Europa und die Herausforderungen der neuen Migration

Teile Europas sehen in den neuen Migranten eine Gefahr für seine säkulare und liberale Identität. Die britisch-pakistanische Islamwissenschaftlerin Mona Siddiqui von der Universität Edinburgh hält den Kontinent dennoch für genügend gefestigt, um der zunehmenden islamfeindlichen Rhetorik Paroli zu bieten. Mit ihr sprach Claudia Mende.

Von Claudia Mende

Frau Siddiqui, welchen Einfluss hat der Brexit auf die britischen Muslime?

Mona Siddiqui: Ich glaube nicht, dass es nur einen bestimmten Einfluss gibt, denn viele Muslime haben selbst für den Brexit gestimmt. Wir sollten uns lieber die Rhetorik rund um die Themen Brexit, Einwanderung und Migration insgesamt anschauen, nicht nur was Muslime betrifft. Obwohl es schon einige vereinzelte Hinweise darauf gibt, dass sich der Brexit gefühlt negativ für Muslime auswirkt.

Gefühlt?

Siddiqui: Ja, sie haben den Eindruck, dass die negative Rhetorik rund um Einwanderung und Migration sie auch beeinträchtigt, obwohl viele von ihnen britische Staatsbürger sind.

Warum haben denn Muslime für den Brexit gestimmt?

Siddiqui: Viele Muslime aus Südasien haben für den Brexit gestimmt, weil sie die neue Migration selbst ablehnen und diese begrenzen wollen. Sie sehen sich als Bürger des Vereinigten Königreichs und als Teil einer Dynamik, die Einwanderung aus der Europäischen Union beschneiden will, was ich ziemlich grotesk finde. Manche Muslime haben vergessen, dass sie selbst oder ihre Vorfahren auch einmal Einwanderer waren.

Heißt das, auch Muslime ringen um die Integration der neuen Migranten?

EU-Fahne vor dem Parlament in London; Foto: picture-alliance/dpa
Für EU-Austritt und gegen Zuwanderung: "Viele Muslime aus Südasien haben für den Brexit gestimmt, weil sie die neue Migration selbst ablehnen und diese begrenzen wollen. Manche Muslime haben vergessen, dass sie selbst oder ihre Vorfahren auch einmal Einwanderer waren", moniert Mona Siddiqui.

Siddiqui: Die meisten Migranten, die in neu in ein Land kommen, berühren das Leben der anderen ja gar nicht. Wenn Sie die syrischen Flüchtlinge meinen, dann ist für mich die zentrale Frage, welche Rolle Religion hierbei spielt. Warum Menschen sich zuerst als Bürger verstehen und nicht als jemand, der einen Glaubensgenossen aufnimmt und ob das gut oder schlecht ist. Oft wird das dann als Nationalismus ausgespielt, tatsächlich sind die Dinge an der Basis oft nuancierter. Es geht doch darum, dass Menschen sich respektiert fühlen, als Bürger anerkannt sind. Wenn dann andere neu hinzukommen, werden sie leicht als Problem gesehen - selbst wenn sie den gleichen Glauben haben.

Führt die neue Migration zu Fragen zur Identität auch bei den früher Zugewanderten?

Siddiqui: Ich bin mir nicht sicher, was diese Frage nach Identität bedeutet. Wie kann jemand, der neu ins Land kommt, meine Identität in Frage stellen? Es führt wohl dazu, dass Menschen ihre Identitäten überdenken, aber an diesem Punkt sollte die Zivilgesellschaft sich engagieren, anstatt Gruppen von Menschen gegeneinander auszuspielen oder sie als Problem zu betrachten. Wir müssen uns überlegen, wie wir mit den neuen Realitäten zurechtkommen.

Momentan wird Migration in Europa vor allem als Zuwanderung von Muslimen betrachtet, obwohl nicht alle Flüchtlinge Muslime sind.

