"Konflikte um befreites Mossul sind vorprogrammiert"

Die Europaabgeordnete Barbara Lochbihler (Grüne) betont im Gespräch mit Friedel Taube, dass die Befreiung Mossuls noch keinen endgültigen Frieden für den Irak bedeutet. Sie fordert daher einen Plan für die Nachkonflikt-Zeit.

Von Friedel Taube

Frau Lochbihler, Sie halten sich gegenwärtig in Erbil auf. Welche Eindrücke haben Sie von Ihrer bisherigen Reise im Nordirak?

Barbara Lochbihler: Mir geht es vor allem darum, dass man bei der Befreiung von Mossul keine Kriegsverbrechen toleriert. Als Menschenrechtspolitikerin erinnere ich mich noch sehr gut daran, was im Mai 2016 bei der Befreiung von Falludscha passiert ist. Viele Zivilisten kamen ums Leben, es gab Folter und Hinrichtungen. Am letzten Samstag habe ich mich mit dem Chef der Nationalen Menschenrechtskommission sowie mit Vertretern der EU und der Vereinten Nationen getroffen. Die haben mir alle gesagt, dass den hochrangigen Militärs klar sei, dass sie so etwas verhindern müssen. Dass sie ihre Truppen anhalten müssen, keine Rache zu üben. Das war mir wichtig zu hören. 

Hat man Ihnen auch gesagt, was genau unternommen werden soll, um solche Gewaltakte zu verhindern?

Lochbihler: Nach Falludscha hat man ja versucht aufzuarbeiten, was dort passiert ist. Letzte Woche hatten wir den irakischen Außenminister im Parlament in Brüssel zu Gast, der sagte, Falludscha dürfe sich nicht wiederholen. Spezifisch ist er dabei allerdings nicht geworden. Umso wichtiger ist es, dass man gesicherte Informationen bekommt aus den Dörfern vor Mossul und natürlich aus Mossul selbst.

Wie schätzen Sie die momentane humanitäre Situation vor Ort ein?

Lochbihler: Im Irak ereignet sich die weltgrößte humanitäre Katastrophe überhaupt. Sie wird aber wegen des Krieges in Syrien gar nicht mehr so wahrgenommen. Im Irak brauchen mehr als zehn Millionen Menschen humanitäre Hilfe, darunter 3,3 Millionen Zivilisten, die aus ihren Orten vertrieben wurden, manche schon das zweite oder dritte Mal. Im "Worst-Case-Szenario" der Hilfsorganisationen brauchen nochmal zusätzlich zwei bis drei Millionen Irakis humanitäre Hilfe.

Sind denn die dort aktiven Hilfsorganisationen ausreichend mit Mitteln ausgestattet, um mit dieser Situation umzugehen?

Flüchtlingslager im nordirakischen Gebiet Makhmour nahe Mossul; Foto: Reuters/A. Jalal
Drohendes Worst-Case-Szenario: "Gegenwärtig gibt es in den Lagern rund um Mossul 17.000 bis 18.000 Flüchtlinge. Ein Vertreter der Vereinten Nationen, der sich mit den Routen im Osten beschäftigt, rechnet aber mit 60.000 Flüchtlingen. Damit könnte man dann nicht mehr umgehen. Man bräuchte in diesem Fall noch viel mehr Mittel", warnt Barbara Lochbihler, Europaabgeordnete von Bündnis90/Die Grünen und frühere Vorsitzende von Amnesty International Deutschland.

Lochbihler: Gegenwärtig gibt es in den Lagern rund um Mossul 17.000 bis 18.000 Flüchtlinge, womit die Helfer noch gut umgehen können. Sie errichten derzeit Zelte, besorgen Essen, Hygieneartikel und so weiter. Ein Vertreter der Vereinten Nationen, der sich mit den Routen im Osten beschäftigt, rechnet aber mit 60.000 Flüchtlingen. Und damit könnte man dann nicht mehr umgehen. Man bräuchte in diesem Fall noch viel mehr Mittel. Von den 284 Millionen US-Dollar, die die Vereinten Nationen für humanitäre Hilfe in Mossul einwerben wollten, hat sie bisher erst die Hälfte bekommen. Mir hat man gesagt, dass Deutschland eigentlich sehr gut und großzügig helfe, aber der Appell richtet sich natürlich auch an andere Staaten - auch in der EU.

