Was ist „Islamische Kunst“?

"Meine Hoffnung ist, dass der Kontrapunkt, der durch islamische Diskurse entsteht, gegen unsere gewohnten Melodien der Kunstgeschichte anspielt und Harmonien und Dissonanzen hervorruft, so dass wir lernen, mehrere Melodien aus einer Vielzahl von Welten gleichzeitig zu genießen. Mögen sich diese Perspektiven vermehren wie Lichter, die von den Facetten eines Kristalls aufblitzen, wenn dieser sich in die täuschend einfache Komplexität von Regenbögen aufspaltet" (frei übersetzt aus der Einleitung ihres Buchs).
"Meine Hoffnung ist, dass der Kontrapunkt, der durch islamische Diskurse entsteht, gegen unsere gewohnten Melodien der Kunstgeschichte anspielt und Harmonien und Dissonanzen hervorruft, so dass wir lernen, mehrere Melodien aus einer Vielzahl von Welten gleichzeitig zu genießen. Mögen sich diese Perspektiven vermehren wie Lichter, die von den Facetten eines Kristalls aufblitzen, wenn dieser sich in die täuschend einfache Komplexität von Regenbögen aufspaltet" (frei übersetzt aus der Einleitung ihres Buchs).

Wie lernen wir den Reichtum fremder Kulturen wirklich zu schätzen? In ihrem jüngsten Buch "What is Islamic art? Between religion and perception" schreibt die Kunsthistorikerin Wendy Shaw über die Notwendigkeit, unsere visuell-zentrierte Rezeption von Kunst und Ästhetik abzulegen und uns stattdessen auf eine multisensorische Entdeckungsreise zu begeben. Ein Interview von Lucy James

Von Lucy James

Frau Prof. Dr. Shaw, mit islamischer Kunst verbinden viele Leser im Westen vage Vorstellungen von nicht-figürlichen Darstellungen – wie Muster und Kalligraphien. Trifft dieses Bild zu?

Wendy Shaw: Es gibt wohl zwei Dinge, die Menschen gemeinhin mit islamischer Kunst in Verbindung bringen: Erstens das Bilderverbot und zweitens ornamentale Elemente, darunter Muster und Kalligraphien. Was den ersten Punkt angeht: Es gibt kein Bilderverbot. Ebenso wenig wie es in der jüdischen Tradition ein Bilderverbot gibt. Beide Rechtstraditionen sind diskursiver Natur. Strukturell geht ein solches allgemeines und universelles Verbot von keiner zentral leitenden Instanz aus.

Die intensiven Diskussionen in der islamischen Welt über die Bedeutungen und Wirkungen verschiedener Darstellungsformen – vom Götzendienst bis zur Vereinigung mit dem Göttlichen – reichen weit über unser Verständnis des Bildlichen hinaus. Oft werden diese Diskussionen eher narrativ oder poetisch als in direkter Form geführt. Auch Muster, Musik und sogar Träume können als Darstellungsmittel funktionieren.

Von der Schrift bis zur Architektur werden dabei die Grenzen zwischen Text, Ton, Bild und Stofflichkeit überschritten. Daher funktioniert die Vorstellung vom "Ornament" im Unterschied zur "bedeutungstragenden Darstellung" nicht.

 

Die verbreitete Diskussion über ein Bilderverbot ist nicht nur falsch, sie ist geradezu ermüdend. Sie maskiert eine spannende, komplexe intellektuelle und ästhetische Geschichte, wie wir unsere Beziehungen zur Welt aufnehmen und ausdrücken können.

Sie schreiben davon, "das zu entdecken, was nicht Kunstgeschichte ist". Welche Rolle spielt die Kunst – und vielleicht noch konkreter die Poesie – im Islam über die Jahrhunderte hinweg?

Shaw: Die Begriffe "Kunst" und "Geschichte" rahmen bestimmte Objekte zeitlich und örtlich, die als "schön" oder "wertvoll" gelten. Aber weder diese Wertzuschreibungen noch ihre Bindung an Zeit und Ort bestimmen die Bedeutung der Dinge, wie sie in einer Kultur erlebt werden.

