Eine Allegorie der Diktatur

Die prominente ägyptische Journalistin und Schriftstellerin Mansura Eseddin hat die Revolution am Nil in Essays, Kurzgeschichten und in ihrem neuen Roman literarisch verarbeitet. Arian Fariborz hat sich mit ihr in Kairo unterhalten.

Von Arian Fariborz

Ihre kürzlich auch auf Englisch erschienene Novelle "Gotische Nacht" liest sich wie eine düstere Fiktion im Stile Orwells. Einige Leser verstehen die Geschichte als Allegorie auf die Unentrinnbarkeit aus den Fängen einer Diktatur und ziehen Parallelen zur politischen Situation in Ägypten am Vorabend der Revolution. Stimmen Sie mit dieser Lesart überein?

Mansura Eseddin: In dieser Kurzgeschichte gibt es nicht nur die eine Sicht der Dinge, sondern mehrere Perspektiven und Interpretationsmöglichkeiten. Ich wollte mit "Gotische Nacht" aufzeigen, wie Menschen die Kontrolle über ihr Schicksal verlieren. Die Novelle zeigt auch den Bruch in der Kommunikation zwischen zwei Menschen auf. Die Inspiration zu dieser Geschichte kam mir durch einen Albtraum, den ich vor einigen Jahren erlebt hatte und in dem mir ein großer schwarzer Riese mit einem Mantel begegnete, der in den Straßen herumläuft und auf Menschen zeigt, die daraufhin verschwinden. Als ich jäh aus dem Schlaf erwachte, hatte ich das Gefühl, dass dieser Traum tatsächlich unser Leben widerspiegelt, dass wir von einer Minute auf die nächste verschwinden oder sterben können. Es hat mir die Verwundbarkeit der Menschen vor Augen geführt.

In dieser Geschichte geht es um zwei Städte. In der einen lebt ein Riese, der blind ist und der den Menschen die Sehfähigkeit nimmt, die andere Stadt liegt auf einem Berg, unter der sich eine stürmische See ausbreitet. Die Menschen kämpfen ständig darum, nicht ins Meer zu fallen. Es dreht sich alles um diesen permanenten Überlebenskampf und die Allgegenwart des Todes. Natürlich kann man "Gotische Nacht" auch als Allegorie auf eine Diktatur verstehen: Ich hatte eine Gesellschaft im Sinn, die unter einer Willkürherrschaft leidet und die allmählich zu ersticken droht. Diese Geschichte habe ich zwei Wochen vor der Revolution in Ägypten geschrieben, und zu jener Zeit hatte ich tatsächlich das Gefühl, allmählich zu ersticken. Ich hatte keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes. Mein neuer Roman "Smaragdberg", der vor zwei Monaten auf Arabisch erschienen ist, greift einen Teil dieser Novelle auf, wenn auch in einem anderen Kontext.

Die ägyptische Revolution und der Sturz des Mubarak-Systems hat Sie aus dem Schreiben herausgerissen. Sie waren fast täglich auf dem Tahrirplatz in Kairo, um mit Millionen anderen Ägyptern für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Wie haben Sie den Umbruch persönlich erlebt?

Demonstranten am 8. Februar 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo; Foto: AP
Die Revolution hat gesiegt: "Ich glaubte daran, dass wir als Individuen und als Volk unser Schicksal selbst in die Hand nehmen, unser Land und die Welt verändern können", erinnert sich Mansoura Essedin.

Eseddin: Vor dem Beginn der Revolution war ich sehr verzweifelt. Ich hatte nicht mehr ernsthaft daran geglaubt, dass ein wirklicher Wandel einsetzen würde – mit all den Repressionen und Folterskandalen wie im Fall des Aktivisten Khaled Said im Jahr 2010. Ich hatte das Gefühl, dass wir in einem Schlachthaus leben und nicht in einem Staat, der die Gesetze und Persönlichkeitsrechte achtet. Doch dann gab es tatsächlich Anzeichen, dass sich die Dinge ändern.

Vor dem 25. Januar 2011 war ich nicht besonders politisch engagiert, da ich generell kein Interesse an Politik hatte. Ich hielt sie ohnehin für eine Farce, da es keine wirkliche Opposition gab, Orwellsche Verhältnisse herrschten. Alles war falsch, auch die Absichtserklärungen der Politiker besaßen absolut keinen Wahrheitsgehalt. Die Revolution war für mich daher wie ein Wunder. Am Abend des 25. Januar kamen mir tatsächlich die Tränen. Als ich mich schließlich an den Demonstrationen beteiligte, habe ich mich als Individuum plötzlich sehr stark gefühlt. Ich glaubte daran, dass wir als Individuen und als Volk unser Schicksal selbst in die Hand nehmen, unser Land und die Welt verändern können. Natürlich habe ich mich auch hauptsächlich wegen meiner Tochter an der Revolution beteiligt, die damals acht Jahre alt war, weil ich wollte, dass sie in einem besseren Land leben sollte als ich.

Der Wendepunkt war für mich der 28. Januar 2011, der "Tag des Zorns": Ich hatte zusammen mit einigen Freunde an einer Demonstration gegen Mubarak teilgenommen, die an der Amr Ibn al-Aas-Moschee ihren Ausgang nahm. Es war ein friedlicher Protestzug, doch von der ersten Minute an wurde gleich mit aller Härte und Gewalt geantwortet. Es wurde mit Tränengas und Gummigeschossen auf die Demonstranten gefeuert. Es war ein sehr gewalttätiger Tag, und ich merkte wie sehr mich das auch persönlich traf und wütend machte. Ich fühlte in mir eine geradezu persönliche Feindschaft gegen das Regime und diese Unterdrückung.

