Radikale Gruppierungen mit den eigenen Waffen schlagen

Dua Zeitun, Tochter eines Imams, studiert islamische Theologie in Osnabrück, arbeitet für eine katholische Bildungseinrichtung und hat den muslimischen Jugendverein "Mujos" gegründet. In den sozialen Netzwerken, aber auch im wahren Leben, spricht sie gezielt Jugendliche an, um Präventivarbeit gegen Radikalisierung zu leisten.

Wann haben Sie damit angefangen, sich gegen Radikalisierung von jungen Menschen zu engagieren und was hat Sie dazu bewogen?

Dua Zeitun: Zunächst einmal bin ich ja selbst hier in Deutschland geboren und aufgewachsen. Gerade in meiner Pubertät, der schwierigsten Phase, in der man seine eigene Identität sucht, habe ich selbst in einem kleinen Ort viel Diskriminierung erfahren, auch Ausgrenzung. Das heißt, ich kenne viele Probleme, mit denen Jugendliche mit Migrationshintergrund, oder in diesem Fall auch muslimische Jugendliche, zu kämpfen haben. Heute kann man beobachten, wie radikale Gruppierungen sehr in den Vordergrund treten und im Internet stark präsent sind, und Jugendliche schneller erreichen als man das für möglich hält. Entsprechende Personen halten sich aber nicht nur im Internet sondern auch an Orten auf, wo sie ihre Zielgruppe erreichen.

Dann kamen Sie auf die Idee den Verein "Die muslimische Jugendcommunity Osnabrücker Land e.V." ("Mujos") zu gründen…

Zeitun: Wichtig war mir, dass es ein Jugendverein ist, der nicht an eine Moscheegemeinde gekoppelt ist, und es nicht um religiöse Bildung, sondern vielmehr um Jugendarbeit geht. Muslimische Jugendliche halten sich nicht nur in Moscheen auf, sondern in der "Welt" – ob in Cafés, auf der Straße oder wo auch immer. In der Moschee erreicht man sie eben nicht. Sie wollen nicht nur den Koran lernen, sie haben auch andere Interessen.

Auf Facebook habe ich eine Seite für den Verein gegründet, der seine Arbeit mit etwa 20, 30 Jugendlichen begann.Dann fing ich an, für den Verein zu werben und gezielt nach Jugendlichen zu suchen: In Osnabrück, im Landkreis, im schulischen Umfeld. Und diese Jugendlichen habe ich dann angeschrieben. Ich habe ihnen vom Verein und von meiner Person erzählt und ihnen geraten, auf Facebook nicht jeden als Freund anzunehmen. Inzwischen sind es um die 1.400 Jugendlichen und es werden immer mehr. Es war eine Kettenreaktion. Und dann fing es an, dass bestimmte Jugendliche mich von sich aus angeschrieben haben.

Screenshot der Facebookseite "Muslimische Jugendcommunity Osnabrücker Land"
Der Verein "Die muslimische Jugendcommunity Osnabrücker Land e.V.“, kurz „Mujos“, erfreut sich bei jugendlischen Muslimen wachsender Beliebtheit. Der Verein kümmert sich unabhängig von den deutschen Moscheegemeinden um Jugendliche, und bietet ihnen die Gelegenheit, sich ehrenamtlich sozial für die Gesellschaft einzusetzen.

Nach welchen Kriterien suchen Sie die Jugendlichen aus, die Sie anschreiben?

Zeitun: Ich suche eher nach den "Bildungsfernen". Letztendlich ist Facebook das entscheidende Medium, weil Jugendliche weder auf Plakate gucken noch auf E-Mails achten. Sie halten sich hauptsächlich bei Facebook auf, und dort lesen sie auch alles. Auch wenn sie nicht immer auf mich reagieren, so weiß ich doch, dass sie irgendetwas davon mitnehmen – und sei es nur ein Stichwort.

Haben Sie auch Kontakt zu den Familien der Jugendlichen?

Zeitun: Ja, einige Jugendliche nehmen Kontakt zu mir auf, um mit ihren Eltern zu sprechen. Ich betone aber ausdrücklich, dass ich nicht mit radikalisierten Jugendlichen arbeite, sondern der Radikalisierung versuche vorzubeugen. Ich begleite Jugendliche in ihrem Alltag und bin immer auf dem aktuellen Stand, was sie gerade bewegt. Ich sehe auch, was sie posten. Wenn ich einen Jugendlichen sehe, der beispielsweise etwas Antisemitisches kommentiert oder etwas entdecke, was in Richtung Radikalisierung driften könnte, dann spreche ich den Jugendlichen an. Allerdings erteile ich ihm dann keine Vorschriften, sondern diskutiere mit ihm. Ich versuche zu verstehen, warum sie so denken, und dann gebe ich den Jugendlichen einen Denkanstoß: Macht es wirklich Sinn so etwas zu schreiben? Auch suche ich dann das direkte Gespräch.

Gibt es Ihrer Erfahrung nach einen bestimmten Weg in die Radikalisierung?