So mag Ihr Esstisch beispielsweise von IKEA stammen, aber was er Ihnen bedeutet, ergibt sich aus den Mahlzeiten und Gesprächen, die an dem Tisch stattfinden. Wenn ich Ihren Tisch zeitlich und örtlich einordne, ist das nicht falsch, aber dies definiert sicher nicht Ihre Kultur. Analog dazu sagt mir eine Fliese aus Anatolien aus dem 13. Jahrhundert, die unter der Seldschuken-Dynastie angefertigt wurde, nichts über die Kultur der Menschen, die sie damals verlegten, und noch weniger über die Kultur der Menschen in Anatolien heute.

Ich gehe der Frage nach, wie Menschen in jener Vergangenheit ihre Beziehung zum Menschsein in der Welt ausgedrückt haben. Das umfasst auch ihre Rezeption des Göttlichen durch produzierte Formen, die wir als Kunst bezeichnen. Poesie war eine häufige Ausdrucksform. Diese Poesie war mit verschiedenen Traditionen jenseits der islamischen verbunden – der griechischen Philosophie und dem Christentum, dem Judentum, dem Buddhismus und dem Hinduismus – und beinhaltete theologisches Wissen.

Indem ich diese Beziehungen erkenne, frage ich, wie Objekte, die wir als "Kunst" sehen, den Menschen Sinn vermittelten, die mit ihnen lebten, und zwar in den Begriffen, die sie verwenden würden – ähnlich wie wir unsere Welt durch Liedtexte, Filmzitate und Literatur sinnlich erfahren.

Seldschuken der Rum-Periode (1081-1307): Sechseckige Fliese aus Konya, Türkei, 12. Jahrhundert. Quelle: Wikimedia Commons; Metropolitan Museum of Art
Das entdecken, was nicht 'Kunstgeschichte' ist: "Ihr Esstisch mag beispielsweise von IKEA stammen, aber was er Ihnen bedeutet, ergibt sich aus den Mahlzeiten und Gesprächen, die an dem Tisch stattfinden. Wenn ich Ihren Tisch zeitlich und örtlich einordne, ist das nicht falsch, aber dies definiert sicher nicht Ihre Kultur. Analog dazu sagt mir eine Fliese aus Anatolien aus dem 13. Jahrhundert, die unter der Seldschuken-Dynastie angefertigt wurde, nichts über die Kultur der Menschen, die sie damals verlegten, und noch weniger über die Kultur der Menschen in Anatolien heute“, so Shaw

Was prägt unsere Wertschätzung von Kunst in Europa und der westlichen Welt?

Shaw: Da wir mit unseren zeitgenössischen Kategorien niemals alle Zeiten und Orte abdecken können, beschäftigen sich Historiker gerne mit der Geschichte der Wörter und Kategorien, die wir verwenden. Ein faszinierendes Buch von Larry Shiner aus dem Jahr 2001 mit dem Titel The Invention of Art (Die Erfindung der Kunst) handelt von der Bedeutung dieser Kategorie für das Wachstum des Kapitalismus in Westeuropa.

Viele Untersuchungen zur Kunstgeschichte, insbesondere seit den 1980er Jahren, befassen sich damit, wie die Kategorie eine Geschichte für die Gegenwart konstruiert und propagiert hat, die zu zeitgenössischen Werten passt – also individuelles Genie, Spezialisierung, Konkurrenzdenken und Säkularismus. Wie also führten europäische Diskussionen über Perspektive und Definitionen des Bildes zu dem kategorischen Rahmen, den wir heute als normal ansehen?  

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich das Studium der "Kunstgeschichte" zu einer Möglichkeit, eine Region, die zuvor als "christlich" galt, im Sinne des "Westens" neu zu denken. Dabei wurden viele zuvor mit religiösem Kultus verbundene Praktiken auf die Wertschätzung von Kunst übertragen.

Diese modernen Kategorien rahmen unser Verständnis. Wir können es aber erweitern, indem wir mehrere Kategorien berücksichtigen. Damit weichen wir von dem üblichen Paradigma der globalen Kunstgeschichte ab, die im Allgemeinen ihre bereits in die Kunstgeschichte eingewebten Begriffe und Methoden auf andere Kulturen anwendet.