Siddiqui: Unausgesprochen bleibt, dass Migration für viele Europäer ein Problem darstellt, weil es sich vor allem um eine muslimische Zuwanderung handelt. Diese sehen sie als eine Bedrohung für die säkulare, liberale Stabilität Westeuropas. Denn muslimische Zuwanderung bedeutet Differenz, bedeutet andere Kulturen, Sprachen und Religionsgemeinschaften. Die Frage ist doch, wie der Westen – der auch da, wo er katholisch oder evangelisch ist, eine säkulare Ausprägung hat  – auf diese neue Sichtbarkeit des Islam in der aktuellen Migration reagiert. Denn sie gestaltet sich heute anders als Zuwanderung der 1960er und 1970er Jahre.

Warum führt das zu so viel Unbehagen? Liegt es daran, dass durch Muslime Religion wieder stärker im öffentlichen Raum sichtbar wird?

Flüchtlinge auf dem Weg nach Großbritannien; Foto: Imago
Fehlende Willkommenskultur: "Die meisten Migranten, die neu in ein Land kommen, berühren das Leben der anderen ja gar nicht. Es geht doch darum, dass Menschen sich respektiert fühlen, als Bürger anerkannt sind. Wenn aber andere neu hinzukommen, werden sie leicht als Problem gesehen - selbst wenn sie den gleichen Glauben haben."

Siddiqui: Auf jeden Fall. Die meisten Muslime sehen anders aus, und sie werden ihre Rechte in der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz einfordern. Aber selbst wenn sie das nicht täten, wäre die schiere Präsenz einer steigenden Zahl von Muslimen ein Problem für das säkulare Westeuropa. Auch dann, wenn Muslime selbst kein Problem mit der säkularen Gesellschaft haben, ist die Wahrnehmung so, dass die Frau oder der Mann islamischen Glaubens eine Bedrohung für die Säkularisierung darstellt.

Die neue Migration hat zu einem Erstarken der Rechtspopulisten geführt. Was lässt sich dem entgegensetzen?

Siddiqui: Es ist schon ein wichtiger Schritt, über solche Fragen offen und ehrlich zu sprechen. Trotz dieser Menschen, die der Angst vor den Migranten erliegen, gibt es doch auch viele, die versuchen, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Alle diejenigen, die sagen, wir sollten unsere Türen weiter öffnen, weil die Flüchtlinge leiden. Es sind dieselben meist weißen, säkularen westlichen Bürger, die Fremde und Flüchtlinge aufnehmen wollen. Deshalb bin ich nicht ganz pessimistisch. Die Politik in den Nationalstaaten aber ist regelrecht vergiftet, was zum Anstieg der Rechtspopulisten geführt hat. Warten wir ab, was in Frankreich passiert. Es braucht nicht viel, um Menschen zu verunsichern, davon bin ich überzeugt. Dann ist es immer leicht jemanden zu finden, der anders ist und daher als Sündenbock taugt.

Werden Muslime und Flüchtlinge die neuen Sündenböcke?

Siddiqui: Ich glaube nicht, dass es schon soweit ist. Für die meisten Muslime ist Europa immer noch ein Zuhause. Aber es ist leicht, die Zuwanderung von Muslimen zu benutzen, um zu sagen: So sind sie alle und sie stellen alle ein Problem dar. Selbst diejenigen, die seit 40, 50 Jahren hier leben. Das kann schnell zu der Wahrnehmung führen, dass der Islam selbst eine existenzielle Bedrohung für Westeuropa darstellt. Dieses Narrativ kann man immer weiter treiben, bis es ein gewaltiges Konfliktpotential enthält. Aber ich glaube, dass Europa großzügig und liberal genug ist, um zu wissen, dass dies nicht der richtige Weg ist und rechtzeitig aus einer derartigen Rhetorik aussteigt.

Sind nicht die Erwartungen an Migranten widersprüchlich? Formal müssen sie sich lediglich an die Gesetze halten wie jeder andere Bürger auch. Aber unterschwellig besteht die Erwartung, dass sie ihre Herkunftskultur ablegen.

Siddiqui: Die Sichtbarkeit des Islam ist für viele Menschen das Problem. Sie dürfen ja ihre Religion ausüben, aber warum müssen sie so anders aussehen? Warum müssen sie sich auf eine bestimmte Art und Weise kleiden? Das ist das öffentliche Kennzeichen ihres Glaubens – und viele Menschen verstört das. Für viele Migranten entspricht es aber einfach dem, was sie sind. Ich sehe nicht, dass sich eine dieser beiden Perspektiven aufheben lässt. Es gibt diese Erwartung an die Migranten: 'Wenn Ihr nach Europa kommt, dann müsst Ihr Eure alte Kultur ablegen, also europäischer werden!' Aber was heißt das? Bedeutet das, säkular zu werden und so zu leben wie ein Europäer? Viele Migranten möchten das nicht. Das heißt aber nicht unbedingt, dass sie die liberalen Freiheitsrechte ablehnen.

Sollen sie ihre Community verlassen?

Siddiqui: Es wird zwar nicht explizit so gefordert, aber das ist es, was viele Europäer wollen. Die Muslime sollen aus ihren Communities kommen und so werden wie wir, selbst wenn unklar bleibt, was das genau heißt.  Aber auch Muslime führen Debatten über diese Fragen.  Was erwarten wir von unseren Gemeinden? Was machen wir in Europa? Welche Art von Islam wollen wir?

Heute verlangen die Migranten der dritten und vierten Generation nach aktiver Teilhabe in der Gesellschaft. Ist das der Stoff für mehr Kontroversen?

Siddiqui: Ich würde das anders nennen. In Großbritannien gibt es muslimische Abgeordnete im schottischen und im nationalen Parlament, muslimische Stadträte. Man betrachtet es nicht so als forderten sie mehr Teilhabe. Sadiq Khan wurde von einem kosmopolitischen London zum Bürgermeister  gewählt. Man kann natürlich sagen, dass London eine Ausnahme ist, aber er hat nicht nach Teilhabe verlangt. Er will schlicht jemand sein, der es wert ist, gewählt zu werden.

In den letzten 20 Jahren gab es in Westeuropa besondere Aufmerksamkeit für diversity am Arbeitsplatz. Jeder bekommt diversity trainings. Es geht um die Erfüllung von Quoten für mehr Geschlechtergerechtigkeit, religiöse und ethnische Vielfalt. Das hat zu einem neuen Denken bei Migranten geführt: Ich mache den Job nicht, weil ich Muslim bin, sondern weil ich davon überzeugt bin, ihn machen zu können. Die Medien machen daraus eine größere Sache als sie tatsächlich ist.

Großbritannien hatte lange ein entspannteres Verhältnis zu Migration als etwa Deutschland. Gilt das heute noch?

Siddiqui: Obwohl zurzeit die rechte Presse in Großbritannien sehr aggressiv ist, existiert noch genug von dieser liberalen, Laissez-faire-Haltung der Briten, die immer noch lieber einfühlsam sein möchte als zu polarisieren. Das heißt nicht, dass Rassismus oder Diskriminierung nicht existieren, natürlich gibt es sie. Aber es ist nicht so, als könnte ein Muslim eine bestimmte Position nicht erreichen. Trotz eines stärker polarisierten Klimas hat Migration nicht nur eine längere Geschichte als in Deutschland. Es gibt immer noch viele Menschen, die die Integration weiter fördern wollen.

Gastfreundschaft für den Fremden ist eine zentrale Forderung von Religion. Gleichzeitig wird Migration heute vor allem als Bedrohung gesehen. Wie passt das zusammen?

Siddiqui: Es gibt die Theorie der Gastfreundschaft, aber gelebte Gastfreundschaft ist etwas ganz anderes. In der Theorie sagen wir alle nette Dinge, aber in der Praxis ist Gastfreundschaft eine große Herausforderung, egal ob privat oder politisch. Zwischen Theorie und gelebter Gastfreundschaft liegen Welten.

Interview und Übersetzung: Claudia Mende

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