Die EU hat 50 Millionen Euro an Hilfe für Mossul zugesagt. Ist diese Summe ausreichend?

Lochbihler: Das kann reichen, aber nicht, wenn es zum Schlimmsten kommt. Auch zivilgesellschaftliche Gruppen wie der "Norwegische Flüchtlingsrat" sagten mir, dass man nicht gut aufgestellt sei, wenn viele Flüchtlinge kommen. Aber sie arbeiten dran. Ich habe mich jetzt davon überzeugt, dass die EU ihre eigenen humanitären Hilfsstrukturen verfeinert hat und eng verzahnt mit den UN arbeitet.

Ein weiteres Problem das mir aufgefallen ist: Jeder, der aus Mossul rauskommt, wird überprüft - vor allem junge Männer um die 18 Jahre. Erst nach dieser Kontrolle können die Menschen in ein Flüchtlingslager ziehen. Natürlich wollen sowohl die Kurden, als auch die irakische Regierung sehen, wer mit dem IS kollaboriert hat. Allerdings dauert dieses Screening lange, es ist nicht transparent, und immer wieder werden Flüchtlinge zu Unrecht verdächtigt, mit dem IS kollaboriert zu haben. Ich werde daher auch in Gesprächen mit kurdischen Vertretern unterstreichen, dass dieser Prozess qualifiziert gehandhabt werden muss.

Schiitische Batallione auf dem Weg nach Mossul; Foto: Reuters
Gut zwei Wochen nach dem Beginn ihrer Großoffensive sind irakische Streitkräfte in die Dschihadisten-Hochburg Mossul eingerückt. Die "wirkliche Befreiung" der nordirakischen Stadt aus den Händen der Extremisten-Miliz Islamischer Staat (IS) habe nun begonnen, erklärte jüngst der Kommandeur der irakischen Spezialeinheiten CTS. Jedoch ist das Schicksal der vielen Zivilisten in der Millionenmetropole ungewiss. Die Menschenrechtsorganisation "Save The Children" forderte Fluchtkorridore für die hunderttausenden Kinder in Mossul. Es sei dringend nötig, "sichere Passagen zu öffnen", damit die in der Stadt lebenden 1,5 Millionen Zivilisten, darunter 600.000 Kinder, die Stadt verlassen könnten, hieß es.

An der Offensive auf Mossul sind Parteien mit völlig verschiedenen Interessen beteiligt. Wie geht es weiter, wenn die Stadt gänzlich eingenommen wird?

Lochbihler: Die irakische Regierung nimmt die Schlacht zum Anlass, sich mit anderen Parteien wie den Kurden offiziell zu vereinigen. Das Vertreiben des IS wird aber nicht die Frage lösen, was aus Mossul letztlich wird. Meine Gesprächspartner haben mir gesagt, dass wahrscheinlich jede beteiligte Partei Anspruch auf das jeweils befreite Gebiet erheben wird. Wenn das geschieht, ist der nächste Konflikt vorprogrammiert. Auch wenn die Befreiung von Mossul so brutal vonstatten wie befürchtet, dann kann man davon ausgehen, dass die Konflikte wieder aufflackern werden. Es ist höchste Zeit für einen Versöhnungsprozess.

Welche Rolle kann die EU dabei spielen?

Lochbihler: Die EU wird von der Bevölkerung als ein "ehrlicher Makler" empfunden. Ihre Hilfe wird wertgeschätzt. Viele wünschen sich, dass sich die Europäische Union proaktiv in den politischen Prozess einbringt. Wenn ich das als Europaabgeordnete höre, bin ich natürlich auch dafür. Ich weiß aber auch, wie im Europäischen Rat oft gestritten wird und wie die EU geschwächt wird, weil sie nicht mit einer Stimme spricht.

Die EU sollte den Konflikt im Irak mehr in den Fokus nehmen, als sie es bisher getan hat. Man sieht es auch hier in Erbil: Man braucht großzügige Unterstützung beim Wiederaufbau der Infrastruktur, beim Bau und Management der Flüchtlingslager. Man benötigt mehr als nur ein Dach über dem Kopf – zum Beispiel Zugang zu Bildung.

Das Gespräch führte Friedel Taube.

© Deutsche Welle 2016

Barbara Lochbihler ist außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament und Vizepräsidentin des EP-Menschenrechtsausschusses. Sie ist u.a. Mitglied bei Amnesty International Deutschland.