"Identität ist etwas sehr Flüssiges"

"Made in Germany" ist ein Gütesiegel, wenn es um Produkte geht. Doch was bedeutet "Made in Germany", wenn es um Menschen geht? Das fragt sich die deutsch-kroatische Autorin Jagoda Marinic in ihrem neuen Buch. Darüber hat sich Srecko Matic mit ihr unterhalten.

Von Srecko Matic

Jagoda Marinic ist eine gewichtige Stimme in der Einwanderungsdebatte. Sie sagt: Selbstverständlich ist Deutschland ein Einwanderungsland. Hier leben 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Die gebürtige Kroatin und deutsche Autorin lebt in Heidelberg, wo sie das Kulturprogramm des bundesweit ersten International Welcome Centers leitet.

Frau Marinic, was ist für Sie deutsch im heutigen Deutschland?

Jagoda Marinic: Das Deutsche ist heutzutage auf jeden Fall etwas anderes als vor 60 Jahren, als beispielsweise meine Eltern als Gastarbeiter kamen. Im Moment haben wir hier - aber auch europaweit - Bewegungen wie Pegida, die das verneinen wollen, die ein sehr enges, nationales Gefüge präferieren. Die sich wünschen, eine Identität könne für immer gleich bleiben, Menschen könnten in ein Land einwandern und letztlich nichts daran verändern.

Und mit diesem Aufschlag "Was ist deutsch in Deutschland" und aufgezogen an der Marke "Made in Germany" möchte ich einfach klar machen, dass das Land sich längst verändert hat, dass sich in den letzten 60 Jahren diese Identität einem Wandel unterzogen hat. Und: Das hat Deutschland sehr viel Positives gebracht, nämlich diese gemeinsam aufgebaute Marke, die ja jetzt leider immer mehr in Verruf gerät.

Bei der EM in Frankreich gibt es in der deutschen Mannschaft einige Spieler mit dem sogenannten Migrationshintergrund. Das ist für manche Rechtspopulisten wie Herrn Gauland von der AfD schwer zu ertragen. Ist Deutschland heute mehr Gauland oder mehr Boateng?

Marinic: Vielleicht kämpft Deutschland ein bisschen damit, aber Gauland wirkt ja tatsächlich ein bisschen wie herausgebeamt aus einer alten Zeit. Ich hatte vor Jahren schon einen Artikel geschrieben: "War Mesut Özils Vater auch Profi-Fußballer?" und habe darauf hingewiesen, dass es nicht zwingend die Herkunft der Eltern ist, die entscheidet, was wir zu einer Gesellschaft beitragen können.

Ich finde diese Rhetorik von Gauland dennoch sehr gefährlich, alles, was sich eigentlich fast normalisiert hatte, wieder zurück zu drehen und wieder in Frage zu stellen. Eigentlich hatten schon in den letzten zehn Jahren die meisten Fans gejubelt und es war egal, von wem das Tor war - es war die deutsche Mannschaft. Und plötzlich stellt er Fragen, die eigentlich längst beantwortet waren.

Pegida, AfD, Front National… wer ist eigentlich schuld an diesem Aufstieg der Rechtspopulisten in Europa?

Marinic: Es ist vor allen Dingen unsere Unfähigkeit, als ein Kontinent mit über 500 Millionen Menschen mit den Problemen der Welt umzugehen. Und ich glaube, schuld ist auch, dass Europa so lange geschlafen hat. Europa war in so einem liberalen Traum. Man hat nicht unbedingt verstanden, welche Position man eigentlich in dieser globalen Politik einzunehmen hat, ob man je überhaupt davon betroffen sein wird.[embed:render:embedded:node:18769]

Ich glaube, Europa war viel zu lange zu unpolitisch, und das haben manche Kräfte ausgenutzt und sich formiert und Strukturen geschaffen, auf die sie jetzt aufbauen können. Diese rechte Bewegung ist europaweit ja auch stark vernetzt und sorgt hier gemeinsam für einen Wandel, der Europa gefährdet. Sie gibt sich natürlich als Kraft, die etwas verteidigt, dabei ist die Art und Weise, wie sie das verteidigt, eigentlich eine der größten Gefahren für Europa, für die Werte, auf denen Europa aufgebaut ist.

