"Europa hat ein Problem mit Religion"

Die finnische Islamophobie-Forscherin Linda Hyökki kritisiert, dass in Europa einerseits der Individualismus als kulturelle Norm hochgehalten wird, andererseits die Toleranz schnell ein Ende findet, wenn es etwa um Religiosität und Verschleierung geht. Mit ihr sprach Marian Brehmer.

Von Marian Brehmer

Islamophobie wird als "übertriebene Furcht, Hass und Feindseligkeit gegenüber dem Islam und Muslimen" definiert. Wie haben Sie sich entschlossen, für Ihre Doktorarbeit zu Islamophobie zu forschen?

Linda Hyökki: Seit 2016 bin ich Koautorin des Europäischen Islamophobie-Reports. Als Akademikerin ist mir aufgefallen, dass es an Forschung zu Islamophobie in Finnland mangelt. Der Islam wird üblicherweise als Religion von Migranten wahrgenommen. Ich fand es interessant, mich mit Finnen zu beschäftigen, die in einem nichtreligiösen Umfeld aufgewachsen sind, aber sich den Islam als Religion ausgesucht haben. Wie in vielen anderen Ländern führte der Flüchtlingsinflux im Jahr 2015 in Finnland eine neue Welle der antiislamischen Rhetorik mit sich. Ich bemerkte, dass mein Land sich in eine Richtung entwickelte, die ich nicht für gut heißen konnte.

Wie entsteht Islamophobie?

Hyökki: Es gibt ein Phänomen, das als "Rassifizierung der Muslime" bezeichnet wird. Muslime werden so behandelt, als sei der Islam eine Rasse. Anti-muslimische Ressentiments werden so zu Rassismus. Man bedient sich derselben Terminologie wie im biologischen Rassismus. Deshalb sprechen wir in unserem Forschungsfeld häufig von Islamophobie als "anti-muslimischem Rassismus". Islamophobie hat nicht nur mit Vorurteilen zu tun, sie ist eine institutionalisierte Form der Diskriminierung. Übrigens sollte betont werden, dass Islamophobie kein Phänomen ist, das erst nach dem 11. September entstanden ist. Muslime wurden weit vor 9/11 diskriminiert. Es gibt eine lange Geschichte anti-islamischer Gesinnung, ein Blick in den europäischen Orientalismus genügt. Allerdings gibt es seit 9/11 eine Eskalation dieser Tendenzen.

Wie werden in Finnland Islam-Konvertiten wahrgenommen?

Hyökki: Auch wenn man eine geborene Finnin ist, wird man als Konvertitin zum Islam zur Fremden, da man nicht mehr in der Ursprungskultur akzeptiert wird. In Finnland werden Muslime einer angeblich nordischen Rasse gegenübergestellt. In einem Statement zur Gesichtsverschleierung behauptete die Präsidentschaftskandidatin Laura Huhtasaari von der populistischen Finn-Partei, dass muslimische Frauen ja keine freie Wahl hätten. Ihr Kommentar "Ich als nordische Frau habe die Freiheit, zu entscheiden ob ich Hosen oder Röcke trage" bedeutet in meinen Augen, dass sie muslimische Frauen in Finnland aus dem geographischen und kulturellen "Wir" ausschließen möchte. Die Ironie liegt darin, dass Finnland linguistisch gesehen noch nicht einmal Teil der nordischen Länder ist.

Eine muslimische Frau mit Kopftuch; Foto: Georg Wendt/dpa
Mit zweierlei Maß: "Einerseits wird Individualismus als kulturelle Norm hochgehalten: 'Sei du selbst!' Andererseits scheint die Gesellschaft nicht bereit zu sein, mit ein paar verschleierten Frauen fertig zu werden. Im letzten Jahrhundert waren es die Punks. Letztendlich geht es doch nur um ein Kleidungsstück. Wenn dieses jedoch mit Religion zu tun hat, wird es plötzlich problematisch", meint Hyokki.

Welche Formen der Diskriminierung gegenüber Konvertiten zum Islam haben Sie beobachtet?

