"Der Türkei mangelt es an demokratischer Kultur"

Elif Şafak gehört zu den meist gelesenen Autorinnen ihres Landes und zu den bekanntesten türkischen Schriftstellerinnen weltweit. Im Gespräch mit Ceyda Nurtsch äußert sie sich zu den Demokratiedefiziten in der Türkei und zur Situation der Meinungsfreiheit in ihrem Land.

Von Ceyda Nurtsch

Frau Şafak, bis heute haben Sie insgesamt 13 Bücher geschrieben, davon neun Romane. Fünf davon haben Sie erst auf Englisch geschrieben und dann ins Türkische übersetzt. Bereits mehrfach haben Sie gesagt, dass Sie es lieben, mit Sprachen zu spielen und Brücken zwischen ihnen zu errichten. Welchen Unterschied macht es für Sie, wenn sie auf Türkisch oder Englisch schreiben?

Elif Şafak: Ich pendle zwischen den Sprachen, so wie ich zwischen Kulturen hin und her pendle. Ich schreibe sowohl auf Englisch als auf Türkisch. Wenn es uns möglich ist, in mehr als einer Sprache zu träumen, weshalb sollten wir dann nicht Geschichten in mehr als einer Sprache erzählen können? In den letzten zehn Jahren habe ich immer erst auf Englisch geschrieben, dann wird jeder Roman ins Türkische übersetzt und ich schreibe ihn neu.

Man kann also sagen, dass ich jeden Roman doppelt schreibe. Das ist zwar etwas verrückt, aber ich liebe es, in einer Sprache zu arbeiten. Es gibt Dinge, die ich auf Türkisch einfacher sage und bei anderen fällt es mir leichter, sie auf Englisch auszudrücken. Wenn ich über Melancholie, Sehnsucht und Herzenskummer schreibe, fällt mir das auf Türkisch leichter. Wenn es um Humor, Satire oder Ironie geht, dann wähle ich lieber Englisch. Der Unterschied ist mehr kultureller als linguistischer Natur. Doch ein Aspekt ist noch wichtiger: Wenn ich in zwei Sprachen schreibe, fällt es mir leichter, in Hinblick auf Details aufgeschlossener zu sein, die andere Menschen vielleicht als selbstverständlich annehmen. Ich liebe es, über Wörter nachzudenken, die nicht einfach von einer Sprache in die andere übersetzt werden können. Jede Kultur hat ihren eigenen geheimen Zugang.

Buchcover "Der Bastard von Istanbul" im Eichborn Verlag
In ihrem Roman "Der Bastard von Istanbul" wagt sich Elif Şafak an ein Thema heran, das in der Türkei noch immer ein absolutes Tabu darstellt: die Aufarbeitung des sogenannten Genozids an den Armeniern im Jahre 1915.

Gibt es eine bestimmte Zielgruppe, die Sie mit Ihren Romanen im Blick haben?

Şafak: In der Türkei, wie auch in anderen Ländern, sind die meisten Leser von Romanen Frauen. Die Publikationswelt hat weiblichen Lesern also einiges zu verdanken. Interessanterweise wird in der Türkei ein Buch nicht als persönliches Eigentum betrachtet. Man kauft ein Buch, liest es und teilt es dann mit anderen Menschen – mit Verwandten, Freunden, Freunden von Freunden. Ein einziges Exemplar wird also von fünf oder sechs Leuten gelesen. Und wenn ihnen das Buch gefällt, betrachten sie den Schriftsteller als Teil ihrer Familie. Das ist sehr bewegend und rührend. Ich schätze meine Beziehung zu meinen Lesern sehr. Sie ist mir sehr wichtig. Die Kehrseite in der Türkei ist allerdings, dass Wörter sehr schwer wiegen. Wir haben keine wirklich umfassende Meinungsfreiheit oder Vorstellungsfreiheit. Wörter können einen in Schwierigkeiten bringen. Jeder Schriftsteller, jeder Journalist, jeder Dichter ist sich dessen im tiefsten Inneren bewusst.

