"Wir brauchen eine Erneuerung des Denkens"

Die geplante Reform des Erbrechts in Tunesien ist ein mutiger Schritt, dem sich auch andere arabische Länder anschließen sollten, meint die bekannte ägyptische Schriftstellerin und Frauenrechtsaktivistin Nawal El Saadawi. Mit ihr hat sich Imane Mellouk unterhalten.

Von Imane Mellouk

Frau Saadawi, wie beurteilen Sie den neuen Gesetzentwurf, der die Gleichstellung von Mann und Frau im tunesischen Erbrecht vorsieht?

Nawal El Saadawi: Ganz klar, es ist ein absolut positiver Schritt. Wir brauchen die vollständige Gleichstellung von Mann und Frau in der arabischen und islamischen Welt. In vielen Ländern der Welt ist sie bereits Realität, doch die arabischen Länder haben diesbezüglich noch viel Nachholbedarf.

Gleichstellung und Gleichberechtigung dürfen sich aber selbstverständlich nicht auf das Erbrecht und die gesetzlichen Regelungen zur Anerkennung der Nachkommenschaft beschränken. Vielmehr muss auch in Fragen der Eheschließung, Scheidung und allen anderen relevanten Aspekten eine Gleichstellung erzielt werden. Es darf nicht sein, dass die Menschen aufgrund von Religionszugehörigkeit, Geschlecht oder sozialer Stellung diskriminiert werden. Das ist für mich eine absolute Selbstverständlichkeit, die grundsätzlich nicht zur Debatte stehen sollte.

Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass gerade Tunesien als erstes muslimisches Land einen solchen mutigen Schritt in Richtung Gleichstellung wagt?

El Saadawi: Tunesien nimmt eine Vorreiterrolle ein, weil es dort eine starke Frauenrechtsbewegung gibt. Dies hat auch historische Gründe: Seit der Präsidentschaft von Habib Bourguiba konnte Tunesien einen Vorsprung in Hinblick auf die Frauenrechte erzielen; und die progressive Weltsicht des derzeitigen Präsidenten Beji Caid Essebsi trägt ebenfalls dazu bei, dass Tunesien bei der Gleichstellung von Mann und Frau voranschreitet.

Allerdings gibt es auch in Tunesien noch eine Menge zu tun, obwohl das Land eine Vorreiterrolle einnimmt. Früher hatte Ägypten eine solche Vorreiterrolle inne, doch seit der Präsidentschaft Anwar El-Sadats sind wir ins Hintertreffen geraten. Das Ziel muss daher sein, eine vollständige rechtliche Gleichstellung zu erreichen, nicht nur in Ägypten, sondern in allen arabischen Ländern.

Frauenrechtsdemonstration in Tunesien; Foto: DW
صادق مجلس الوزراء التونسي على مشروع قانون يساوي بين الرجل والمرأة في الميراث ليتبقى بذلك أمام القانون المثير للجدل الخطوة الأهم وهي موافقة البرلمان عليه.ويقول مشرعون تونسيون إن القانون سيكفل الحرية للشخص في طريقة توزيعه للميراث سواء وفقاً للآية القرآنية التي تحدد نسبة كل فرد في العائلة، أو وفق القانون الجديد بالتساوي بين الرجل والمرأة.

Warum entbrennt die ganze Diskussion um die Gleichstellung von Mann und Frau im Erbrecht ausgerechnet jetzt?

El Saadawi: Nachdem Anwar El-Sadat an die Macht kam, verlor Ägypten den Anschluss, weil er und seine Regierung mit den israelischen, amerikanischen und britischen Kolonialmächten kooperierten. Ägypten litt damals und leidet bis heute noch unter den Auswirkungen des Kolonialismus. Seit den 1970er Jahren ist der gesellschaftliche Fortschritt im Land zum Erliegen gekommen, aber nach der Revolution im Januar 2011 hat Ägypten dank seiner Jugend wieder einen großen Sprung nach vorne gemacht.

Kann Tunesien ein Vorbild sein, an dem sich die anderen arabischen Staaten, insbesondere Ägypten, ein Beispiel nehmen? Und angesichts dessen, dass der ägyptische Präsident Abdel Fatah al-Sisi zu einer Erneuerung des religiösen Diskurses aufgerufen hat, könnten wir in der nächsten Zeit eine ähnliche Initiative in Ägypten erleben?

