Lackmustest für die türkische Demokratie

Nach Ansicht der Politologin Gülistan Gürbey hat der Wahlerfolg der pro-kurdischen HDP zwei Entwicklungen zur Folge: die Verhinderung des von Präsident Erdoğan favorisierten Präsidialsystems sowie positive Impulse für die türkische Demokratie. Instabile Zeiten stünden der Türkei aber dennoch bevor. Mit ihr sprach Basak Özay.

Von Başak Özay

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan wollte ein Präsidialsystem einführen. Doch bei den Wahlen hat seine AKP die Regierungsmehrheit verfehlt. Gleichzeitig hat die HDP den Sprung ins Parlament geschafft. Wie bewerten Sie diese Wahlergebnisse?

Gülistan Gürbey: Sie haben unterschiedliche Auswirkungen. Für die demokratische Entwicklung des Landes ist es insgesamt gut, dass die HDP den Sprung ins Parlament geschafft hat. Die 10-Prozent-Hürde hatte immer einen negativen Einfluss auf die demokratische Teilhabe in der Geschichte der Türkei. Mit der Wahl der HDP ins Parlament ist klar, dass sie nun endgültig abgeschafft werden müsste.

Der zweite Punkt ist, dass die HDP nach einer Wahlkampagne unter extrem erschwerten Bedingungen ein sehr zufriedenstellendes Ergebnis erreicht hat. Es gab in den letzten zwei Monaten mehr als 100 Übergriffe auf die HDP. Trotzdem konnte sie ihr Wählerpotenzial im Südosten und im Osten der Türkei unter den Kurden konsolidieren. Und gleichzeitig hat es die Partei geschafft, auch viele Stimmen aus den westlichen Großstädten des Landes zu gewinnen. Die HDP ist also auf bestem Wege, eine landesweite Partei zu werden - natürlich mit einem besonderen Fokus auf die Kurdenfrage.

Die AKP hat in den kurdischen Gebieten, vor allem im Südosten der Türkei, die Unterstützung der Wähler verloren. So gibt es etwa in Diyarbakır nur noch einen einzigen AKP-Abgeordneten. Gleichzeitig konnte die HDP sehr viele Wähler in den Kurdengebieten gewinnen. Warum haben sich so viele kurdische Wähler von der AKP distanziert?

Gürbey: In den Städten im Südosten und Osten der Türkei hat die AKP tatsächlich die in den letzten Jahren erreichte Wählerschaft fast gänzlich verloren. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Partei nicht mehr glaubwürdig war. Die Äußerung von Entscheidungsträgern in der AKP sind immer widersprüchlich gewesen. So hat etwa die AKP-Regierung einerseits Gespräche mit dem Kurdenführer Abdullah Öcalan und der PKK geführt, aber auch gleichzeitig versucht, die HDP zu diffamieren.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan; Foto: Reuters/U. Bektas
Schwierige Regierungsbildung nach Recep Tayyip Erdoğans AKP-Wahldebakel: Die islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hatte eine Zwei-Drittel-Mehrheit angestrebt, die ihr aus eigener Kraft Verfassungsänderungen ermöglicht hätte. Erdoğans Ziel war es, nach der Wahl ein Präsidialsystem einzuführen, das aber vom Parlament mit Zweidrittelmehrheit abgesegnet werden müsste.

Viele Kurden, die früher die AKP gewählt haben, glauben nicht mehr daran, dass die Partei den Friedensprozess mit der PKK voranbringen wird. Man traut der AKP nicht mehr zu, die Kurdenfrage in der Türkei lösen zu können. Außerdem hat die AKP die HDP in der Öffentlichkeit ganz massiv angegriffen. Und nun ist diese Partei zu einem entscheidenden Faktor geworden, den autoritären Kurs von Erdoğan und der AKP zu stoppen.

Was bedeutet das alles für den Friedensprozess mit den Kurden?

