"Nicht alle Dschihadisten sind gleich"

Die Religionswissenschaftlerin Nina Käsehage hat 175 Interviews mit Salafisten in Europa geführt und dabei tiefe Einblicke in ihr Denken gewonnen. Im Gespräch mit Diana Hodali erklärt sie, es sei bedauerlich, dass man alle Salafisten über einen Kamm schert.

Von Diana Hodali

Frau Käsehage, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Islam und auch mit dem Salafismus. Wie haben Sie Kontakt zu den Salafisten in ganz Europa aufgenommen?

Nina Käsehage: Ich hatte 2011 zunächst eine Studie zur Konversion zum Islam innerhalb Deutschlands gemacht. Im Islam gibt es das Fitra-Konzept, das geht davon aus, dass man wieder zum Islam zurückgefunden hat. Damals waren unter anderem Pierre Vogel, Sven Lau und andere bekannte Prediger dabei.

Über die Konversionsstudie hatte ich gute Kontakte in die Salafisten-Szene. Über die bereits bestehenden Kontakte zu Salafisten bin ich dann auch an europäische Gruppen weitervermittelt worden. Denn ich empfand die salafistische Bewegung immer als eine transnationale Bewegung. Vielfach haben die Sicherheitsbehörden bis etwa 2013 gesagt, dies sei eine nationale Bewegung.

Salafismus ist eine radikale Auslegung des Islam. Wie lässt sich Salafismus erklären?

Käsehage: Wenn ich das nur kurz erkläre, dann werde ich eventuell nicht präzise genug sein können. Aber ich versuche es dennoch: Im Salafismus darf man sich zum einen nur auf den Koran und die Sunna (die Überlieferungen des Propheten, Anm. d. Red.) als Primärquelle beziehen. Zudem schließt man sich der als vorbildlich betrachteten Lebensweise des Propheten Mohammed und seiner Gefährten an, den sogenannten frommen Altvorderen - dazu gehören die erste Generation von Gefährten, die noch zu seinen Lebzeiten aktiv waren, sowie die zwei nachfolgenden Generationen nach Mohammed. Deshalb möchten sowohl männliche als auch weibliche salafistische Akteure auch durch ihre Kleidung und Handlungsweise zu erkennen geben, dass sie dieser als vorbildlich empfundenen Lebensweise folgen. Im Unterschied zur gängigen islamischen Religionspraxis wird von den salafistischen Akteuren jede Abweichung von diesem Ideal als verbotene Neuerungen (arabisch "bid'a") bezeichnet.

Heute wird der Begriff Salafismus oft synonym verwendet für einen radikalen, gewaltbereiten Islam. Wie bewerten Sie das?

Salafismusforscherin Nina Käsehage; Foto: picture-alliance/N. Käsehage
Nina Käsehage lehrt als Religionswissenschaftlerin und Salafismus-Forscherin an der Universität Rostock. Ehrenamtlich engagiert sie sich im Bereich Prävention und Deradikalisierung von Muslimen.

Käsehage: Es gibt mehrere Begriffe, die mir ein bisschen suspekt sind. Und der erste Begriff ist Islamismus. Ich bin dahingehend auf derselben Linie wie die islamische Theologin und Forscherin Hamideh Mohagheghi: Sie ist der Ansicht, wenn man den Namen einer gesamten Religion mit einer Minderheit, also einer radikalen Ausprägung, gleichsetzt, wie dies im Falles des Wortes Islamismus getan wird - dann nimmt man eine gesamte Religion in Geiselhaft.

Ich sehe, dass durch die Deutungshoheit der Sicherheitsbehörden, die diesen Begriff sehr stark prägen und auch beibehalten, eine gewisse Tendenz zu dieser Verunglimpfung führt. Die wiederum strahlt auch auf Muslime zurück, die ja vielfach nichts mit einem radikalen Gedankengut zu tun haben. Begeht zum Beispiel ein Christ ein Attentat, wie es ja leider in den USA häufig passiert, spricht man nicht von Christianismus.