Und was ist mit der Verantwortung der Politik? Wir haben seit Jahren große Krisen: Brexit, Euro-Krise, Flüchtlinge. Bei der politischen Elite herrschte teilweise große Orientierungslosigkeit und Mutlosigkeit...

Marinic:In weiten Teilen hat die Politik große Verantwortung, gerade wenn es um Rechtspopulismus geht. Denn gerade in Deutschland wurde ja jahrzehntelang behauptet, wir sind kein Einwanderungsland. Man hat eine Realität negiert, obwohl man 20 Millionen Menschen hier hat ankommen lassen, zur Welt kommen lassen, leben lassen. Und man hat eine Politik gemacht, die die Leute beruhigt: Nichts ändert sich, eine Vergewisserung, eine Welt könne bleiben, wie sie ist. Und dann hat die Politik vor vier, fünf Jahren gemerkt: Diese Welt hat sich ja doch verändert, wir kommen demographisch gar nicht zu Rande, diese Menschen brauchen wir, um den Standard zu sichern.

Wie kann man verhindern, dass die Fehler, die bei den "Gastarbeitern" gemacht worden sind, nicht wiederholt werden, wenn es um die Integration von Flüchtlingen geht?

Marinic: Aus Fehlern zu lernen, heißt für mich in diesem Fall, schneller Möglichkeiten zu schaffen, dass Menschen an einem Land teilhaben dürfen. Schneller die Möglichkeit zu geben, dass sie vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft sind, dass sie etwas zurückgeben dürfen. Die Menschen wollen ja auch arbeiten, die meisten - um so ein Land gemeinsam aufzubauen und ein gemeinsames Identitätsgefühl zu erzeugen.

Hat sich Angela Merkel da gut gekümmert oder hat sie auch Fehler gemacht und die Leute in Deutschland verunsichert?

Marinic: Angela Merkel war ja einerseits für kurze Zeit diese Lichtgestalt. Man dachte, sie ist die Europäerin, die Europa den Weg zeigen wird. Und sie ist es nicht geblieben, weil sie - glaube ich - auch immer zu viel nach hinten geguckt hat. Sie wollte führen, hat aber dauernd geguckt, wer kommt alles mit, wer kommt nicht mit – und es kamen zu wenige mit. Und sie hat auch zu wenige Angebote gemacht. Sie hat eigentlich nicht gesagt, wie sie das lösen wollte. Sie hat zwar betont: Wir müssen natürlich human sein, das ist nicht meine Welt, wenn ich die Leute quasi vor meiner Tür eingehen sehen oder sterben lassen muss. Ich muss die Tore öffnen.

Buchcover "Made in Germany - was ist deutsch in Deutschland?" (Quelle: Hoffmann und Campe)
Was politisch und gesellschaftlich lange Zeit verneint wurde: Deutschland ist schon seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland. 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, leben hier. Wie unterscheidet sich ihr Schicksal von dem der heutigen Einwanderer? Jagoda Marinic ist eine gewichtige Stimme in der Einwanderungsdebatte: Zuweilen zornig, aber auch voller Hoffnung erzählt sie von einem Einwanderungsland, das nie eines sein wollte.

Gleichzeitig hat sie aber nicht gesagt, wie sie dann ihren Kommunen und ihrem Land helfen möchte, mit diesen Fragen umzugehen. Es war immer ja und nein, meist unkoordiniert. Dadurch hat sie viele verloren. Sobald ein führender Mensch Zweifel äußert oder keine wirkliche Glaubwürdigkeit mitbringt, wird das natürlich schwierig für die Menschen. Andererseits hat sie uns an Werte erinnert. Und das darf man ihr auch nicht wegstreichen dadurch, dass es sich jetzt so entwickelt hat. Sie hat uns eine Zeitlang an Werte erinnert, die Europa gut zu Gesicht stehen. Im Grunde wird sie seither an sich selbst gemessen.

Ihre Eltern kommen aus dem Ausland, Sie haben Migrationshintergrund bzw. Migrationserfahrung, wie Sie sagen. Inwieweit beeinflusst dieser Blickwinkel - vielleicht ein anderer als der eines rein deutschen Autors - Ihre Literatur?

Marinic: Es ist eigentlich ganz einfach: Man schreibt, was man sieht. Oder das, was das Gesehene als Anregung bietet. Ein Kind, das in einer angeblich homogenen Welt lebt, das gibt es ja auch immer weniger. Die Kinder heute sind meistens mit 2-3 Kulturen konfrontiert. Ich lernte von Anfang an, wie relativ Kultur ist, wie sie sich wandelt, wie sie von Mensch zu Mensch, von Land zu Land anders gelebt wird. Natürlich gab es auch Kroaten in der Diaspora, die ganz andere Werte hatten als meine Eltern. Und meine Eltern hatten definitiv eine andere Art, ihren Alltag zu leben als Deutsche, wobei sie trotzdem viele ähnliche Werte hatten.

Man lernt letztlich, dass die Identität etwas ist, das sich zusammenbaut, das Menschen machen, das keine absolute Wahrheit ist. Man wird ein kritischer, hinterfragender Mensch, weil man einfach sieht: So gesetzt sind die Dinge nicht, die einem hier entgegenkommen.

Und ich empfinde das als eine Erweiterung meines Horizontes, das mir ermöglicht, meine Identität als etwas sehr Flüssiges zu begreifen. Als etwas, was ich permanent wandeln darf und womit ich mich auch selbst überraschen darf. Diese Haltung fließt auch in meine Bücher ein, in die Form. Sie fließt auch in meine politischen Text ein.Spielt dabei "Heimat" als Begriff eine Rolle? Wo fühlen Sie sich zu Hause?

Marinic: Natürlich hat das zu tun mit weniger Verortung. Ich bin keine, die mit dem Heimatbegriff allzu viel anfangen kann, ich muss nicht unbedingt sehr viel Boden haben oder ein Haus oder solche Dinge. Aber ich bin in der Welt zu Hause. Ich fühle mich verantwortlich für diese Welt. Und ich denke, Leben zwischen mehreren Kulturen ist eines, das ich bereichernd finde. Das würde ich sagen, obwohl es schon tausend Mal gesagt wurde.

Sie brauchen kein Haus. Aber ein kleines Häuschen in Dalmatien, der Heimat Ihrer Eltern, wäre doch schön?

Marinic: Natürlich - ich habe nichts gegen ein Haus, das schön ist. Aber mich könnte kein Politiker mit einem Foto der Heimat dazu bewegen, ihm meine Stimme zu geben. Ich brauche schon Inhalte, Themen. Und was glaube ich passiert ist - das merke ich immer mehr: Ich bin in Deutschland zu Hause - ich fühle mich in Kroatien wohl. Ich war nie viel in Kroatien, doch es hat geprägt. Ich bin aber auch in den USA glücklich. Und wurde dort geprägt. Also man ist schon Weltbürger, wenn man die Möglichkeit dazu hat. Sicher haben meine zwei ersten Kulturen dazu beigetragen, dass ich das so empfinde.

Srecko Matic

© Deutsche Welle 2016

Jagoda Marinic ist Autorin und Kolumnistin. Sie leitet das Interkulturelle Zentrum in Heidelberg. Sie wurde 1977 in Waiblingen als Kind kroatischer Eltern geboren und wuchs zweisprachig auf. In Heidelberg studierte sie Germanistik, Politikwissenschaft und Anglistik. Der "Spiegel" rechnete ihr Romandebüt "Die Namenlose" zu den wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres 2007. 2013 erschien ihr Roman "Restaurant Dalmatia", den die Süddeutsche Zeitung ein "Denkmal" nannte, die FAZ "große Kunst".