Mein Buch untersucht zwar Wahrnehmungsformen in islamischen Diskursen, aber viele Kollegen weisen mich darauf hin, dass diese Beobachtungen auch für jene relevant sind, die das mittelalterliche Europa erforschen, als die Menschen sich nicht in Begriffen wie "Kunst", "Säkularismus" und "Geschichte" mit ihrer Welt auseinandersetzten.

Sie verweisen auf den Einfluss, den die koloniale, europäisch-normative Kunst auf unser Vermögen hat, fremde Kunst wertzuschätzen. Wie können wir uns dieses "naiven Blicks" entledigen? Und wie geht es dann weiter?

Shaw: Ich halte unseren Blick nicht unbedingt für naiv oder leer, sondern eher für bereits voll. Das, was wir sind, tragen wir ständig mit uns, was uns oft daran hindert, neu zu denken. Indem ich das sage, unterscheide ich nicht zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Menschen: Wir alle sind zusammen modern. Wir setzen uns mit der Welt über ein gemeinsames Verständnis von Begriffen wie Kunst, Religion, Säkularismus, Geschichte, Bilder und Visionen auseinander. Dies ist eher einschränkend als falsch.

Wenn wir uns aber damit auseinandersetzen, wie sich andere Kulturen ausdrücken, können wir geistig in deren Bezugsrahmen eintreten. Wenn ich islamische Poesie intensiv lese, beginne ich, meine Welt durch diese Begriffe zu erkennen. Wenn wir die Denkweise ändern, lernen wir nicht über den anderen aus einer Position der Dominanz heraus, sondern vom anderen, was ein egalitäres Erkennen ermöglicht.

Soll Kunstgeschichte dekolonialisiert werden, müssen wir davon Abstand nehmen, moderne europäische Begriffe auf die übrige Welt anzuwenden. Stattdessen sollten wir einen Schritt zurücktreten und andere Kategorien erkennen ... und dann zulassen, dass diese Kategorien unsere neuen Erkundungen prägen. Meine Arbeit konzentriert sich auf einige wenige Aspekte des großen Spektrums dessen, was "islamische" Kultur ausmacht. Das ist allerdings nur einer von vielen Rahmen, durch die wir lernen können, die Welt aufzunehmen. Wir können von dieser Entwicklung des gegenseitigen und egalitären Respekts zwischen kulturellen Systemen stark profitieren.

 

"Wie Elektronen zwischen den Bahnen eines Atoms"

 

Was ist "Wahrnehmungskultur" und was sind die praxisnahen Implikationen für Kunstschaffende?

Shaw: Es wird mir immer bewusster, wie Worte die Welt, die ich zu verstehen versuche, einschränken. Angefangen habe ich mit "Kunst". Dann wurde mir klar, dass ich auch Musik, Rituale, Astronomie, Poesie und Träume mit einbeziehen muss; dass das, was ich thematisiere, keinen Gegensatz zur "Natur" darstellt, wie dies der europäisch tradierte Gegensatz von Kultur und Natur impliziert. Ganz offensichtlich brauchte ich eine Kategorie, die umfassender war als die der Kunst. Eine Kategorie, die darauf verweist, wie die Welt durch die produzierten Dinge aufgenommen wird.

Das nenne ich Wahrnehmungskultur: Die Kultur oder die Kräfte, die für unser Verständnis der Welt prägend sind. Ich stelle mir vor, dass wir uns zwischen Wahrnehmungskulturen bewegen können, so wie sich Elektronen zwischen den Bahnen eines Atoms bewegen. Diese Bewegung kostet Energie: Bewegen, forschen und lesen kostet Arbeit. Aber sie kann auch Licht ausstrahlen – ähnlich wie ein Photon in der Physik – und uns Erkenntnisse vermitteln. Praktiken, die für uns als moderne Menschen Kunst sind, verlangen von uns, außerhalb unseres bereits erworbenen Wissens zu denken. Das ist es, was wir Erkenntnis oder Inspiration nennen. Sich zwischen Wahrnehmungskulturen zu bewegen, ist wie eine Reise, allerdings weniger eine Reise des Körpers, als vielmehr eine des Geistes oder gar der Seele.

