"Behandelt Rechtspopulisten wie kleine Kinder"

Leila Slimanis Debütroman "All das zu verlieren" sowie ihr Essayband "Warum so viel Hass?" wurden dieses Jahr erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Mit Schayan Riaz sprach die französisch-marokkanische Schriftstellerin über Selbstzensur und darüber, wie sie in verschiedenen Ländern wahrgenommen wird.

Von Schayan Riaz

Wie werden Sie als französisch-marokkanische Schriftstellerin in Frankreich und Marokko wahrgenommen?

Leila Slimani: In Frankreich werde ich sowohl als Französin als auch als Marokkanerin wahrgenommen. Den Franzosen gefällt die Idee, dass eine Einwanderin wie ich französische Werte verkörpern kann. In Marokko ist es wiederum komplizierter. Die Leute empfinden so etwas wie eine Hass-Liebe. Sie denken, ich stehe für etwas Positives, aber gleichzeitig denken sie auch, dass ich eine Verräterin bin. Es ist sehr komplex und es macht mich traurig. Ich war vor einiger Zeit in Marokko und habe meiner Mutter erzählt, wie mich jeder hasst, wie niemand stolz auf mich ist. Aber dann war ich auf einer Party, umgeben von schwulen Menschen und Frauen. Sie kamen zu mir herüber, küssten mich und bedankten sich bei mir für meine Bücher. Ich kam nach Hause und sagte zu meiner Mutter, dass ich nicht nur gehasst werde!

Und wie sieht es in Deutschland aus?

Slimani: Ich bin ziemlich überrascht, wie sehr sich deutsche Leser für meine Bücher interessieren. Sie beschäftigen sich gerne mit Themen wie Postkolonialismus, dem Maghreb und dem Islam. In Deutschland gibt es auch eine interessante Haltung zum Feminismus. Ich dachte immer, Deutschland wäre ein sehr feministisches Land. Aber ich habe festgestellt, dass dies überhaupt nicht der Fall ist. Frauen und vor allem alleinerziehende Mütter haben es hier sehr schwer. Keine Ahnung, vielleicht hatte ich auch Deutschland mit Schweden verwechselt. Interessant finde ich das Land dennoch. Das Publikum ist sehr literaturaffin und aufmerksam bei Lesungen. Sie hören gerne zu, was großartig ist. Ich liebe das, weil genau darum geht es doch am Ende des Tages.

In Ihrem Buch "Warum so viel Hass?" schreiben Sie, dass ein Autor nicht mitverantwortlich für die Situation in seinem Land ist. Was genau meinen Sie damit?

Slimani: Wenn jemand etwas Provokantes schreibt, dann sollte er nicht zur Verantwortung gezogen werden. Beispielsweise ist Rushdie nicht für seine Fatwa verantwortlich, Nabokov nicht für Pädophilie. Gleichzeitig muss ein Schriftsteller aber wissen, dass Literatur Konsequenzen hat. Das Gesetz sollte Schriftsteller schützen und ihnen ermöglichen, frei zu sein, aber Bücher haben eine gewisse Macht über Menschen und sogar über die Gesellschaft. Schriftsteller sollten sich also nicht zensieren, sie sollten einfach bessere Schriftsteller werden. Sie dürfen keine mittelmäßigen Bücher schreiben.

Buchcover von Leila Slimanis Essayband "Warum so viel Hass?" im Verlag btb
Moroccan-born Goncourt prizewinner Slimani takes up the burning questions of our time: how do we defend the values of freedom and tolerance, in times of increasing racism and fanaticism? How much responsibility does each of us bear? "I am a child of all these foreigners and I am French too. I am an immigrant, a Parisian, a free woman, convinced that you can assert yourself without rejecting those who are different"

Zensieren Sie sich nie selbst?

Slimani: Nur im echten Leben. Und zwar ständig. Aber nicht in meinen Büchern. Wenn ich das machen würde, dann hätte ich gar kein Interesse mehr an der Literatur. Was ich am Schreiben liebe, ist, dass man alleine vor seinem Computer sitzt und mehrere Stunden schreibt und das ganze Drumherum verschwindet. Man vergisst wirklich alles. Man fühlt sich so frei. Das erste Mal im Leben kann man Sachen sagen, die man anderen Leuten nicht sagen würde. Man kann ehrlich sein und eine komplexe Idee zu Ende formulieren. Heutzutage wird das immer schwieriger im echten Leben, vor allem weil alles provoziert und im Skandal endet. Man braucht viel Zeit, um bestimmte Sachen zu erklären.

In der Vergangenheit wurden Sie beschuldigt, islamophob zu sein. Wie gehen Sie mit solchen Vorwürfen um?

