"Es gibt keine gesicherten Daten über Zwangsehen"

Die türkischstämmige Rechtsanwältin Filiz Sütcü hat sich wissenschaftlich mit dem Thema Zwangsheirat und arrangierte Ehen beschäftigt. Im Interview mit Claudia Mende stellt sie die reißerische Art der Mediendebatte in Frage und meint, dass es in der Diskussion nicht um die Betroffenen ging.

Türkisches Brautmodengeschäft in Duisburg-Marxloh; Foto: dpa
Türkisches Brautmodengeschäft in Duisburg: "Wer hier geboren ist, hat andere Vorstellungen über das Leben als jemand, der in der Türkei aufgewachsen ist. Wenn Eltern eine Ehe zwischen diesen zwei Menschen arrangieren, ist das in der Konstellation fast immer zum Scheitern verurteilt", sagt Sütcü.

​​ Frau Sütcü, Sie haben in Ihrer Doktorarbeit untersucht, wie man eine arrangierte Ehe von einer Zwangsverheiratung unterscheiden kann. Ist das möglich?

Filiz Sütcü: Eine arrangierte Ehe kann unter bestimmten Umständen eine Zwangsverheiratung sein, die aber als solche von außen nicht erkennbar ist. Auch bei einer Zwangsverheiratung "initiieren" Eltern die Eheschließung und wählen die Partner aus. Wenn eine 14, 15-jährige Tochter von den Eltern mit einem Cousin aus der Heimat verheiratet werden soll, dann kann man kaum von einer arrangierten Ehe ohne Zwang ausgehen. Die Mädchen sind so erzogen, dass sie nicht gegen ihre Eltern opponieren dürfen, deshalb gibt es für sie kein richtiges "Nein" in dieser Situation.

Einfach weil arrangierte Ehen so selbstverständlich sind?

Sütcü: Viele meiner Mandantinnen haben in eine arrangierte Ehe geheiratet, die dann später zur Zwangsehe wurde. Sie haben das in der Regel nicht hinterfragt. Auch die Männer nicht. "Bei uns geht das nicht anders," lautet die gängige Antwort. Sie sehen für sich zunächst keine andere Möglichkeit. Dazu kommt, dass Frauen in der Regel keine vorehelichen Erfahrungen machen dürfen. Sexualität darf nur in der Ehe gelebt werden. Aus dieser Situation heraus befürworten junge Frauen oft durchaus die Eheschließung, weil sie nur so eine Möglichkeit sehen, sich außerhalb des Elternhauses zu entfalten.

Die arrangierte Ehe als Flucht...

Sütcü: Sie stellen gar nicht in Frage, dass sie möglicherweise von einem "Gefängnis", dem strengen Elternhaus, ins nächste "Gefängnis" geraten. Erst in der Ehe stellen sie dann fest, das ist ja noch schlimmer. Türken sind zwar nicht die einzigen, die diese Praxis betreiben, aber ich habe meine Arbeit auf die türkische Bevölkerung fokussiert, weil ich selbst Anwältin mit türkischem Migrationshintergrund bin.

Grabstein von Ehrenmord-Opfer Hatun Sürücü; Foto: dpa
Ehrenmord-Opfer Hatun Sürücü: "Ein eigener Straftatbestand gegen Zwangsheirat hätte zwar eine plakative Signalwirkung, ich bezweifele aber, dass er den Frauen helfen würde", meint Sütcü.

​​ Wann wird aus einer arrangierten Ehe eine Zwangsehe?

Sütcü: Wenn die Betroffenen feststellen, das war es nicht. Wenn dann noch ein Partner aus der Heimat kommt, der andere aus Deutschland oder Westeuropa, dann prallen zwei Welten aufeinander. Eine Scheidung stellt für eine Frau aus einer traditionellen Gesellschaft dann ein Riesenproblem dar. Da die Ehe von den Eltern vermittelt wurde, machen die ordentlich Druck. Wenn es zu Gewalt kommt, beschwichtigen sie: "Ach, das kann schon mal vorkommen".

Nehmen arrangierte Ehen in der Fremde zu?

Sütcü: Es gibt keine gesicherten Daten zu diesem Phänomen. Wir reden seit Jahren ohne klare Datenlage über arrangierte Ehen und Zwangsehen. Es hat doch jahrelang keinen interessiert, wie die erste Generation von Gastarbeitern verheiratet ist! Ich vertrete viele Mandanten aus der ersten und zweiten Generation, die jetzt im Rentenalter sind und Probleme mit ihren Rentenverfahren habe. Nahezu hundert Prozent dieser Menschen haben arrangiert geheiratet. Die klassische Gastarbeitergeneration kommt aus ländlich geprägten, armen Regionen der Türkei. Zum Teil haben sie gerade mal eine Grundschulbildung, einige meiner Mandantinnen sind Analphabetinnen. Sie haben so geheiratet, weil es in ihrer Heimat so üblich ist und ihre Tradition nach Deutschland importiert.