El Saadawi: Ich persönlich glaube nicht, dass es so etwas wie ein allgemeingültiges Musterbeispiel gibt. Vielleicht werden sogar andere Länder noch an Tunesien vorbeiziehen. Denn in jedem Land gibt es Versuche, gewisse Fortschritte zu erzielen. Man könnte aber mit Bestimmtheit sagen, dass jedes Land von der Entwicklung in Tunesien auf seine eigene Art lernen kann. Auch wir in Ägypten machen Schritte in die richtige Richtung. Ich schreibe heute in "Al-Ahram" und "Al-Masry al-Youm" Artikel, die ich zur Zeiten Sadats und Nassers nicht hätte veröffentlichen können. Es geht also voran, auch wenn vor uns noch ein langer Weg liegt. Die tunesischen Frauen, das tunesische Volk und der tunesische Präsident verdienen unseren Respekt. Und wir versuchen jetzt, es ihnen gleichzutun.

Denken Sie, dass die anderen arabischen Gesellschaften wirklich bereit sind, einen solchen Schritt zu machen?

El Saadawi: Sie sind dazu bereit, wenn auch die politischen Systeme und Gesellschaften dieser Länder dazu bereit sind und sich ein progressives Verständnis in den Staaten durchsetzt. All diese Faktoren spielen eine entscheidende Rolle. Das Wichtigste ist, dass sich dieses progressive Denken zusammen mit der Politik weiterentwickelt. Religion muss dabei Privatsache bleiben, sie darf keinen Einfluss auf Politik und Gesellschaft haben.

Glauben Sie, dass die Gleichstellung im Erbrecht ein Meilenstein auf dem Weg zur vollständigen Gleichberechtigung von Mann und Frau in der arabischen Welt ist?

El Saadawi: Das Gesetz wäre ja nicht der erste Vorstoß. Es wurden ja bereits einige Fortschritte erzielt, wir fangen ja keinesfalls bei Null an. Geschichtliche Entwicklungen bauen immer aufeinander auf. Dieser Schritt ist daher einer von vielen, die dazu beitragen, Fortschritte zu erzielen und die Menschen dazu ermutigen, über die Gleichstellung im Erbrecht und die gesetzlichen Regelungen zur Anerkennung der Nachkommenschaft zu diskutieren.

Kritiker meinen, dass es einen Konflikt zwischen den nach geltendem Recht verbrieften Frauenrechten einerseits und der gelebten Realität andererseits gäbe, der hauptsächlich auf die mangelhafte Umsetzung in der gesellschaftlichen Praxis zurückzuführen sei. Was halten Sie von diesem Standpunkt?

El Saadawi: Ich habe Tunesien ja bereits mehrfach besucht und würde sagen, dass die Gesetze dort schon weiter sind als es der gesellschaftlichen Realität der Frau entspricht. Das liegt meines Erachtens daran, dass einerseits politische Führungskräfte wie Essebsi Mut beweisen und sich - wie bereits Habib Bourguiba – für eine progressive Gesetzgebung einsetzt.

Andererseits halten die politischen, religiösen und kulturellen Umstände mit dieser positiven Neuerung nicht mit. In Hinblick auf die Frauenrechte ist die Gesetzgebung zwar progressiv, jedoch können die Frauen weder ihre Rechte ausschöpfen, noch kann die Regierung diese vollständig durchsetzen. Deswegen brauchen wir ein tiefgreifendes kulturelles, intellektuelles und politisches Umdenken, das dieser Hydra den Kopf abschlägt und diejenigen, welche die Religion für ihre Zwecke missbrauchen, ins Mark trifft.

Könnte die Verabschiedung von Gesetzen, die nicht im Einklang mit dem islamischen Recht stehen, nicht zu sozialen und religiösen Konflikten führen? Immerhin geht es hier um fest verankerte kulturelle Gegebenheiten in den arabischen und islamisch geprägten Ländern.

El Saadawi: Gesetze müssen manchmal mit der gesellschaftlichen Realität im Widerspruch stehen. Es gibt nichts, was in Beton gemeißelt ist. Wir leben im 21. Jahrhundert und  sprechen seit 100 Jahren in den immer gleichen Floskeln über die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wir liegen 100 Jahre zurück und sind die leeren Versprechungen inzwischen leid!

Alles ändert sich irgendwann – und das wird auch in Zukunft der Fall sein. Die Menschen, ob jung oder alt, wollen nicht mehr, dass Religion und Politik missbraucht werden. Sie wollen nicht mehr ausgenutzt werden – weder durch ihre eigenen Herrscher, noch durch Außenstehende. Es besteht kein Zweifel daran, dass es eine Erneuerung des religiösen Diskurses und eine intellektuelle Revolution des religiösen Denkens braucht.

Das Interview führte Imane Mellouk.

© Qantara.de 2019

Nawal El Saadawi ist ägyptische Schriftstellerin und Frauenrechtsaktivistin. Sie gehört zu den Vorkämpferinnen der modernen feministischen Bewegung in der arabischen Welt.

Aus dem Arabischen von Thomas Heyne