Sprache als Schlüssel zur Integration

Der türkische Generalkonsul in Düsseldorf, Fırat Sunel, ist der Ansicht, dass eine aktive Beteiligung der türkischstämmigen Menschen am gesellschaftlichen und politischen Leben in Deutschland nur durch bessere Bildungschancen möglich ist. Mit ihm hat sich Hülya Sancak unterhalten.

Porträtbild des Konsuls Fırat Sunel; Foto: privat
Fırat Sunel: "Jugendliche mit Migrationshintergrund gehören der Gesellschaft genauso an wie Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Deswegen müssen alle die gleichen Bildungschancen haben können."

​​Herr Sunel, worauf beruhen die Probleme der Migranten in Deutschland?

Fırat Sunel: Die Probleme der Migranten haben eigentlich mit mangelnder Integration zu tun. Für die erste Generation, die nach Deutschland kam, war Deutschland nicht ein endgültiges Bleibeziel.

Ihre Bereitschaft zur Integration blieb deshalb begrenzt. Die deutschen Behörden hatten zu jener Zeit eine ähnliche Auffassung und deshalb versäumten sie es, effektive Programme zur Förderung der Integration einzusetzen.

Die Migranten der ersten Generation haben erst mit der Geburt ihrer Enkelkinder in Deutschland verstanden, dass sie endgültig in Deutschland bleiben und nicht zurückkehren würden. Die Idee der Integration konnte sich deshalb erst in der zweiten Hälfte der über fünfzigjährigen Migrationsgeschichte durchsetzen.

Für die neuen Generationen jedoch, die wir die dritte und spätere Generation nennen, können wir sagen, dass das Thema der Integration wiederum auf einer ganz anderen Ebene stattfindet. In Deutschland wurde bereits eine wichtige Etappe in der Integration zurückgelegt. Allerdings liegen noch viele Probleme vor uns, an deren Lösungen noch zu arbeiten ist.

Worin sehen Sie also das Hauptproblem?

Sunel: Als erstes steht für mich das Problem der Bildung. Mit diesem Problem wird man nämlich schon in der Kindheit konfrontiert und die hinderlichen Auswirkungen von fehlender Bildung bleiben ein Leben lang bestehen. Ebenso ist die Arbeitslosigkeit ein großes Problem; insbesondere die hohe Arbeitslosenquote der jungen Generation ist auf das Problem der Bildung zurückzuführen.

Sehen Sie diese Probleme nur bei den Türken oder generell bei allen Migrantengruppen?

Sunel: Egal, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet: Diese Schwierigkeiten sind allen Migranten in Deutschland gemein. Deshalb ist es nicht richtig, diese Probleme nur mit der in Deutschland lebenden türkischen Bevölkerung zu identifizieren.

Da die türkische Bevölkerung in Deutschland die größte Migrantengruppe darstellt, kann man generell die Probleme der Migranten als die Probleme der türkischen Gesellschaft verstehen. Dies bedeutet aber nicht, dass die türkische Gruppe allein diese Probleme hat.

Türkische Zuwanderer schwenken deutsche und türkische Fahnen, Foto: dpa
Integration als zweigleisiger Prozess: Sowohl der Staat als auch die zu integrierenden türkischen Migranten müssen Verantwortung und Pflichten wahrnehmen, meint Fırat Sunel.

​​Im Gegensatz zu den allgemeinen Behauptungen denke ich, dass sich die türkische Gesellschaft in Deutschland erkennbar um die Integration bemüht und ihrer diesbezüglichen Verantwortung zunehmend bewusst wird und diese erfüllt. Um das zu beschleunigen, müssen wir unsere gemeinsame Arbeit mit konkreten Handlungen verdeutlichen - dabei muss jeder eine Aufgabe übernehmen.

Beeinträchtigen diese Bildungsprobleme denn auch das soziale Umfeld?

Sunel: Ja, die Bildungsprobleme verhindern, dass die Menschen sich im sozialen und politischen Leben integrieren. Die Zahl der türkischen Jugendlichen an den Universitäten ist zwar nicht gering, aber sie reicht immer noch nicht aus.

Bildung ist die Basis für Erfolg. Die aktive Beteiligung der türkischstämmigen Menschen am gesellschaftlichen und auch politischen Leben ist nur durch eine bessere Bildung möglich. Es ist gewiss positiv, dass sich die türkische Community inzwischen über die Bildungsthematik Gedanken macht über und an einer Verbesserung arbeitet.

