"Wir brauchen Räume für kritische Selbstreflexion"

Gibt es einen feministischen Islam? Eine eindeutige Definition zumindest gibt es nicht. Vielmehr unterschiedliche Deutungen und vor allem muslimische Theologinnen, die den Begriff "Feminismus" nicht verwenden für das, was sie machen: den Koran geschlechtergerecht auslegen. Ein Gespräch mit der Theologin Dina El Omari

Von Canan Topçu

Feminismus und Islam – passt das eigentlich zusammen?

Dina El Omari: Ja! Auch wenn viele Menschen hierzulande meinen, dass es sich widerspricht. "Feministischer Islam" als Begriff kursiert in den Debatten allerdings, ohne dass klar definiert wird, was das ist. Was wiederum daran liegt, dass eine Definition nicht ohne Weiteres möglich ist. Das Spektrum, das sich unter diesen Begriff zusammenfassen lässt, ist nämlich sehr weitreichend und weist zum Teil auch ganz unterschiedliche Ausrichtungen und Ziele auf. Hinzu kommt, dass sich ein eigener Zweig aus den Bemühungen islamischer Feministinnen und Feministen entwickelt hat, um der Frage nach der Gleichstellung von Frauen in muslimischen Kontexten nachzugehen: die feministische Koranexegese. Diese beiden Begriffe beziehen sich inhaltlich aufeinander, sind aber nicht das gleiche.

Worin besteht denn der Unterschied?

El Omari: Das Problem beginnt zunächst mit dem Begriff Feminismus selbst, der ja eine politische Bewegung benennt, die gesellschaftliche Veränderungen erzeugen will. Das will auch der islamische Feminismus, aus dem die feministische Koranexegese entstanden ist. Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und islamischen Theologinnen lehnt allerdings den Begriff Feminismus ab und argumentiert so: Wir brauchen ihn nicht, denn Feminismus hat was mit der Kolonialisierung zu tun, der Islam hingegen ist von sich aus für Geschlechtergerechtigkeit.

Andere wiederum sagen: Die Ziele, die der Feminismus hat, wollen wir auch, also können wir diesen Begriff auch verwenden. Die feministische Koranexegese will zwar auch eine gesellschaftliche und politisch tiefgreifende Veränderung im Sinne der Gleichberechtigung, sie argumentiert aber auf der Grundlage des Korans und stellt sich entsprechend den kritischen Stellen. Dabei wendet sie exegetische Methoden an, wie z. B. die historisch-kritische Methode, um so eine geschlechtergerechte Lesart zu erzielen. Sie betont ausdrücklich, dass sie Frauen aus der unverschuldeten und selbstverschuldeten Unmündigkeit herausholen will. Es geht um das "Mündigmachen" von Frauen. Das wiederum kann nur dann gelingen, wenn die Rahmenbedingungen erfüllt werden.

Wie verläuft der Weg dahin?

El Omari: Die feministische Koranexegese befasst sich mit Fragen wie: Können Frauen eigenständig entscheiden, ihre Interessen durchsetzen und sich für ihre Ziele einsetzen? Weil es um die Rechte der Frauen geht, werden all die Suren und Stellen im Koran, die ganz offensichtlich die patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen des 7. Jahrhunderts ausdrücken, aus heutiger Sicht gedeutet.

Der feministischen Koranexegese geht es darum, diese Stellen zu entschärfen und sie geschlechtergerecht zu interpretieren. Schwierig wird es, wenn Musliminnen sich als Feministinnen definieren, dann aber nicht konsequent sind. Für Geschlechtergerechtigkeit und Frauenrechte sein und gleichzeitig bestimmte Koranstellen von der kontextualen Lesart ausschließen, das ist ein Widerspruch.

Worin macht sich diese Inkonsequenz bemerkbar?

El Omari: Das meist diskutierte Thema ist hier das Kopftuch. Um es an diesem Beispiel zu verdeutlichen: Es gibt Aktivistinnen, die sagen, dass keine Kontextualisierung der Koransuren nötig ist und alles, was frauenunterdrückend ist, weg muss. Das Kopftuch wird als ein Unterdrückungsinstrument bewertet. Es gibt hierzulande aber auch Frauen, die als feministische Muslime zu Wortführerinnen geworden sind, und in der Verhüllung eine Pflicht sehen.