Slimani: Der Leser hat immer Recht. Wenn der Leser eine bestimmte Sache fühlt, dann fühlt er sie eben. Er hat ein Recht auf Interpretation. Literatur ist nicht gleich Diktatur. Ich erlaube meinen Lesern den Raum zur eigenen Interpretation. Meine Figuren sind bewusst mysteriös und mehrdeutig. Man weiß nicht, warum sie so handeln, wie sie handeln. Also kann ich auch nicht sagen, dass eine bestimmte Interpretation richtig ist und die andere falsch. Wenn jemand denkt, dass ein Text von mir islamophob ist, dann ist das sein Problem. Ich weiß, wer ich bin und für was ich stehe. So ist das Leben nun mal. Ich glaube nicht, dass ich jemals verstanden werde. Deshalb bin ich auch Autorin.

Aber machen Sie sich keine Sorgen, dass Ihre Worte von Rechtspopulisten fehlinterpretiert werden könnten?

Slimani: Als mein Essay "Sex und Lügen" in Frankreich veröffentlicht wurde, erklärte der "Front National": "Oh, wenn wir also solche Sachen sagen, dann ist das rassistisch, aber Araber und Muslime sagen es doch auch". Puh, ich glaube man muss solche Reaktionen in Kauf nehmen. Man muss das Risiko in Kauf nehmen, dass man mit Dummheit konfrontiert wird. Ich kann ihnen ja nicht verbieten, meine Bücher zu lesen. Wie ich zuvor gesagt habe, jeder hat ein Recht auf Interpretation. Ich antworte einfach nicht mehr, weil sie dann ausflippen. Wie Kleinkinder. Wenn mein Kind einen Wutanfall hat, dann antworte ich auch nicht. Es hört dann von ganz allein auf, weil es begreift, dass Mama nicht reagiert. Und so sieht auch meine Lösung im Umgang mit Rechtspopulisten aus: Behandelt sie wie kleine Kinder.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie nie besonders nationalistisch oder religiös waren. Gibt es dennoch bestimmte Dinge im Islam, zu denen Sie sich als geborene Muslimin hingezogen fühlen?

Slimani: Selbstverständlich! Mein Opa und Vater waren Muslime. Sie waren sehr aufgeschlossen. Religion war etwas Privates für sie, sie versuchten nicht, andere vom Islam zu überzeugen. Sie fühlten sich anderen auch nicht überlegen, hatten Christen und Juden in ihrem Freundeskreis. Und ihre Frauen waren beide keine Musliminnen.

Ich habe viele Erinnerungen aus meiner Kindheit, an die ich gerne zurückdenke. Zum Beispiel an den Ramadan. Ich fand diese Zeit, die ich mit meiner Familie verbracht habe, wunderbar. Die vielen Leuten in den Straßen! Ich denke auch an meinen Großvater zurück, der sehr schüchtern war und nicht wollte, dass man ihn beim Beten sah. Er war sehr großzügig und es war ihm sehr wichtig, Almosen zu geben.

Heute reden Menschen viel über Religion, aber sie haben keine Moral. Das stört mich. Sie erzählen dir, dass sie Muslime sind, sie zeigen dir, dass sie viel beten, aber gleichzeitig beleidigen sie Menschen auf der Straße oder im Verkehr. Ich verstehe nicht, was es bedeutet, ein Muslim zu sein, wenn man nicht moralisch handeln kann. Da ist es mir lieber, nicht an Gott zu glauben, aber dafür meine Mitmenschen zu respektieren.

Welche Erfahrungen haben Sie noch in Ihrer Kindheit gesammelt? Waren Sie schon immer ein "Bücherwurm"?

Slimani: Meine Eltern und Großeltern waren große Leser. Vor allem meine Oma. Sie sprach immer über Bücher und gab mir viel zum Lesen. Mein Vater hat auch ständig gelesen. Er verlor seinen Job als ich eine Jugendliche war und arbeitete danach nie wieder. Er saß die ganze Zeit im Wohnzimmer und hatte sich eine Wand aus Büchern aufgebaut. Ich erinnere mich an seine tiefe Stimme und wie arrogant er wirkte. Es war wirklich schwierig für mich, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Ich musste also lesen, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, soviel stand fest.

Eines Tages nahm ich ein Buch aus seiner Wand und sagte ihm, dass ich es gelesen habe. Plötzlich bemerkte er mich - fast, würde ich sagen, zum ersten Mal. Ich war immer eine talentierte Lügnerin und lebte in meiner Fantasiewelt. Ich wollte ein außergewöhnliches Leben führen, ein leidenschaftliches Leben, das Leben einer Schriftstellerin. Ich schrieb Gedichte und wollte mich sogar umbringen. Aber dann fand ich heraus, dass Schreiben auch Arbeit ist. Ein einziger Kampf, es wird nie einfach. Das ärgert mich bis heute.

Das Interview führte Schayan Riaz.

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