"Als Erste bezahlen die Kinder für unsere Kriege"

In "Capernaum" erzählt Nadine Labaki die deprimierende Geschichte des Beiruter Straßenjungen Zain. Das System dahinter nennt sie "moderne Sklaverei". Paul Katzenberger hat sich mit der libanesischen Regisseurin unterhalten.

Von Paul Katzenberger

War es Ihrer Ansicht nach richtig, dass Zain geboren wurde?

Nadine Labaki: Unter allen Umständen: ja. Denn er gehört zu jenen 25 Prozent der Kinder, die in der Lage sind, den Teufelskreis aus Vernachlässigung, Missbrauch, fehlender Zuneigung und körperlicher Gewalt zu durchbrechen. Zahlreiche Studien belegen, dass 75 Prozent der Kinder, die solchen Übergriffen ausgesetzt sind, ihre eigenen Kinder später misshandeln, straffällig werden oder in die Drogensucht abrutschen. Nur ein Viertel schafft es, sich ein lebenswertes Dasein aufzubauen, und Zain zählt zu dieser Minderheit.

Und die 75 Prozent der Kinder, die dem Teufelskreislauf nicht entrinnen können?

Labaki: Jedes neue Leben hat seine Berechtigung. Die Frage ist doch: Darf es ein Recht geben, sich Kindern gegenüber verantwortungslos zu verhalten? Mein Film wendet sich dabei an das ganze System, das diese Kinder im Stich lässt. Mir geht es um grundsätzliche Fragen.

Die da wären?

Labaki: Warum gewähren wir Erwachsenen automatisch das absolute Recht, Kinder zu zeugen, Kindern aber nicht das absolute Recht auf ein Leben, in dem zumindest die Grundbedürfnisse erfüllt werden? Für mich sind die Kinderrechte genauso wenig verhandelbar wie die Elternrechte. Aber da besteht meiner Meinung nach ein extremes Ungleichgewicht.

Sie meinen zwischen der Ohnmacht auf Seiten der Kinder und der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit von Erwachsenen?

Labaki: Richtig. Ich habe mit sehr vielen Kindern geredet und ihre Wut wahrgenommen. Sie erzählten mir von extremen Fällen der Vernachlässigung und des Missbrauchs. Wenn ich sie daraufhin fragte, ob sie froh seien, am Leben zu sein, antworteten 99 Prozent von ihnen, dass sie lieber tot wären als ungeliebt, misshandelt und vergewaltigt. Manche von ihnen hatten die ständige Missachtung so sehr verinnerlicht, dass sie sich selbst als ein "Stück Scheiße", als "Parasit" oder "Schmeißfliege" bezeichneten. Das ist auch kein Wunder, denn ihnen wurde nie vermittelt, dass sie irgendeinen Wert hätten.

Also sind sich diese Kinder gar nicht mehr ihrer Identität bewusst?

Labaki: Das Wissen um das eigene Ich ist zumindest sehr untergraben. Wenn man sie zum Beispiel nach ihrem Alter fragt, wissen es die allermeisten von ihnen nicht. Sie antworten dann: "fast zwölf", oder so ähnlich. Denn sie verfügen über keine Geburtsurkunde, und selbst ihre Eltern wissen das genaue Geburtsdatum nicht und speisen sie mit ungefähren Angaben ab. Da heißt es dann: "Es hat geregnet, als du geboren wurdest." Oder: "Deine Geburt war während des Ramadans."

Die Frau, an der Sie die Figur von Zains Mutter Souad anlehnten, hat 16 Kinder geboren. Könnte die Lösung in einer besseren Geburtenkontrolle liegen?

Labaki: Die Kultur, viele Kinder in die Welt zu setzen, ist sicher ein Teil des Problems, aber wir können es nicht verallgemeinern. Man muss den Einzelfall betrachten: Es gibt Frauen, die können 20 Kinder mit viel Liebe großziehen. Es gibt wohlhabende Mütter, deren Empathie nicht mal für ein Kind ausreicht. Und es gibt auch Eltern, bei denen die prekäre wirtschaftliche Situation und die mangelnde Liebe zu den eigenen Kindern zu Ausbeutung und Missbrauch führen: Sie schicken ihre Kinder etwa zum Betteln auf die Straße, weil sie denken, dass sie mit dem Mitleid, das sie erregen, mehr Geld verdienen können als sie selbst.