Jeder, der zeichnet, weiß, dass man beim Zeichnen lernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Wenn ich geometrische Muster zeichne, Manuskriptbilder kopiere oder klassische arabisch-türkische Musik auf meiner Oud spiele, setze ich mich mit meiner Umgebung allmählich in anderer Weise auseinander. Auch wenn ich Poesie aus der islamischen Welt (in Übersetzung) lese, erkenne ich allmählich nicht nur ihre Metaphern in der Welt um mich herum, sondern beginne, meine Gedanken durch Metaphern zu artikulieren, was oft eine wirksamere Kommunikation als die direkte Rede ist.

Umschlag von Wendy Shaws "What is Islamic Art? Between religion and perception", erschienen bei Cambridge University Press
Against exclusion: "My proposition is not competitive; it isn’t that one way of knowing is better than the others. It is that there is a richness of methods available in multiple perceptual cultures that current ways of knowing – in art history and otherwise – fail to recognise. De-colonial art history enables the recognition of these methods in their multiplicity," says Shaw

Menschen, die Rituale ausüben – von religiösen Praktiken über Töpfern oder Yoga bis zum Laufen – erleben etwas Ähnliches. Die Kultur, über die wir uns mit der Welt auseinandersetzen, hängt davon ab, was wir in dieser tun. Indem wir mehr aus verschiedenen Quellen lernen, erkennen wir uns in mehreren Wahrnehmungskulturen und drücken uns in ihnen aus.

Interkulturelle Auseinandersetzung wird seit langem über die Vorstellung von "Einfluss" analysiert, der die Gewinnung von Mustern inspiriert – von der Industrie des neunzehnten Jahrhunderts bis hin zu zeitgenössischen Diskussionen über kulturelle Aneignung. Aber das bezieht sich alles auf die Oberfläche. Oberflächen spiegeln tiefe Geschichten und eine große Vielfalt an bedeutungsvollen Begegnungen.

Die islamische Wahrnehmungskultur lässt viele der von uns normalisierten Grenzen verschwimmen, sowohl zwischen den Sinnen als auch zwischen verschiedenen Medien. Was ist Kunst, wenn das Hauptsinnesorgan das Herz ist?

Architektur kann Poesie sein; Musik kann darstellend sein; Geometrie lehrt ohne Symbole. Man kann unmöglich vorhersagen, was irgendjemand, auch Künstler, entdecken wird, der mehrere Wahrnehmungskulturen in sich aufnimmt. Eines ist jedoch sicher: Indem wir die Kraft aufwenden, aus unseren normalen Bahnen herauszuspringen, wachsen wir. Und wenn wir Glück haben, strahlen wir möglicherweise etwas aus, wenn wir zurückspringen.

Behält die europäische kunsthistorische Tradition im postkolonialen Diskurs des 21. Jahrhunderts überhaupt noch einen Wert? Wie lassen sich deren bestehende Prämissen mit solch erweiterten Referenzbedingungen in Einklang bringen?

Shaw: Seit etwa den 1990er Jahren beschäftigt sich die postkoloniale Kunstgeschichte – einschließlich eines Großteils meiner frühen Arbeiten – mit dem "Was" und erweitert den Kanon dessen, was als Kunst gelten kann. Dies gilt in Bezug auf die Region ebenso wie in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Kunst und Handwerk. Denn ein starkes grundlegendes Interesse in der Kunstgeschichte, das "Warum", beruht auf der Hervorhebung kollektiver nationaler Identitäten mit klaren Geschichten. Doch das "Wann" – also wie Methoden zu verschiedenen Zeiten unterschiedlichen Bedürfnissen dienen – hat sich geändert und spiegelt unsere veränderten Bedürfnisse und Interessen. Folglich müssen sich auch unsere Methoden weiterentwickeln.