Wenn aber das Verhüllen der Haare als Pflicht gesehen wird, wo bleibt dann die Mündigkeit und die Freiwilligkeit in der Entscheidung? Wie freiwillig kann sich eine Frau verhüllen, die schon als kleines Mädchen mit dem Hinweis an die Pflicht das Kopftuchtragen herangeführt wurde? Daher wäre es wichtig, dass Räume entstehen, die Frauen die Möglichkeit geben, unvoreingenommen die Quellen auszuwerten und zu einem eigenständigen Urteil zu kommen. Dabei gilt es, die mündige Entscheidung zu unterstützen und zu respektieren. Das bedeutet, dass Frauen, die sich gegen ein Kopftuch entscheiden, ebenso unterstützt werden, wie Frauen, die sich für ein Kopftuch aus einer mündigen Haltung heraus entschieden haben.

Leider muss man aber kritisch anmerken, dass diese Räume einer kritischen Reflexion im muslimischen Alltag kaum vorhanden sind. Wir müssen uns daher dafür einsetzen, dass diese Räume entstehen. Ein solcher Raum ist sicherlich die Islamische Theologie an den Universitäten, die auch das entsprechende Instrumentarium an die Hand gibt, Texte im historischen Kontext zu verorten und zu verstehen.

Wie wäre eine idealtypische muslimische Feministin?

Muslimische Studentin während des Galaabend im Auswärtigen Amt Berlin zugunsten des Studiengangs "European Studies"; Foto: picture alliance/Andreas Keuchel
"Feminismus bedeutet ganzheitliches Denken und drückt sich in einer Haltung aus – und zwar in einer, Frauen aus der Unmündigkeit zu befreien. Es gilt, sich für alle unterdrückten Frauen einsetzen", so Dina El Omari.

El Omari: Feminismus bedeutet ganzheitliches Denken und drückt sich in einer Haltung aus – und zwar in einer, Frauen aus der Unmündigkeit zu befreien. Es gilt, sich für alle unterdrückten Frauen einsetzen. Wenn der Fokus nur auf die Frauen gerichtet ist, die aufgrund ihres Kopftuchs unterdrückt und deswegen in ihren Freiheiten eingeschränkt werden, gleichzeitig aber nicht auf die Frauen, die sich gegen ein Kopftuch entschieden haben, dann ist das kein Feminismus.

Meiner Ansicht nach ist eine muslimische Feministin eine Person, die sich sehr selbstkritisch mit den eigenen Quellen auseinandersetzt – sowohl mit dem Koran als auch anderen religiösen Quellen. Sie muss die Quellen, in denen das Patriarchalische sehr stark durchkommt, kritisch hinterfragen und historisch verorten und ganzheitlich vorgehen. Sich für die Gleichberechtigung auf allen Ebenen einsetzen – auch dafür, dass eine Frau ein Kopftuch tragen oder absetzen kann. Sie setzt sich dafür ein, dass Räume geschaffen werden, in denen Frauen zu einer mündigen Entscheidung gelangen können.

Was könnten solche Orte sein?

El Omari: Die Moscheen müssten solche Orte sein, sie sind es aber leider nur sehr marginal, weil in diesen eine starke patriarchalische Struktur zu finden ist. Die Schule ist daher der wichtigste Ort, weil dort viele erreicht werden. Der islamische Religionsunterricht ist meines Erachtens sehr wichtig. Auch damit Mädchen direkte Ansprechpartner haben, Lehrer und Lehrerinnen, mit denen sie über ihre Religion reflektieren können und über das sprechen können, was ihnen zuhause und in der Moschee über den Islam gesagt wird.

Wie bewerten Sie die öffentlichen Debatten über den Islam im Allgemeinen und muslimische Frauen im Besonderen?

El Omari: Ich finde, dass sie ausgeglichen sein sollten. "Ausgeglichen" heißt nicht, dass das Publikum mit dem Gast auf dem Podium einer Meinung sein muss. Ich plädiere für Vielstimmigkeit.

Wenn man ehrliche Debatten führen möchte, dann sollte man als Veranstalter auch darauf achten, nicht nur einer Stimme ein Forum zu bieten – vor allem nicht gerade denen, die schlicht und plakativ argumentieren. Leider haben gerade solche Personen den größten Zuspruch und Einfluss.

Das Interview führte Canan Topçu.

© Qantara.de 2018

Dina El Omari ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Islamische Theologie an der  Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Die 36-Jährige ist  Post-Doktorandin in der Nachwuchsgruppe "Theologie der Barmherzigkeit" mit dem Forschungsschwerpunkt "Feministische Koranexegese". Seit 2015 verantwortet sie den Arbeitsbereich "Koran und Koranexegese".