Hyökki: Während meiner Feldforschung habe ich sowohl Männer als auch Frauen interviewt und versucht, etwas über ihre Erfahrungen herauszufinden. Ein Mädchen schilderte mir, wie ihre Mutter ein Sorgentelefon für Opfer von Religionen anrief, als sie erfuhr, dass ihre Tochter zum Islam konvertiert war, da sie fürchtete, sie sei einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Eine andere junge Frau erzählte, wie sie als beste Schülerin ihres Abiturjahrgangs das Gymnasium abschloss und eigentlich die Jahrgangsrede hätte halten sollen. Da sie jedoch Muslimin war, verbot der Schulleiter ihr das Reden mit dem Argument, dass ein Mädchen mit Kopftuch nicht für die Schule sprechen könnte. Außerdem habe ich mit muslimischen Konvertiten gesprochen, die in Gesundheitsberufen arbeiten und Mobbing am Arbeitsplatz ausgesetzt waren. 

Wo haben diese Formen von Diskriminierung ihre Wurzeln?

Hyökki: Wie in vielen europäischen Ländern gibt es ein Bild vom Islam als die fremde Religion, die sich nicht mit der finnischen Lebensart vereinbaren lässt. Aber ich habe gemerkt, dass finnische Konvertiten hier keinen Widerspruch sehen. Als finnische Muslimin kann ich mein Leben leben, ohne meine Kultur aufzugeben. Aufgrund von den bedauerlichen Fällen muslimischer Konvertiten, die sich radikalen Gruppierungen wie dem "Islamischen Staat" (IS) angeschlossen haben, werden Konvertiten oft als radikal abgestempelt. Dadurch wird ihre Rationalität und Fähigkeit, gesunde Entscheidungen bezüglich ihres Lebens zu treffen, infrage gestellt. Ich finde diese Einstellung sehr herablassend.

Tatsächlich jedoch gibt es viele Wege zum Islam. Manche entscheiden sich dazu, da sie einen stabilen Rahmen für ihr Leben benötigen, während andere sich eher für die spirituellen Aspekte des Islam wie den Sufismus interessieren. Es ist nicht schwarz und weiß. Verglichen mit Muslimen, die in europäische Gesellschaften geborenen wurden, sind wir jedoch aufgrund unserer "Weißheit" privilegiert. Ich kann mein Kopftuch abnehmen und würde als weißes Mädchen in der Masse durchgehen. Islamophobie schließt Elemente wie Geschlecht und Ethnie mit ein. Farbige muslimische Frauen sind stets Schikanen ausgesetzt, ob mit oder ohne Kopftuch.

Wie gehen Menschen mit dieser Art von Diskriminierung um?

Hyökki: In meiner Forschung habe ich herausgefunden, dass viele meiner Interviewpartner äußerst resilient sind. Ich war davon ausgegangen, dass Islamophobie das Leben von Konvertiten sehr schwer macht. Stattdessen jedoch sehen viele diese Erfahrungen als Prüfung von Gott oder Schulung in Geduld. Sie fragen sich: Wie kann ich am besten nicht-aggressiv auf diskriminierendes Verhalten reagieren? Kann ich Menschen mit Argumenten schlagen? Ich habe gesehen, dass finnische Muslime bereit sind, der Ungerechtigkeit die ihnen widerfährt, entgegenzutreten, anstatt sich in die passive Opferrolle zu begeben.

Wie sehen Sie die Debatten um Kopftuch und Verschleierung, die in vielen europäischen Ländern vorherrschen?