Ich möchte hier betonen, dass der Integrationsprozess ein zweigleisiger Weg ist. Auf diesem Weg haben beide Seiten, sowohl der Staat als auch der zu integrierende Bevölkerungsanteil, wichtige Verantwortungen und Pflichten wahrzunehmen. Ich sehe mit Freude, dass das Integrationsthema in Nordrhein-Westfalen ernst genommen und viel dazu beigetragen wird.

Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund gehören der Gesellschaft genauso an wie Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Deswegen müssen alle die gleichen Bildungsmöglichkeiten haben können. Außerdem denke ich, dass Programme, die die Begabungen und nicht die Schwächen der Schüler hervorheben, sehr nützlich sind.

Gibt es Ihrer Meinung nach Chancengleicheit in der Bildung?

Sunel: Ich denke, um eine echte Chancengleichheit zu erreichen, müssen noch einige Schritte unternommen werden. Aufgrund der frühen Aufteilung im dreigliedrigen Schulsystem werden die Migrantenkinder meistens benachteiligt, da ihre Probleme in der Schule meist durch eine mangelnde Beherrschung der deutschen Sprache entstehen. Das erschwert natürlich die Chancengleichheit in der Bildung.

Muss man hier also gezielt die deutsche Sprache fördern?

Sunel: Der wichtigste Punkt ist hier, dass die Kinder die Sprache sehr gut lernen und eine zielgerichtete Förderung stattfindet. Eine souveräne Beherrschung des Deutschen ist die grundlegende Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration.

Türkischlehrer während einer Unterrichtsstunde mit türkischen Jugendlichen; Foto: dpa
Für eine bessere Integration von Kindern mit Migrationshintergrund in der Schule haben sich nicht nur in Deutschland führende Politiker, sondern auch die für Bildung zuständigen EU-Minister ausgesprochen.

​​Ohne gute Sprachkenntnisse wird man weder in der Schule, noch in der Berufsausbildung oder im Arbeitsleben Erfolg haben können. Die Sprache des Landes zu beherrschen, ist der Schlüssel des Erfolges. Hierfür stehen neben dem Staat auch die Familien in Verantwortung.

Im Rahmen des in Nordrhein-Westfalen geltenden Integrationsplans wird Kindern ab vier Jahren die deutsche Sprache beigebracht. Das finde ich gut. Solche Maßnahmen muss man auch mit weiteren konkreten Schritten unterstützen.

Was können die türkischen Mitbürger konkret tun, um ihre Sprachprobleme zu lösen?

Sunel: Um eine Fremdsprache lernen zu können, muss man die eigene Muttersprache sehr gut beherrschen. Ich denke, dass die Sprachprobleme der türkischen Kinder und Heranwachsenden an den deutschen Schulen mit der mangelnden Beherrschung der Muttersprache verbunden sind.

Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Kinder, die ihre Muttersprache gut beherrschen, eine fremde Sprache viel einfacher und schneller lernen. Deshalb darf man die beiden Sprachen Türkisch und Deutsch nicht als Konkurrenz oder Alternative gegeneinander stellen, sondern als sich gegenseitig ergänzende Bestandteile für einen richtigen Spracherwerb anerkennen und beide gleichsam fördern.

Sprache stellt auch einen kulturellen Reichtum dar. Nach einer Studie der Universität Würzburg weinen Babys mit unterschiedlichen Sprachen auch unterschiedlich, nämlich in ihrer Muttersprache.

Der Mensch baut sein Wissen und das, was er später lernt, stets auf seiner Muttersprache auf. Daher denke ich, dass die Behörden sich neben der Förderung der deutschen Sprache auch vermehrt auf die Muttersprache konzentrieren sollten. Wir als Generalkonsulat sind bereit, solche Bestrebungen zu unterstützen.

In Deutschland neigen Medien und Politik dazu, bei negativen Berichten über den Islam die Türken als Zielscheibe zu wählen, da sie die größte Gruppe der hier lebenden Muslime sind. Wie kann man das verhindern?

Sunel: Nach dem 11. September ist die Diskriminierung von Muslimen an vielen Orten der Welt zu einem chronischen Problem geworden. Um diese krankhafte Einstellung, die den gesellschaftlichen Frieden stört, zu bekämpfen, muss man vor allem gegen Diskriminierung und Vorurteile gegenüber Muslimen offen und direkt vorgehen. Hier haben die Medien und Politiker eine große Verantwortung.

Die Intoleranz nicht nur gegenüber dem Islam, sondern gegen egal welche Religion, ist in einer modernen Welt nicht akzeptabel. Extremistische Handlungen unter den Angehörigen einer Religion kann man nicht auf alle anderen projizieren. Diese Tatsachen zu übersehen und provozierende Äußerungen zu tätigen, gefährdet den gesellschaftlichen Frieden.