Gürbey: Einerseits ist es gut, dass die HDP ins Parlament einziehen wird. Damit sind die Wähler dieser Partei nicht mehr aus dem politischen Prozess ausgegrenzt. Die HDP hat jetzt natürlich auch die parlamentarischen Möglichkeiten, den Friedensprozess zu forcieren, mit Inhalten zu füllen und den politischen Kampf in diese Richtung zu führen.

Auf der anderen Seite ist aber eine schwierige Situation entstanden, weil im Moment unklar ist, welche Regierung sich überhaupt bilden kann. Der Ansprechpartner im Parlament in Bezug auf die Lösung der Kurdenfrage steht also noch nicht fest. Das ist eine unklare Situation. Und erst wenn man weiß, welche Ansprechpartner sich durch die Regierungsbildung ergeben werden, wird man sagen können, in welche Richtung sich der Friedensprozess entwickeln wird. Dass die HDP ins Parlament kommt, ist zunächst einmal für den politischen Prozess von besonderer Bedeutung.

Zum Erfolg der HDP hat auch das Versprechen beigetragen, die Partei der ganzen Türkei zu sein. Wird sich die Partei daran halten können?

Selahattin Demirtaş; Foto: Picture-Alliance/DPA/U. Yunus Tosun
Überraschungserfolg für die pro-kurdische "Demokratische Partei der Völker": Die HDP sei offen für alle Koalitionen - mit Ausnahme eines Bündnisses mit der AKP, sagte HDP-Chef Selahattin Demirtaş. "Jetzt die Türkei in eine Debatte über eine Neuwahl zu ziehen, hilft nichts", fügte er hinzu.

Gürbey: Ich glaube schon, dass die HDP versuchen wird, die Stimmen, die sie jetzt aus vielen Städten der Westtürkei gewonnen hat, nicht zu verlieren. Denn das ist ein wichtiger Grund dafür gewesen, dass die HDP es geschafft hat, ins Parlament zu kommen. Es ging dabei natürlich um Erdoğan und sein Ziel, ein Präsidialsystem einzuführen. So haben viele strategisch gedacht und die HDP gewählt, um zu verhindern, dass es dazu kommt.

Gleichzeitig hat es die Partei geschafft, Stimmen aus den liberalen, sozialistischen und sozialdemokratischen Teilen der Gesellschaft zu mobilisieren. Sie hat verschiedene Minderheiten in den politischen Prozess eingebunden. Viele junge Menschen fühlten sich angesprochen, zum Beispiel Teile der Gezi-Park-Bewegung, aber auch Homosexuelle. Außerdem hat es die HDP geschafft, Frauen aktiv in die Politik einzubeziehen. Das ist ein Erfolg und eine positive Entwicklung.

Momentan gibt es ein deutliches "Nein" der Wähler zum Präsidialsystem. Wie sieht die politische Zukunft der Türkei aus?

Gürbey: Dass die AKP Wählerstimmen verloren hat, zeigt einerseits, dass sich die Bevölkerung gegen diesen autoritären Kurs der Politik richtet. Es ist daher zu hoffen, dass die AKP diese Absage zur Kenntnis nehmen wird. Andererseits ist es unklar, ob es zu einer Koalitionsregierung kommen wird - und wie sich diese zusammensetzt. Ich fürchte, uns stehen unruhige Zeiten bevor, denn Koalitionsregierungen haben in der Türkei in der Regel stets für Instabilität gesorgt. Selbst wenn eine Regierungskoalition gebildet wird, fragt man sich, wie lange diese halten könnte. Ich schätze, nicht sehr lange - und es ist daher durchaus möglich, dass es in absehbarer Zeit zu vorgezogenen Parlamentswahlen kommt.

Das Gespräch führte Basak Özay.

© Deutsche Welle 2015

Gülistan Gürbey ist Politologin und Privatdozentin an der Freien Universität Berlin.