Zeitun: Ja, es gibt bestimmte Hintergründe und Anzeichen für Radikalisierung. Muslimische Jugendliche haben es in Deutschland meist doppelt so schwer. Sie haben einen Migrationshintergrund, das fängt dann bei der Hautfarbe an, hinzu kommt noch die islamische Identität, die letztendlich auch hier in Deutschland in bestimmten Zeiten mit Terrorismus in Verbindung  gebracht wird. Das heißt, muslimische Jugendlichen stehen vor zwei Baustellen: Sie sind von vornherein blockiert, was sie am Träumen oder freien Denken hindert. Diese Blockaden beschäftigen sie vielleicht eher als die Frage, was sie später einmal werden wollen, worin ihr Lebenstraum besteht und was sie in Zukunft einmal werden wollen.

Sie sind gläubige Muslima mit fundiertem theologischem Wissen. Werden Sie dadurch anders wahrgenommen als andere Akteure, die auf die Jugendlichen zugehen?

Zeitun: Wenn man auf Jugendliche zugeht, ist Offenheit ein wichtiges Kriterium. Und man muss ihre Sprache kennen. Wenn wir uns grüßen, gibt es auch mal so einen Austausch wie: Das ist "cool" oder "geil" – man muss mit ihnen in ihrer Sprache sprechen. Wenn ich ihnen als Autorität begegne, werden sie sich nicht öffnen. Und, man glaubt es kaum, auf mich kommen auch viele 15- oder 16-jährige Jungs zu, die mit mir über ihre Frustrationen sprechen wollen. Eine Frau als Bezugsperson. Dabei ist wichtig ihnen zuzuhören und sie nicht zu verurteilen.

Was sagen Sie Jugendlichen hinsichtlich der Legitimation von Gewalt durch Religion?

Zeitun: Es reicht diese Jugendlichen zu fragen: "Hat sich unser Prophet so verhalten? Und sind das seine Werte, die er uns weitergegeben und vermittelt hat? Wie kann Gott über Barmherzigkeit und Vergebung sprechen und gleichzeitig zu Gewalt auffordern?"

Sie arbeiten unter anderem auch für die katholische Landvolkhochschule Oesede. Sehen Sie durch den Papst Franziskus eher die Möglichkeit, den interreligiösen Dialog zu intensivieren? Und müssten sich auch die Muslime stärker für diesen Dialog öffnen?

Zeitun: Auf jeden Fall. Die katholische Kirche hat sich inzwischen sehr weit geöffnet, was die Beziehung zum Islam angeht. Durch das Vatikanische Konzil erfolgte mittlerweile eine Anerkennung. Doch auf jeden Fall gehören zu einem interreligiösen Dialog immer zwei Partner. Es müssen beide Seiten aufeinander zukommen, es reicht nicht zu sagen: Was macht die katholische Kirche? Oder: Was machen die Christen? Für mich als Muslima geht es darum zu sagen, was machen wir als Muslime? Und wie könnte der nächste Schritt aussehen? Es ist wichtig, dass beide Seiten aufeinander zugehen. Es ist auch wünschenswert, dass in den Moscheen und Gemeinden die deutsche Sprache immer mehr im Vordergrund steht, die Sprache die uns alle vereint.Weil wir als Muslime in Deutschland als anerkannte Glaubensgemeinschaft gelten und auch so wahrgenommen werden wollen, ist es wichtig, dass auch wir unseren Teil dazu beitragen. Ich habe Rechte, ich habe aber auch Pflichten. Das muss im Gleichgewicht stehen.

Wie sollte eine erfolgversprechende und gesamtgesellschaftliche Präventionsarbeit aussehen?

Zeitun: Leider wird von wissenschaftlicher Seite aus erst diskutiert, wenn die Jugendlichen bereits ihre Koffer gepackt haben und auf dem Weg in die Krisengebiete sind. Oder wenn die Jugendlichen wieder da sind, stellt man Überlegungen an wie: Was machen wir jetzt mit denen? Ich persönlich möchte Vorbeuge leisten und etwas tun, dass die Jugendlichen gar nicht erst auf den Gedanken kommen, ihre Koffer zu packen. Präventionsarbeit kann man leisten, indem man Jugendliche in ihrem Alltag begleitet, indem man ihnen Ansprechpartner und Bezugspersonen bietet. Sobald die Jugendlichen auf sich allein gestellt sind, fallen sie in ein Loch. Die Radikalen im Internet sind dann die ersten, die sie erreichen und auffangen.

Ebenfalls ist es wichtig, die Jugendlichen in der realen Welt zu erreichen. Daher ist in der Regel das erste, was ich die Jugendlichen frage, ob sie Interesse haben, sich mit mir zu treffen. Manche möchten lieber anonym bleiben, dann halten wir eben so den Kontakt. Für mich ist aber entscheidend, ein Gesicht vor Augen zu haben und zu sagen: Wenn irgendetwas sein sollte, melde dich ich bei mir! Das ist das einzige, was in meiner Möglichkeit steht. Man kann natürlich nicht in die Köpfe der Jugendlichen hineinschauen. Doch ich kann den Jugendlichen zumindest soviel Vertrauen schenken, sodass sie bereit sind, über bestimmte Dinge zu sprechen.

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