Hyökki: Ich möchte für jedermanns Recht eintreten, das zu tragen was er oder sie will. Ich verschleiere mein Gesicht nicht, habe jedoch Freundinnen die dies aus spirituellen Gründen tun. Ich denke, dass oft mit zweierlei Maß gemessen wird: Einerseits wird Individualismus als kulturelle Norm hochgehalten: "Sei du selbst!" Andererseits scheint die Gesellschaft nicht bereit zu sein, mit ein paar verschleierten Frauen fertig zu werden. Im letzten Jahrhundert waren es die Punks. Letztendlich geht es doch nur um ein Kleidungsstück. Wenn dieses jedoch mit Religion zu tun hat, wird es plötzlich problematisch. Ein anderes Beispiel: Es wird viel über Polygamie im Islam gesprochen. Das moderne Lifestyle-Konzept der Polyamorie jedoch erscheint vielen als akzeptabel. Sobald du etwas aus religiösen Gründen tust, wird es zum Problem. Europa hat ein Problem mit Religion.

Islamkritiker argumentieren häufig, dass Muslime jegliche Form von Kritik am Islam als Islamophobie ablehnen. Was halten Sie davon?

Hyökki: Hier besteht eine feine Abgrenzung. Etwas zu kritisieren, bedeutet, in einem Dialog zu sein. In einer Diskussion geht es darum, den anderen zu respektieren. Wenn man jedoch eine diffamierende Sprache verwendet oder den anderen entmenschlicht, dann ist das keine Kritik mehr. Jeder kann kritisieren und etwas infrage stellen. Kritik sollte jedoch mit einer Offenheit einhergehen, Entgegnungen und Erklärungen von der Gegenseite anzunehmen und womöglich die andere Seite zu akzeptieren oder sogar seine eigene Meinung am Ende zu revidieren.

Welche Wege gibt es, der Islamophobie entgegenzutreten?

Hyökki: Islamophobie kann man nicht auf einer Einbahnstraße entgegentreten. Muslime können etwas unternehmen, aber Nicht-Muslime müssen etwas unternehmen. Das ist der Unterschied. Als Muslimin muss ich mich nicht in die Straße stellen und Menschen fragen, ob sie etwas über den Islam hören wollen. Natürlich kann mir jeder, der wissbegierig ist, Fragen stellen. Tatsächlich jedoch gibt es immer eine Gruppe von Menschen, die kein Interesse hat und nicht lernen will. Diese Leute werden immer sagen, dass Muslime nicht genügend unternehmen.

Islamophobie muss ernst genommen werden und Teil des Lehrplans werden. Wir müssen Studenten beibringen, dass eine Beziehung zwischen Islamophobie und anderen Formen von Diskriminierung wie Antisemitismus, Eurozentrismus und Rassismus existiert. Auf gesetzlicher Ebene haben viele europäische Staaten Islamophobie bisher nicht als etwas erkannt, das gesetzlich geahndet werden kann. Wenn dies der Fall wäre, könnte die Polizei Fälle von Hassverbrechen besser verfolgen.

Wie denken Sie kann Ihre Forschung zum Kampf gegen Islamfeindlichkeit beitragen?

Hyökki: Als Akademikerin sehe ich meine Rolle darin, den üblichen Narrativen etwas entgegenzusetzen. Ich möchte meine akademischen Bemühen mit sozialem Aktivismus verbinden. Ich versuche, der muslimischen Community etwas zurückzugeben und sehe mich dabei selbst als kritische Forscherin. Gegenüber meinen Forschungssubjekten bin ich rechenschaftspflichtig. Ich möchte die Nuancen, die es gibt, vermitteln. Obwohl ich momentan in der Türkei lebe, stehe ich mit dem muslimischen Studentennetzwerk in Finnland in Verbindung. Ich versuche so oft wie möglich, den Mund aufzumachen, auf Konferenzen, bei Diskussionen und auf Podien. Mein Traum ist, dass mein Land zu einem Ort wird, der für jeden inklusiv ist. Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit sollten nicht an Religion, Ethnie oder Geschlecht geknüpft werden. Dies ist mein langfristiges Ziel als Akademikerin.

Das Interview führte Marian Brehmer.

© Qantara.de 2018

Die Islamophobie-Forscherin Linda Hyökki ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Islam und internationale Beziehungen der Sabahattin Zaim Universität Istanbul und Doktorandin am "Institut für Allianz der Zivilisationen" der Ibn Haldun Universität.