In Ihrem Romanen beschäftigen Sie sich mit gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themen, so zum Beispiel in "Der Bastard von Istanbul", in dem es um die Auseinandersetzung mit der türkisch-armenischen Vergangenheit im Zusammenhang einer Geschichte zweier Familien mit starken weiblichen Charakteren geht oder in Ihrem Roman "Ehre", der die Ehrenmord-Problematik aufgreift. Sehen Sie sich selbst als politische Schriftstellerin?

Şafak: Ich denke, wenn man als Autor aus einem Land wie der Türkei, Nigeria, Pakistan oder Ägypten kommt, also aus Staaten, in denen politische Unruhen und Turbulenzen nichts Fremdes sind, kann man niemals apolitisch sein. Ich bin keine apolitische Person. Ich bin Politikwissenschaftlerin und habe meinen Doktor in politischer Philosophie gemacht. Wenn einem die Welt wichtig ist, dann liest man natürlich, man denkt und man analysiert. Dennoch ist die Politik nicht mein literarischer Leitfaden. Das war sie nie. Wenn ich schreibe, ist mein einziger Leitfaden die Kunst des Geschichtenerzählens. Dann führt mich meine Imagination.

Vor dem Hintergrund der Gezi-Park-Proteste haben Sie einmal gesagt, dass es an der Zeit ist, dass sich Menschen und Institutionen mehr in Frage stellen müssten. Menschen aus verschiedenen politischen Lagern sollten Kritik und Diskussionen gegenüber aufgeschlossener sein. Welche Rolle kann Literatur oder Fiktion bei der Kommunikation innerhalb der Gesellschaft spielen?

Gezi-Park-Proteste in der Türkei am 6. Juli 2013: Zusammenstoß von Erdogan-Gegner mit der Polizei in der Istiklal Avenue in Istanbul; Foto: BULENT KILIC/AFP/Getty Images
Tiefe Gräben: "Die Türkei hat sich zu einem extrem politisierten und polarisierten Land entwickelt. Die Gesellschaft ist sehr gespalten", meint die renommierte türkische Schriftstellerin und Kolumnistin Elif Şafak.

Şafak: Die Türkei hat sich zu einem extrem politisierten und polarisierten Land entwickelt. Die Gesellschaft ist tief gespalten. Die Menschen reden nicht mehr miteinander. Und das ist kein gutes Zeichen. Es gibt nur noch drei Bereiche, die das Potential besitzen, Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenzubringen: Kunst, Literatur und Fußball. Eine Sache, die mich glücklich macht, ist, wenn ich sehe, wie vielseitig meine Leser sind. Sie kommen aus allen Gesellschaftsschichten. Meine Bücher werden von Konservativen, Liberalen, Sozialdemokraten, Kurden, Aleviten, Türken, Feministen gelesen. Das ist mir sehr wichtig. Die Tore eines Romans sollten für jeden Leser gleich weit offen stehen.

Sie zählen zu den Autorinnen, die kürzlich eine Petition gegen das Twitter-Verbot in der Türkei unterschrieben haben. Sorgen Sie sich um die Situation der Medien und die Meinungsfreiheit im Land?

Şafak: Ich mache mir in der Tat große Sorgen über den Zustand der Demokratie in der Türkei. Politiker glauben, dass Wahlen alles darstellen, was eine Demokratie ausmacht. Sie denken, dass man, wenn man nur genug Stimmen hat, alles machen kann. Doch das reicht nicht aus. Demokratie bedeutet gleichzeitig eine Kultur – eine Kultur der Inklusivität, der Offenheit, Empathie, der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit. Folglich mangelt es der Türkei an einer demokratischen Kultur. Damit eine wahre Demokratie existieren kann, ist eine Gewaltenteilung notwendig, eine breitgefächerte Presse und eine Pluralität an Stimmen. Die Regierung betrachtet heute jede Kritik als "nationalen Verrat". Übt man Kritik, wird einem unterstellt, im Namen westlicher Mächte zu handeln. Ich halte diese Klischees für sehr gefährlich. Demokratie braucht Selbstkritik. Gesellschaften können sich nur entwickeln, wenn sie freie Meinungsäußerung und Kritik zulassen.

Interview: Ceyda Nurtsch

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Elif Şafak wurde 1971 in Straßburg geboren und hat in vielen Ländern gelebt. Sie hat einen Doktor in politischer Philosophie und arbeitet als Schriftstellerin und Kolumnistin. Ihre Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt.