Trance" zum Mythos der marokkanischen Hafenstadt?

Vetsch: Die Trance hat mit den erwähnten Vibrationen zu tun, mit der mythischen Substanz. Thematisch hat Trance mit Drogen, Musik, Erotik, Poesie zu tun. Das Buch enthält etwa 60 Texte, lauter kurze Texte: "points in time", wie Abdelwahab Meddeb in seinem Vorwort anspielungsreich bemerkt, also kurze Notate, Gelegenheits- und Widmungsgedichte, Haikus, Anekdoten, Erinnerungen, Aphorismen, Porträts…

Eine literarische Erweiterung Ihres Buches "Tanger Telegramm"?

Vetsch: Ja, das war eine 350 Seiten umfassende Anthologie, mit Texten von 60 verschiedenen Autoren über die Stadt im Norden Marokkos. In "Tanger Trance" arbeite ich aus einer ganz anderen Perspektive, mache kurze literarische "Spots und Shots", mache Poesie und schlage ein Kaleidoskop eigener Memoiren auf.

Interview: Alfred Hackensberger

© Qantara.de 2011

"Tanger Trance", mit Fotografien von Amsel und Texten von Florian Vetsch (deutsch, englisch, französisch, arabisch), 240 Seiten, 98 farbige Abbildungen, Benteli-Verlags-GmbH 2010

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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