Nicht alle Salafisten sind gewaltbereit. Wie unterteilen Sie diese Gruppe?

Käsehage: Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht mittlerweile von insgesamt 10.000 Personen in der Szene aus - also einer sehr niedrigen Zahl im Vergleich zu den drei bis vier Millionen Muslimen, die es in Deutschland gibt. Ich folge der etwas gröberen Aufteilung in puristische, politische und dschihadistische Salafisten. Davon sind zwei Drittel unpolitische Puristen und politische Salafisten. Und dann gibt es noch ein Drittel gewaltbereite oder gewaltbefürwortende Salafisten.

Natürlich ist der Salafismus eine restriktive Auslegung des Islams, aber ich finde es bedauerlich, dass man die gesamte Gruppe über einen Kamm schert. Ich habe mit sehr vielen Akteuren und Predigern gesprochen, die sich öffentlich von der Gewalt distanzieren. Sie leiden unter dem Druck der Dschihadisten. Leider ist die mediale Darstellung der Protestbewegung der Salafisten gegen den Dschihadismus nicht so gut, wie sie sein sollte. Die Dialogplattform Qantara.de geht vorbildlich differenzierend vor, während viele andere Medienbereiche diese Berichterstattung leider aussparen und eher die Angst vor einer gesamten Gruppe schüren.

Sie haben im Gegensatz zu den Behörden schon früh erkannt, dass der gewaltbereite Salafismus eine transnationale Bewegung ist. Die Behörden reagieren jetzt mit Repression. Ist das der richtige Weg?

Käsehage: Wir müssen einen Schritt zurückgehen: Die Behörden wussten dies zum Teil hier von Anfang an. Sie hatten nur gehofft, dass die ausgereisten Protagonisten nicht wieder zurückkehren. Wenn dieses Wissen sehr wohl vorhanden ist, man aber in Kauf nimmt, dass sich das Problem sozusagen von selbst löst, handelt man nicht nur menschenverachtend, sondern auch unklug. Denn es gibt selbstverständlich Rückwirkungen, wie zum Beispiel Rückreisebestrebungen gewaltbereiter Akteure.

Bundesjustizminister Heiko Maas; Foto: picture-alliance/dpa
Leere Versprechen? "Justizminister Heiko Maas hatte in unserem gemeinsam Talk in der Sendung "Maybrit Illner" vom Januar 2017 gesagt, er wolle 100 Millionen Euro in die Prävention investieren. Das empfand ich als sehr gut. Aber danach hat er sich leider nicht mehr konkret dazu geäußert", moniert Käsehage.

Ich halte Repression nur in Maßen für geeignet, weil wir nicht sagen können, dass alle Dschihadisten gleich sind. Man kann also nicht sagen, dass sich durch strikte Strafen immer etwas verbessert. Einerseits finde ich Vereinsverbote wichtig, andererseits tauchen die verbotenen Vereine in der Folge in den Untergrund ab und entziehen sich der Kontrolle.

Sie setzen sich auch stark für Prävention ein und arbeiten ehrenamtlich auch immer mit Familien, die befürchten, dass sich ihre Kinder radikalisieren. Sie haben schon zahlreiche Menschen davon abgehalten, nach Syrien in den Krieg zu ziehen. Wie lassen die sich überzeugen?

Käsehage: Bezeichnen Sie mich gerne als Optimistin, aber wenn man mit den Menschen ins Gespräch kommt und auch argumentativ geschult ist, Dinge versachlichen kann, dann kann man sehr viel bewegen. Wenn man dagegen jemanden per se verurteilt, dann fühlt er sich in seinem Denken bestätigt. Prävention ist eine langfristige Angelegenheit, genau wie eine Deradikalisierung. Langfristige Projekte sind für die Politik aber vielfach nicht interessant. Sie wirken "nicht sexy", sie eignen sich nicht für den Wahlkampf. Und das ist eine Gefahr, die ich sehe: Man baut den Wahlkampf um das Thema Sicherheit auf, womit mit man nie gut beraten ist. Man kann kurzfristig Krisenprävention betreiben, aber wichtig ist eine langfristige Prävention beziehungsweise Deradikalisierung.