Kinoplakat Capernaum
Nadine Labaki äußert in ihrem neuen Film "Capernaum - Stadt der Hoffnung" herbe Sozialkritik. Darin erzählt sie vom Straßenjungen Zain, der seine Eltern verklagt, weil sie ihn geboren haben, ohne ihn wirklich ernähren zu können. An dieser unrealistischen Fiktion entlang versucht Labaki, die Situation vernachlässigter Kinder in ihrem Heimatland zu schildern.

Im Libanon gibt es Rassismus, mangelnde Grundrechte von Arbeitsmigranten und Kinderarbeit. Allerdings ist die Menschenrechtslage sehr viel besser als in den meisten anderen Ländern des Nahen Ostens. Ist der Libanon ein besseres Land, als Sie es im Film darstellen?

Labaki: Ich fürchte, die Realität dort ist härter und noch weniger auszuhalten, als sie in "Capernaum" beschrieben wird. Natürlich hat der Libanon auch Zeichen der Humanität gesetzt, indem er trotz seiner ökonomischen und politischen Probleme mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Es gibt Idealisten, die die syrischen Flüchtlinge willkommen heißen, genauso gibt es aber auch ein System der Korruption, in dem Politiker mit Einfluss und andere Leute am Flüchtlingsstrom verdienen wollen.

In diesem Durcheinander ist ein echtes Chaos entstanden. Das ist der Grund, warum ich den Film "Capernaum" genannt habe. Wenn man diesen Begriff im Wörterbuch nachschlägt, steht er für Unordnung und Wirrnis - für einen Ort, an dem sich die Dinge sinnlos aufeinander türmen. Im Libanon herrscht oftmals Rassismus, es bestehen moderne Formen der Sklaverei, Mädchen werden im Kindesalter verheiratet, und das sind längst nicht alle Missstände.

Sind die Probleme, die Sie in Ihrem Film darstellen, der spezifischen Lage im Libanon geschuldet?

Labaki: Nein, sie bestehen auf der ganzen Welt, natürlich in unterschiedlichem Ausmaß. Auf Armut stößt man überall, ob in Los Angeles oder in München. Jede Gesellschaft grenzt Menschen aus und will sie am liebsten unsichtbar machen. Ob das nun in Äthiopien ist, in Indien, in Brasilien oder in Syrien: Als erste bezahlen die Kinder für unsere Kriege und Konflikte. Mein Ziel war es, ihnen durch meinen Film eine Stimme zu geben.

Die Figur des Zain ist allerdings recht spezifisch. Ein Kind syrischer Flüchtlinge im Libanon.

Labaki: Ja, wobei er für viele Kinder steht. Ich wollte wissen, was würde der Junge sagen, der am Randstein übernachtet, und kein Auge zubekommt, weil es dort viel zu unbequem ist? Was würde Alan Kurdi sagen, der kleine Junge, der ertrunken ist, und dessen Foto vom Strand von Bodrum um die Welt ging? Was würden die Kinder sagen, die an der Grenze zwischen den USA und Mexiko ihren Eltern weggenommen werden?

Dass Kinder von Flüchtlingen wie in den USA von ihren Eltern getrennt werden, zeigen Sie auch in Ihrem Film. Ist das tatsächlich Praxis im Libanon?

Labaki: Wenn sie entdeckt werden, ja. Arbeitsmigranten haben im Libanon kein Recht, Kinder bei sich zu haben. Einige schaffen es trotzdem, als Familie zu leben, doch das ist illegal. Wenn man sie erwischt, werden sie entweder zusammen mit den Kindern in ihre Heimatländer wie Äthiopien abgeschoben, oder die Kinder werden ohne die Eltern deportiert. Das passiert jeden Tag und ist Teil des korrupten Sponsorensystems im Libanon, durch das Arbeitnehmer praktisch anderen Menschen gehören. Diese können ihnen alles vorschreiben: dass sie in seinem Haus leben müssen, keine Beziehungen eingehen oder Kinder haben dürfen. Es ist moderne Sklaverei.

Das Interview führte Paul Katzenberger.

© Süddeutsche Zeitung 2019