Wie hat sich das Heiratsverhalten dann hier weiter entwickelt?

Sütcü: Tendenziell hält diese Generation auch in Deutschland starr an ihren alten Traditionen fest, die sie an die nächste Generation weiter gibt. Ähnlich ist es bei der Binnenmigration innerhalb der Türkei. Wer aus den ländlichen Regionen nach Istanbul zieht, bewegt sich auch dort mit seinen Traditionen am liebsten unter Seinesgleichen.

Hat sich denn gar nichts verändert?

Symbolbild Deutschkurs; Foto: dpa
Die Verpflichtung zum Sprachkurs vor der Einreise nach Deutschland findet Sütcü sinnvoll: "Man kann erreichen, dass diese Frauen das Leben in Deutschland nicht ganz so blauäugig angehen", sagt sie.

​​ Sütcü: Wenigstens reden wir jetzt darüber. Es sind einige schreckliche Dinge passiert, Frauen wurden von Vätern oder Brüdern ermordet. Das hat die Diskussion ab 2004/5 so richtig entflammt. Meine These lautet, dass man auch arrangierte Ehen kritisch betrachten muss. Wer hier geboren ist, hat andere Vorstellungen über das Leben als jemand, der in der Türkei aufgewachsen ist. Wenn Eltern eine Ehe zwischen diesen zwei Menschen arrangieren, ist das in der Konstellation fast immer zum Scheitern verurteilt. Dann bekomme ich diese Fälle in die Praxis, weil es zu Gewalttätigkeit kommt.

Was ist für Frauen besonders schwierig, wenn sie die Scheidung wollen?

Sütcü: Wenn sie im Rahmen des Ehegattennachzugs nach Deutschland gekommen sind und jetzt etwa seit sieben bis acht Jahren hier leben, dann können sie in der Regel die Sprache nicht und sind finanziell von ihrem Ehemann abhängig. Sie haben meist Kinder, keinen eigenen Beruf, verfügen nur über eine geringe Schulbildung, weil sie früh verheiratet wurden und stehen unter großem familiären Druck. Sehr viele dieser sogenannten Importbräute leben mit Ehemann und Schwiegereltern und einem Dach, während ihre eigene Herkunftsfamilie in der Regel in der Türkei bleibt.

Inzwischen sind Sprachkenntnisse vor der Einreise nach Deutschland gefordert. Wird das Zwangsehen verhindern?

Sütcü: Trotz aller Kritik von Migrantenvereinen finde ich die Verpflichtung zum Sprachkurs vor der Einreise nach Deutschland gut für die Horizonterweiterung, auch wenn der Kurs keine Zwangsverheiratung verhindern kann. Man kann aber erreichen, dass diese Frauen das Leben in Deutschland nicht ganz so blauäugig angehen.

Brauchen wir einen Straftatbestand gegen Zwangsehen?

Seyran Ates; Foto: dpa
"Necla Kelek und Seyran Ates haben monokausal fast alles, was in türkischen Familien falsch läuft, auf den Islam zurück geführt. Das entspricht nicht in jedem Fall der Wahrheit", kritisiert Sütcü.

​​ Sütcü: Nötigung und Körperverletzung, auch der besonders schwere Fall der Nötigung, in den 2005 die Zwangsehe extra mit aufgenommen wurde, gelten heute als Straftatbestände. Ein eigener Straftatbestand hätte zwar eine plakative Signalwirkung, ich bezweifele aber, dass er den Frauen helfen würde. Wenn sie die Kraft hätten, sich gegen die Familie aufzulehnen, würde es in den meisten Fällen ohnehin nicht zur Zwangsverheiratung kommen. Wenn ich sehe, wie lange es dauert, bis sich Frauen aus solchen Zwangsehen lösen, dann glaube ich nicht, dass solch ein Paragraph ihnen helfen wird.

Heißt das, wenn die Mädchen nur deutlich genug "nein" sagen, dann kommt es nicht zur Zwangsverheiratung?

Sütcü: Solche Fälle gibt es. Wir denken da zu eindimensional. Es ist nicht so, als müsste eine Tochter jedes Mal um ihr Leben bangen, wenn sie ein Nein ausspricht. Ich kenne Eltern, die ein Nein akzeptiert haben. Aber wenn das Mädchen ein, zwei, dreimal nein gesagt hat, muss sie irgendwann mal zustimmen.