Dekolonialisierung und Methodenvielfalt

Der von mir vorgestellte Zugang ist nicht postkolonial, sondern dekolonial. Demnach gibt es mehrere Möglichkeiten, etwas über die Welt zu wissen, die von verschiedenen Wahrnehmungskulturen geprägt sind. Ich schätze weiterhin mein kunsthistorisches Wissen, mit dem ich Dinge in Zeit und Ort einordnen oder beispielsweise ihre ikonografische Bedeutung interpretieren kann. Aber ich schätze auch andere Formen des Wissens, die beispielsweise von der islamischen poetischen Tradition geprägt sind.

Mein Zugang steht nicht im Wettbewerb. Es geht nicht darum, dass eine Form des Wissens besser ist als andere. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Methoden, die in verschiedenen Wahrnehmungskulturen verfügbar sind, die von gegenwärtigen Wissensformen nicht berücksichtigt werden – in der Kunstgeschichte und auch sonst. Dekoloniale Kunstgeschichte ermöglicht die Anerkennung dieser Methoden in ihrer Vielfalt.

 

Eine solche Vielfalt ist für mich normal. Ich brauchte ein halbes Leben, um das artikulieren zu können, denn die moderne Welt konditioniert uns über Nationalismus-Ideologien, durch die wir uns kategorisch definieren. Dabei sind viele von uns Migranten, mit komplexen Konstellationen und Vermächtnissen von orts- und klassenübergreifenden Bewegungen.

Viele von uns praktizieren mehrere Kulturen gleichzeitig. Wir wechseln die Codes, wir wechseln die Formen. Wir sind so sehr mit den Dominanzsystemen vertraut, dass die Forderung nach Gleichheit radikal erscheint; obwohl sie eigentlich ganz elementar ist. Selbstverständlich behalten europäische Kunst und Kunstgeschichte ihren Wert. Aber der Wert sollte nicht auf Kosten anderer gehen.

Seit einigen Jahren wird viel diskutiert über die Integration von Migranten und insbesondere von Muslimen in die Kultur des "jüdisch-christlichen" Europas. Wie stehen Sie dazu?

Shaw: Jüdisch-christlich ist einer jener Begriffe, die selbsterklärend scheinen. Aber im Jahr 1933 gab es keinen "jüdisch-christlichen Westen". Der Begriff "jüdisch-christlich" wurde ursprünglich in Deutschland von Protestanten als Schmähung gegen Katholiken verwendet, da diese "blind" für die wahre Religion seien und deshalb zu jüdisch.

In den 1950er Jahren wurde der Begriff in den Vereinigten Staaten zum Zwecke der Integration recycelt. Von dort aus breitete er sich in Europa aus, also zu einer Zeit, als Europa nach tausend Jahren regelmäßiger Verfolgungen (seit dem Ersten Kreuzzug) seine jüdischen Bevölkerungen fast ausgelöscht hatte. Das "jüdisch-christliche Europa" suggeriert ein biblisches Erbe. Doch es beruht auf der physischen Absenz von Juden. Auch tauchen nicht viele Juden in Übersichten zur europäischen Kunstgeschichte auf. Ich bestreite also, dass es sich um einen Begriff der Integration handelt. Ich stufe dies eher als einen Mythos ein, der die Wiedervereinigung Europas und seine fortgesetzte Selbstidentifikation in Abgrenzung zum Islam ermöglichte.

 

Der Islam ist "dem Westen" ebenso wenig fremd, wie der Westen dem Islam

 

Umgekehrt wurden Teile Europas achthundert Jahre lang in Spanien und fünfhundert Jahre lang auf dem Balkan unter islamischer Hegemonie regiert. Darunter lebten sowohl Juden als auch Christen zwar nicht als Gleichberechtigte, wohl aber als relativ geschützte Bevölkerungen. Das zeigt sich darin, dass sie überlebten, sogar aufblühten, oft auch als Mehrheitsbevölkerungen. Das bedeutet nicht, dass es überall friedlich zuging, aber weder Bündnisse noch Streitigkeiten verliefen stets entlang religiöser Linien.

