"Es gibt keine sicheren Zonen in Afghanistan"

EU-Länder sollen Druck auf Flüchtlinge aus Afghanistan ausgeübt haben, um sie zu "freiwilliger" Rückkehr zu bewegen, so Amnesty International. Das sei illegal, meint die afghanische Menschenrechtsaktivistin Horia Mosadiq im Gespräch mit Amanullah Jawad.

Von Amanullah Jawad

Frau Mosadiq, den Menschen in Afghanistan drohen Gewalt, Entführung und Tod, hieß es im jüngsten Bericht von Amnesty International. Wie dramatisch stellt sich gegenwärtig die Sicherheitslage im Land am Hindukusch dar?

Horia Mosadiq: Sicher ist es in Afghanistan nicht. Ich gebe Ihnen ein erschütterndes Beispiel: Jüngst wurde ein Familienvater in Afghanistan von bewaffneten Männern entführt. Seine Familie musste ihr letztes Geld zusammenkratzen, um den Vater freizukaufen. Anschließend flüchteten sie nach Norwegen.

Dort angekommen wurde ihr Asylgesuch allerdings abgelehnt. Sie wurden zurück nach Afghanistan geschickt. Wenige Monate später verschwand der Vater ein weiteres Mal. Nur wenige Tage später tauchte seine Leiche an einer Straßenecke in Kabul auf.

Laut Behördenangaben hätten die Flüchtlinge Europa freiwillig verlassen und müssten sich der Gefahrenlage in ihrer Heimat bewusst sein…

Horia Mosadiq; Foto: Amnesty International
Horia Mosadiq ist eine afghanische Menschenrechtsaktivistin und Journalistin. Sie arbeitet für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International.

Mosadiq: Bis heute sind mehr als 9.000 Afghanen aus Europa abgeschoben worden. Weitere 80.000 Afghanen sind von Abschiebung bedroht. Die europäischen Staaten bezeichnen die Rückkehr von Flüchtlingen als "freiwillig". Aber das geschieht tatsächlich überhaupt nicht freiwillig.

Den afghanischen Flüchtlingen wird gesagt, dass sie so oder so abgeschoben würden und dass sie nur zwei Möglichkeiten hätten. Entweder würden sie ohne jegliche Hilfsleistung abgeschoben, oder sie unterschrieben das Rückkehrformular und bekämen dann eine finanzielle Starthilfe, um sich damit in Afghanistan ein neues Leben aufzubauen.

Welche EU-Länder schieben derzeit die meisten afghanischen Flüchtlinge ab?

Mosadiq: Deutschland, Griechenland, Norwegen, Schweden und England sind vorneweg die Länder, die am häufigsten abschieben. Wobei wohl alle europäischen Länder Abschiebungen vornehmen. Wir sind sowohl mit diesen Ländern als auch mit der afghanischen Regierung im Gespräch. Unsere Forderung an die europäischen Länder ist, dass sie keine weiteren afghanischen Flüchtlinge abschieben dürfen. Von der afghanischen Regierung erwarten wir, dass sie keine Beihilfe zu Abschiebungen leisten.

Welche Asylgründe erkennen die EU-Staaten denn jetzt überhaupt noch an?

Mosadiq: Es ist nicht möglich, die Asylgründe und -entscheidungen zu kategorisieren. Aber eine besorgniserregende Entwicklung ist, dass die Zahl der abgelehnten Asylbescheide in Europa in kürzester Zeit rasant angestiegen ist, vor allem seitdem im vergangenen Februar die afghanische Regierung ein Flüchtlingsabkommen mit der EU unterzeichnet hat.

Bis heute ist es noch nicht klar, welche Regionen in Afghanistan als "sicher" eingestuft werden können, und welche als "unsicher" gelten. Darüber herrscht in den europäischen Ländern noch immer Unklarheit. Wir wissen auch von Flüchtlingen, die ihre Homosexualität als Asylgrund vorgetragen hatten und trotzdem abgeschoben wurden. Auch christliche Konvertiten oder viele andere, die in Afghanistan politisch und religiös verfolgt würden, erhalten keinen Schutz in der EU.

Gibt es in Afghanistan derzeit überhaupt relativ sichere Regionen?

Mosadiq: Die Provinzen Kabul, Pandschir, Bamyan gelten als sicher. Aber das entspricht nicht der Wahrheit. Kabul zum Beispiel ist die afghanische Stadt, in der die meisten Anschläge durch Aufständische verübt wurden. Wir stimmen in dieser Hinsicht nicht mit den europäischen Ländern überein. In Afghanistan gibt es keine sicheren Zonen und keinen Ort, wohin man sicher abschieben könnte. Länder, die Abschiebungen nach Afghanistan vornehmen, verstoßen gegen das Völkerrecht.

Das Interview führte Amanullah Jawad.

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