Wie ist die Rechtslage in der Türkei?

Sütcü: Sie ist durchaus vergleichbar mit der rechtlichen Situation in Deutschland. Es gibt zwar keinen eigenen Straftatbestand, aber in der Türkei existiert seit der Republikgründung durch Atatürk ein Rechtssystem, das westeuropäischen Standards entspricht. Das Strafgesetzbuch wurde größtenteils dem italienischen Strafgesetzbuch entnommen. Für die Türkei stellt sich eher die Frage, wie die Rechtssprechung mit diesen Gesetzen umgeht. Die Staatsanwälte behandeln sogenannte Ehrenmorde, je nachdem wie sie selbst "ticken". Es gibt Tendenzen, bei der Beurteilung der Täter Milde walten zu lassen. Zum Beispiel, wenn eine Höchststrafe von lebenslänglich vorgesehen ist und der Täter trotzdem nur fünf Jahre bekommt, weil er wegen seiner "Ehre" angeblich so handeln musste. Im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei muss sich noch vieles im Zusammenhang mit den Frauenrechten tun. Das geht aber nicht allein über Gesetze. Die Frage ist doch, wie können wir einen Gesinnungswandel in der Bevölkerung schaffen?

Was hat die Diskussion über Zwangsehen und Ehrenmorde bisher erreicht?

Filiz Sütcü; Foto: http://www.ra-sütcü.de/
"Wir reden seit Jahren ohne klare Datenlage über arrangierte Ehen und Zwangsehen. Es hat doch jahrelang keinen interessiert, wie die erste Generation von Gastarbeitern verheiratet ist!", sagt Sütcü.

​​ Sütcü: In der Diskussion ging es ja gar nicht um die Betroffenen. Stattdessen wurde der Islam massiv angegriffen und allein für Ehrenmorde und Zwangsehen verantwortlich gemacht. Ein Aufhänger für meine Arbeit war ein Artikel im Spiegel 2004 über "Allahs entrechtete Töchter". Türken neigen dazu, sich immer als Opfer zu sehen. So kann man sie sicher nicht erreichen. Wir reden völlig abgekoppelt von den Betroffenen...

Gerade Frauen mit türkischem Migrationshintergrund wie Seyran Ates und Necla Kelek haben doch das Thema in die Medien gebracht.

Sütcü:Die Medien haben das Thema dankbar aufgenommen. Ich fand es zunächst toll, dass beide das Thema Zwangsverheiratung publik gemacht haben, aber ich stelle die reißerische Art in Frage, mit der das geschehen ist.

Was meinen Sie damit?

Sütcü:Sie müssten doch ihre Landsleute kennen! Wenn ich mich auf ein Podium setze und behaupte: Alle türkischen Väter und alle Mütter verheiraten ihre Kinder oder sperren sie ein, was ja nicht der Wahrheit entspricht, dann ist das pauschalisierend und wertend. Genauso, wenn sie sagen, jede zweite Ehe in Deutschland sei eine Zwangsehe, meinen damit aber die arrangierte Ehe. Man darf nicht sofort werten, man muss hinterfragen, woher diese Praktiken kommen und wie man die Probleme lösen kann.

Aber man muss doch die Dinge beim Namen nennen.

Sütcü: Aber was erreicht man damit? Dass sie sagen, ja ihr habt recht, eigentlich sind unsere Werte so was von schlecht, wir sperren unsere Töchter ab sofort nicht mehr ein? Das kann ich mir nicht vorstellen. Die beiden haben monokausal fast alles, was in türkischen Familien falsch läuft, auf den Islam zurück geführt. Das entspricht nicht in jedem Fall der Wahrheit. Wenn ich Unwahrheiten verbreite, gekoppelt mit reißerischen Tönen, dann schade ich eher, als dass ich der Diskussion nutze. Deshalb kommen wir nicht voran.

Wie sehen Sie selbst Ihre Arbeit?

Sütcü: Ich will einen Beitrag dazu leisten, das Phänomen Zwangsehe und arrangierte Ehen genauer zu durchleuchten. Wir dürfen nicht alle Türken über einen Kamm scheren, außerdem wissen wir viel zu wenig über ihre Bevölkerungsstruktur, über soziale Schichten, das Bildungsniveau und die Unterschiede zwischen Türken in Deutschland und der Bevölkerung in der Türkei.

Interview: Claudia Mende

© Qantara.de 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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