War die Januar-Revolution auch die Initialzündung für einen neuen Literaturboom am Nil oder hatte dieser Trend bereits am Ende der "bleiernen Zeit" der Mubarak-Ära eingesetzt?

Eseddin: Es gab diesen Literaturboom, der sich vor all den Dingen in Blogs junger Schriftsteller manifestierte, die regelmäßig publizierten, bereits unter Mubarak. Die Revolution war das Erbe dieser vielfältigen Entwicklung in der Medien- und Literaturszene. Viele dieser Blogger sind später dann auch politisch aktiv geworden. Natürlich gab es damals wie heute rigide Zensurmaßnahmen und Medienkontrollen, wobei Zensur ja nicht allein politische, sondern auch gesellschaftliche Wurzeln hat.

Graffiti Vertreter der nationalistischen Urabi-Bewegung Ägyptens; Foto: Arian Fariborz
Bruch mit der Vergangenheit: "Von den alten Idolen, der Trauer über den Untergang des ägyptischen Nationalismus haben viele Schriftsteller längst Abschied genommen. Eine neue Autorengeneration von Schriftstellern und Bloggern ist mittlerweile nachgerückt, die sich als 'Kinder der Welt' verstehen. Und sie waren es auch, die die Rhetorik der Revolution von Anfang an bestimmten", meint Mansoura Essedin.

Doch trotz dieser Zensurmaßnahmen hat vor allem die jüngere Schriftstellergeneration sehr viel Mut bewiesen, es wurden viele Tabus gebrochen. Verleger wie Mohamad Hashem waren in dieser Hinsicht sehr engagiert und haben diese Entwicklung bewusst gefördert. Das hat letztlich auch andere Schriftsteller beflügelt.

Aber die neue ägyptische Literatur befand sich bereits vor der Revolution im Umbruch. Von den alten Idolen, den überkommenen Werten und der Trauer über den Untergang des alten Nationalismus hatten viele ohnehin längst Abschied genommen. Eine neue Generation von Schriftstellern und Bloggern rückte nach, die sich als „Kinder der Welt“ verstanden. Und sie waren es auch, die die Rhetorik der Revolution von Anfang an bestimmten und formten. Aber auch nach der Revolution gab es durch die Neuen Medien wie Facebook einen gewaltigen Durchbruch. Heute wiederrum gibt es Schriftsteller, die völlig anders schreiben, als die Autorengeneration vor der Revolution. Es sind junge Menschen, die in zwei Jahren sehr viel erlebt haben. Sie sind durch ein soziales und politisches Erdbeben gegangen und haben sich von sehr vielen Zwängen gelöst, die früher noch als gottgegeben vorausgesetzt wurden.

Der Frühling der Freiheit für Ägyptens Literatur- und Medienschaffenden war jedoch nur von kurzer Dauer. Heute gibt es wieder die bekannten roten Linien für unabhängige, regimekritische Autoren und Journalisten. Wie kam es dazu?

Eseddin: Zu Beginn der Regierungszeit Mohamed Mursis hatte ich erstmals das Gefühl, dass die Freiheiten eingeschränkt wurden. Er hatte zunächst keine Kontrolle über die Medien. Im Dezember 2012 gab es dann allerdings sehr viele Proteste, Todesfälle und auch Fälle von Folter. Die Medienfreiheit wurde schließlich Schritt für Schritt nach dem Ende Mursis am 30. Juni 2013 eingeschränkt. Seitdem hat in der Medienlandschaft nur eine Stimme das Sagen, die anderen Massenmedien orchestrieren lediglich. Zwischentöne sind unerwünscht.

Sie haben früher einmal gesagt, dass die Revolution ein fortdauernder Prozess ist, Rückschläge für die demokratische Entwicklung Ägyptens seien verständlich. Glauben Sie, dass die liberalen und säkularen Kräfte des Landes heute noch einmal in der Lage sind, das Ruder in Richtung Demokratie rumzureißen?

Eseddin: Also, wenn ich heute auf das zurückblicke, was ich 2011 in meinen Artikeln geschrieben habe, so ist mir mein damaliger Optimismus fast schon peinlich. Ich glaube, dass die Situation, so wie sie sich gegenwärtig darstellt, unhaltbar geworden ist – aus dem Grund, weil all die Probleme und Ungerechtigkeiten, die es bereits vor der Revolution gab, heute weiter existieren. Ich befürchte, dass die nächste Welle der Revolution noch gewalttätiger sein wird, mehr als wir das ertragen können – eine Konfrontation, die alles wegwischt und auslöscht. Es ist wie ein Kampf zwischen einem Spieler und einem Verrückten, wobei keiner weiß, wer der Gegner ist.

Interview: Arian Fariborz

© Qantara.de 2014

Redaktion: Loay Mudhoon/Qantara.de

Mansura Eseddin, 1976 im Nildelta in Ägypten geboren, studierte Journalismus an der Universität Kairo und arbeitete bis August 2011 bei "Akhbar al-Adab", einer der wichtigsten Literaturzeitschriften Ägyptens. Ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2010 wurde sie als eine der besten arabischsprachigen Autoren unter 40 ausgewählt. 2010 war sie als einzige Frau für den International Prize for Arabic Fiction nominiert. Ihr Roman "Hinter dem Paradies" erschien 2011 in deutscher Übersetzung im Züricher Unionsverlag. In ihrem neusten Roman "Smaragdberg" verwebt Eseddin Handlungsstränge aus den Geschichten aus 1001 Nacht und der persischen Mystik des 13. Jahrhunderts mit Episoden, die an modernen Schauplätzen der Gegenwart spielen, u.a. in der ägyptischen Hauptstadt während der Revolution vom 25. Januar 2011.