Die islamischen Kulturen sind integraler Bestandteil Europas. Das gilt sowohl in konstruktiver Hinsicht (von Algebra über Flamenco und höfischer Liebe bis zur Optik) als auch im Selbstverständnis Europas in Abgrenzung zu islamischen Kräften aus dem Süden und Osten. Der Islam ist auch ein integraler Bestandteil Nord- und Südamerikas. Etwa ein Viertel der in Westafrika gekauften Sklaven waren Muslime. Ein Großteil der spanischen Ästhetik meines Heimatstaates Kalifornien entstammt dem Erbe der islamischen Kultur in Andalusien. Der Islam ist "dem Westen" ebenso wenig fremd, wie der Westen dem Islam.

Wenn man diese Zusammenhänge bedenkt, kann man die Mythen, die in unseren Gesellschaften kursieren, neu überdenken. Mythen schlagen eine Brücke zwischen zwei Realitäten: Sie repräsentieren nicht nur die Vergangenheit, sondern thematisieren auch die Anforderungen der Zeit, in der sie entstanden sind, und die Art und Weise, wie sie weiterleben. Die Anforderungen der Nachkriegszeit sind nicht unbedingt die gleichen wie die unseren. Es ist vielleicht an der Zeit, dass Institutionen wie Museen und Zeitungen sich daran machen, weniger exklusive Mythen zu propagieren. Es ist befremdlich, dass vermeintlich säkulare Gesellschaften immer noch auf Religion zurückgreifen, um Unterscheidungen dieses anderen hässlichen Mythos namens "Rasse" zu verankern.

Welche Aussicht eröffnet Ihr Ansatz zur Überwindung eines solchen Konformitätsdrucks?

Shaw: Es gibt keinen zwingenden oder natürlichen Widerspruch zwischen religiösen Gruppen. Die Abgrenzungen sind politisch. Die Geschichten und Überzeugungen – sowohl in Bezug auf die abrahamitischen als auch auf die philosophischen Traditionen – werden weitgehend geteilt.

 

Die Frage ist alt: Träfen Moses, Jesus, Mohammed und der Buddha auf wundersame Weise aufeinander (wir könnten viele weitere nennen), würden sie sich bekämpfen oder umarmen? Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie sich bekämpfen würden. Aber ihre vermeintlichen Anhänger haben aus ihren Vorbildern oft nichts gelernt.

Wir sollten erkennen, dass die Geschichten über die Vergangenheit  keine schlichten Wahrheitserzählungen sind. Vielmehr produzieren sie die Welt als Spiegelbild bestimmter Interessen. Sie sprechen von Konformitätsdruck: Denken wir daran, wie jeder von uns sich an Dinge anpasst, mit denen wir vielleicht nicht einverstanden sind oder die wir als unethisch oder ungerecht empfinden. In vielen Lebensbereichen haben wir verlernt, konstruktiv zu diskutieren. Stattdessen schreien wir unsere Positionen heraus oder bleiben stumm. Wir haben das Vertrauen verloren, das Gemeinschaften befähigt und zusammenhält und das für diesen Diskussionsrahmen unerlässlich ist. Daher finde ich, es geht um eine viel größere Frage als die nach "Integration" oder "Assimilation".

Die Frage ist doch: Wie wandeln wir uns von Gesellschaften mit einem statischen Verständnis von Einheitlichkeit, die "andere" lediglich tolerieren, zu Gesellschaften, die durch die kollektive Auseinandersetzung mit einer vielfältigen Diversität wachsen? Wie setzen wir das in unserer lokalen Erfahrung um, ebenso wie in unserer Interaktion mit neuen Menschen und Kulturen? Ich hoffe, dass meine Arbeit zu den vielen Stimmen beiträgt, die die Fokussierung auf Abgrenzung durch gegenseitige Auseinandersetzung, Neugier und Zuneigung ersetzen.

Das Interview führte Lucy James

© Qantara.de 2021

Wendy M. K. Shaw ist Professorin für Kunstgeschichte Islamischer Kulturen an der Freien Universität Berlin. Für ihr Buch "What is ‘Islamic’ Art? Between Religion and Perception", erschienen bei Cambridge University Press, hat sie die Ehrennennung des Albert Hourani Book Award 2020 erhalten. Eine solche Anerkennung ist zuvor erst einmal an eine Kunsthistorikerin für Studien zum Nahen und Mittleren Osten vergeben worden.