Welche Aufgabe kommt den Medien zu, um das negative Türkenbild in der öffentlichen Meinung zu korrigieren?

Sunel: Genauso wie es "gute und schlechte Deutsche" geben kann, kann es auch "gute und schlechte Türken" geben. Natürlich gibt es gewisse Kreise, die den Türken mit Vorurteilen begegnen. Aber es ist nicht richtig, dies zu pauschalisieren und der ganzen deutschen Gesellschaft zu unterstellen.

Maria Böhmer präsentiert neue Motive für Nationalen Integrationsplan; Foto: AP
Nach Auffassung der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Maria Böhmer, sei mit dem Nationalen Integrationsplan, den Integrationsgipfeln und der Deutschen Islamkonferenz ein neuer Rahmen für ein besseres Zusammenleben geschaffen worden.

​​Es gibt Leute, die nicht sehen wollen, dass Unterschiede auch eine Bereicherung für die Gesellschaft sein können. Man muss die Menschen einer Gemeinschaft als Individuen sehen und nicht auf ihre ethnische Herkunft und ihre Religion reduzieren.

Die Herkunft eines Kriminellen, ob deutsch- oder türkischstämmig, ist im Grunde belanglos. Es ist zu erkennen, dass die Art der Berichterstattung über solche Kriminalfälle auf die Bestätigung von Vorurteilen angelegt ist. Hier müssen die Medien sensibler mit dem Thema umgehen.

Haben Sie selbst als Person mit Migrationshintergrund beobachtet, dass es unter Deutschtürken so etwas wie Zugehörigkeitsprobleme gibt?

Sunel: Obwohl dies nicht so ausgeprägt ist wie früher, kann man nicht leugnen, dass die Deutschtürken Zugehörigkeitsprobleme haben. Deutschtürken, die in Deutschland geboren und aufwachsen sind und sich hier heimisch fühlen, werden von bestimmten Gesellschaftsteilen noch immer noch als "Ausländer" betrachtet.

Ich beobachte besonders unter Jugendlichen mit Bildungsproblemen ernsthafte Zugehörigkeitsprobleme. Diese Jugendlichen, die weder die deutsche Sprache noch ihre Muttersprache beherrschen, haben meist ein mangelndes Selbstvertrauen. Dagegen gibt es gut ausgebildete Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft haben und solche Probleme nicht kennen.

Meine beiden Brüder leben seit langem in Deutschland, einer von ihnen ist deutscher Staatsangehöriger. Beide sind erfolgreiche Geschäftsmänner, die solche Probleme nicht haben und Zehntausenden Deutschtürken geht es genauso.

Ich denke, dass türkischstämmige Politiker in hohen Ämtern ein großes Vorbild für Jugendliche sind. Immer häufiger sieht man im Fernsehen auch türkischstämmige Moderatoren, Schauspieler, Standup-Comedians und andere Künstler - auch sie sind Vorbilder.

Um den türkischen Jugendlichen ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln, muss man ihnen das Gefühl geben und beteuern, dass sie ein Bestandteil dieser Gesellschaft sind und hierhin gehören.

Interview: Hülya Sancak

© Qantara.de 2009

Fırat Sunel studierte Jura in Bochum. Seine bisherigen Stationen in seiner diplomatischen Karriere waren Essen und Bonn. Zuletzt war er Erster Botschaftssekretär in der georgischen Hauptstadt Tiflis.

Qantara.de

Kommentar zur Studie "Ungenutzte Potenziale"
Integration ist keine Einbahnstraße
Die Studie "Ungenutzte Potenziale" des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung sorgt in letzter Zeit mitunter für Unmut. In ihrem Kommentar kritisiert die Soziologin und Migrationsexpertin Soraya Moket insbesondere die Annahme von einer "Homogenität der Ethnien".

Interview mit Armin Laschet
"Wir brauchen eine Dritte Deutsche Einheit!"
Armin Laschet, Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, äußert sich im Gespräch mit Eren Güvercin über den Wandel der Einwanderungsgesellschaft und die bis heute fehlenden Aufstiegschancen von Migranten in Deutschland.

Dossier
Migration in Deutschland
In Deutschland, das sich in den vergangenen Jahrzehnten zum Einwanderungsland entwickelt hat, zählen türkische Migranten heute zur größten Einwanderungsgruppe. In unserem Dossier wollen wir ihre Geschichte, Integration und verschiedenen kulturellen Lebensformen beleuchten