Und wie kann das aussehen?

Käsehage: Es gibt einige Präventionsstellen, die ich gut finde. Aber sie sind leider unterversorgt. Justizminister Heiko Maas hatte in unserem gemeinsam Talk in der Sendung "Maybrit Illner" vom Januar 2017 gesagt, er wolle 100 Millionen Euro in die Prävention investieren. Das empfand ich als sehr gut. Aber danach hat er sich leider nicht mehr konkret dazu geäußert.

Salafisten in Frankfurt am Main; Foto: dpa/picture-alliance
Reger Zulauf: Die Salafisten-Szene Deutschlands wächst - der Verfassungsschutz geht von fast 8.000 Anhängern aus. Erst im vergangenen November ließ Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) die radikal-salafistische Vereinigung "Die wahre Religion" verbieten. In zehn Bundesländern fanden Großrazzien statt.

Durch meine Forschung habe ich viele Einsichten in diese Szene bekommen, die ich im ehrenamtlichen Engagement für Hilfebedürftige verwenden kann. Wenn Menschen Hilfe brauchen, dann bin ich da. Das ist eine menschliche Pflicht. Wenn ich jetzt eine gewisse Summe zur Verfügung hätte, dann könnte ich etwa ein Team aufbauen, mit dem man gemeinsam noch mehr erreichen könnte. Aber diese Gelder gehen nie an kleinere Gruppen, egal wie hoch ihre "Erfolgsquoten" sind. Sie gehen nur an große Bundesprojekte. Und diese Projekte sind vielfach an sicherheitsbehördliche Institutionen angegliedert. Eltern oder gar Betroffene gehen nicht zu einer Organisation, die an einen Sicherheitsbereich angebunden ist. Diese behördliche Anbindung ist demnach ein Fehler, aber keiner möchte das hören.

Wie versuchen Sie zu argumentieren, um Männer und Frauen davon abzuhalten, sich einer gewaltbereiten Strömung anzuschließen?

Käsehage: In den Fällen, in denen ich recht erfolgreich eine Gegenargumentation anwenden konnte, war es so, dass ich auch die biografische Herkunft und Motivationen meiner Ansprechpartner kannte. Ich kannte also den individuellen Mangel. Und dieser Mangel wurde oft durch ein dschihadistisches Narrativ aufgefangen.

Es ist tatsächlich immer noch so, obwohl es schon besser geworden ist, dass es eine strukturelle Diskriminierung gegenüber Muslimen gibt. Wenn man diese nun auf die Gruppe der Salafisten überträgt, dann erfahren deren Mitglieder die Diskriminierung noch viel schlimmer, auch, weil sie sich äußerlich als Salafisten "kennzeichnen". Hierdurch fühlen sie sich bestätigt, dass diese Diskriminierung, "den einzig wahren Muslimen" besonders stark entgegenschlägt. Das macht sie in der Gruppe noch stärker. Und genau hier muss man dann versuchen zu dekonstruieren: Indem man auch andere Beispiele benennt und auch mal darauf hinweist, dass so etwas immer eine Wechselseitigkeit bedeutet: "Ihr grenzt euch ja auch ab, schaut anderen nicht in die Augen, seid mitunter bewusst unfreundlich, gebt nicht die Hand." Das ist nur ein kleines Beispiel, aber das alles setzt Zeit, religiöses Wissen und vor allen Dingen ein Interesse an den Menschen, egal welcher Religion, voraus. 

Das Gespräch führte Diana Hodali.

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