Interview mit der ägyptischen Aktivistin Sanaa Seif
"Das Regime muss seine Paranoia überwinden“ 

Ägyptens Präsident Abdel Fattah Al-Sisi sei getrieben von der Angst vor einem neuen Aufstand, sagt die Aktivistin Sanaa Seif. Im Interview spricht sie über den Kampf für die Freilassung ihres Bruders Alaa Abdel Fattah – und warum der Westen mehr Druck machen sollte. Andrea Backhaus hat sie in London getroffen.

Sanaa Seif ist eine der prominentesten Demokratie-Aktivistinnen Ägyptens. Gemeinsam mit ihrem Bruder Alaa Abdel Fattah und ihrer Schwester Mona Seif führte sie 2011 die Protestbewegung an, die Hosni Mubarak stürzte. Seit der Machtübernahme von Abdel Fattah al-Sisi setzen sich Seif und ihre Geschwister gegen die Repressionen des Militärregimes und für einen demokratischen Wandel ein.

Dafür zahlen sie einen hohen Preis: Alaa Abdel Fattah sitzt seit zehn Jahren nahezu ununterbrochen im Gefängnis, derzeit im Wadi el-Natrun-Gefängnis im Norden von Kairo. Auch Sanaa Seif war mehrfach in Haft, zuletzt 2021. Gerade ist sie zu Besuch in London, wo ihre Schwester seit einiger Zeit lebt.  

Frau Seif, wie geht es Ihrem Bruder? 

Sanaa Seif: Es liegen dramatische Monate hinter ihm. Alaa ist im vergangenen Frühjahr in einen Hungerstreik getreten. Im November hat er den Hungerstreik eskaliert, er hat nicht einmal mehr Wasser getrunken. Zu der Zeit kamen in Sharm el-Sheikh internationale Staatsführer zur UN-Klimakonferenz COP27 zusammen.

Alaa wollte ein Signal setzen und der Welt klarmachen, dass er die jahrelange Gefangenschaft nicht mehr aushält. Er ist in seiner Zelle zusammengebrochen. Er war bewusstlos und musste wiederbelebt werden. Seitdem nimmt er wieder Nahrung zu sich. Er sieht jetzt wieder gesünder aus und fühlt sich auch besser.

Alaa Abdel Fattah mit seinem Sohn Khaled; Foto: Andrea Backhaus
Aufwachsen ohne Vater: Handyfoto von Alaa Abdel Fattah und seinem Sohn Khaled, den er zuletzt vor zwei Jahren gesehen hat. Abgesehen von dieser schmerzlichen Trennung würde es Alaa besser als vor seinem Zusammenbruch im November 2022 gehen, meint seine Schweste Sanaa Seif. Damals war er im Hungerstreik in seiner Zelle bewusstlos geworden und musste wiederbelebt werden. Seitdem darf er Bücher und Magazine lesen und ist nach den Jahren der Isolation mehr mit der Welt verbunden. Diese Hafterleichterungen sind eine Folge der intensiven Kampagne für seine Freilassung während der Klimakonferenz COP27 2022 in Ägypten.

Hafterleichterungen nach der Klimakonferenz

Wie sind seine Haftbedingungen?  

Seif: Seit seinem Zusammenbruch sind sie etwas besser geworden. Alaa ist jetzt in einer Zelle mit einem Fenster, so dass er die Sonne spüren kann. In seiner Zelle steht ein Fernsehbildschirm, er kann Sportsender, Serien und Filme schauen. Wir können ihn einmal im Monat für zwanzig Minuten besuchen, hinter einer Glasscheibe. Die Glasscheibe ist problematisch.

Alaas Sohn Khaled, der jetzt 12 Jahre alt ist, ist nonverbal und teilt sich nicht mit Worten mit. Er würde nicht verstehen, warum sein Vater hinter einer Scheibe ist. Alaa hat ihn zuletzt vor zwei Jahren gesehen. Abgesehen davon geht es Alaa besser als vorher. Er darf Bücher und Magazine lesen und ist nach den Jahren der Isolation mehr mit der Welt verbunden. Er weiß natürlich, dass das Regime die Haftbedingungen nicht aus Wohltätigkeit verbessert hat.  

Sondern? 

Seif: Auf der COP27 habe ich mich ägyptischen zivilgesellschaftlichen Organisationen angeschlossen. Wir haben die internationale Öffentlichkeit genutzt, um über Alaas Zustand und die Menschenrechtsverstöße in Ägypten zu sprechen und viel Aufmerksamkeit bekommen. Klimaschutzgruppen haben große Solidarität mit den politischen Gefangenen gezeigt.

Staatsführer wie Olaf Scholz, Rishi Sunak und Emmanuel Macron haben das Sisi-Regime aufgefordert, Alaa freizulassen. Dann ging in Ägypten ein Video viral, das zeigt, wie ein regimenaher Abgeordneter von Sicherheitsleuten aus dem Saal gebracht wird, nachdem er versucht hatte, meine Pressekonferenz zu sabotieren. Das war peinlich für das Regime. Diese plötzliche Aufmerksamkeit für die Menschenrechtslage und meinen Bruder hat die ägyptischen Behörden überrascht. Deswegen behandeln sie ihn jetzt etwas humaner als vorher.  

Alaa Abdel Fattah war eine Ikone der ägyptischen Revolution. 2014 wurde er zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er ohne Genehmigung demonstriert hatte. Er kam 2019 frei, wurde aber kurz darauf erneut verhaftet und im Dezember 2021 zu weiteren fünf Jahren Haft verurteilt, weil er online einen Beitrag über Menschenrechtsverstöße in ägyptischen Haftanstalten geteilt hatte. Haben Sie eine so harte Strafe erwartet? 

Seif: Ich habe diese heftige Eskalation nicht erwartet. Alaa wurde nach seiner Festnahme in einen Hochsicherheitstrakt gebracht und gleich an seinen ersten Tagen dort geschlagen und gefoltert. Er durfte weder Bücher lesen noch eine Uhr tragen, er wusste nicht einmal, welcher Tag und wie spät es war. Das ging mehr als zwei Jahre so, bis sie ihn im vergangenen Jahr ins Wadi el-Natrun-Gefängnis verlegt haben.
 

 

Das ganze Vorgehen war unlauter. Es gab kein Gerichtsverfahren, der Richter hat einfach ein Urteil verhängt. Als Alaas Anwalt Mohamed el-Baker Alaa vor der Staatsanwaltschaft verteidigen wollte, wurde auch er verhaftet. Ein solches Ausmaß an Ungerechtigkeit hatte ich nicht erwartet.  

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