"Ich vermisse ein kontinuierliches Interesse an arabischer Literatur"

Hartmut Fähndrich ist einer der renommiertesten Übersetzer arabischer Literatur im deutschen Sprachraum. Nahezu sechzig Romane hat er ins Deutsche übertragen. Im Gespräch mit Ruth Renée Reif erklärt er, warum die arabische Literatur im deutschsprachigen Raum unterbewertet wird.

Von Ruth Reif

Herr Dr. Fähndrich, Unruhen und Bürgerkriege haben die Aufmerksamkeit auf die arabische Welt gelenkt. Nehmen diese Nachrichten Einfluss auf die Rezeption der arabischen Literatur hierzulande? Wecken sie Neugierde, auch die andere Seite der arabischen Welt kennenzulernen?

Hartmut Fähndrich: Davon ist nichts zu merken. Nach wie vor führt die arabische Literatur ein Mauerblümchendasein auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Das Angebot ist eher dürftig, vor allem gemessen an dem, was es gibt. Wir reden von zwanzig verschiedenen Ländern, die alle ihre eigene Literaturproduktion haben. Der arabische Frühling löste eher seltsame Reaktionen aus. Ich erinnere mich, dass ich etwa zwei Monate, nachdem die Demonstrationen begonnen hatten, Anrufe von Verlagen erhielt, wann endlich der erste Roman über den arabischen Frühling erscheine.

Haben Sie den Eindruck, dass die arabischen Autoren mehr als politische Repräsentation ihres jeweiligen Landes wahrgenommen werden und weniger als Schriftsteller?

Cover "Der Jakubijanbau" von Alaa al-Aswani; Foto: Lenos Verlag
"Autoren aus der arabischen Welt fühlen sich im Westen immer etwas unterbewertet. Statt ästhetische Fragen zu stellen, befragt man sie nach der Rolle der Opposition in ihrem Land", sagt Hartmut Fähndrich.

Hartmut Fähndrich: Das ist eindeutig der Fall. Dieses Phänomen konnten wir vor ein paar Jahrzehnten hinsichtlich der gesamten nichteuropäischen Welt beobachten. Die Autoren wurden ausschließlich nach den Inhalten und Aussagen ihrer Bücher beurteilt und nicht nach ästhetischen Kriterien. Für die lateinamerikanische Literatur hat sich das geändert, für die arabische aber nicht. Autoren aus der arabischen Welt fühlen sich im Westen immer etwas unterbewertet. Statt ästhetische Fragen zu stellen, befragt man sie nach der Rolle der Opposition in ihrem Land. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung mit einem marokkanischen Autor, der, über die marokkanische Innenpolitik befragt, zurückfragte, ob man den marokkanischen Innenminister umgekehrt über Literatur befrage.

Könnte eine bessere Kenntnis der arabischen Literatur dazu beitragen, das von der Berichterstattung über die politischen Ereignisse einseitig geprägte Bild zu relativieren?

Hartmut Fähndrich: Sie kann das Bild zumindest ergänzen. Ein arabischer Schriftsteller hat eine andere Sicht auf die Politik und Entwicklung seines Landes als ein europäischer Journalist, der ein paar Jahre dort lebt und vielleicht nicht einmal Arabisch kann und rapportiert, was die Presseorganisationen ihm mitteilen. Vielleicht wäre man von den Ereignissen in der arabischen Welt nicht so überrascht gewesen, wenn man etwas mehr arabische Literatur gelesen hätte.

Rückblickend betrachtet, gibt es eine Menge Bücher, in denen man Hinweise auf das Kommende hätte entdecken können. Das sind Texte, die im Verlauf der letzten fünfzig Jahre geschrieben wurden und die sich mit der wachsenden Unzufriedenheit sowie dem Gefühl von Revolte und Rebellion beschäftigen. Der Bekannteste ist der Roman „Der Jakubijân-Bau“ des ägyptischen Schriftstellers Alaa al-Aswani, in dem es um die Entstehung von Terrorismus als einer Version der Opposition geht. Auch Sonallah Ibrahim aus Ägypten übte in seinem Roman „Der Prüfungsausschuss“ eine vernichtende Kritik an der Öffnungspolitik oder an der, wie er es nannte, Ausverkaufspolitik der ägyptischen Regierung. Das Buch liegt auf Deutsch vor. Aber es hat sich miserabel verkauft.

Was von mehreren arabischen Autoren beklagt wird, ist die mangelnde Unterstützung westlicher Schriftsteller, die nicht den Dialog mit ihren arabischen Kollegen suchen würden…

Hartmut Fähndrich: Ich fände es schön, wenn deutschsprachige Schriftsteller ihren arabischen Kollegen den Weg bereiteten. Leider habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass deutschsprachige Schriftsteller sich nicht für arabische Literatur interessieren. Als ich Martin Walser einmal um ein Vorwort zu einem arabischen Roman bat, lehnte er ab mit der Begründung, er verstehe davon nichts.

Wie beurteilen Sie das Angebot an Titeln arabischer Autoren auf dem deutschsprachigen Buchmarkt?

Cover "Das Halsband der Tauben" von Raja Alem; Foto: Unionsverlag
"„Das Halsband der Tauben“ ist ein sehr komplexer Roman mit verschiedenen Handlungssträngen, Bildern und Entwicklungen. Er entspricht keinem Orient-Klischee, sondern ist ein eigenständiger und eigenwilliger Roman über eine Stadt, die der Pol des religiösen Denkens von eineinhalb Milliarden Menschen dieser Welt ist", erklärt Hartmut Fähndrich.

Hartmut Fähndrich: Der deutschsprachige Markt ist gekennzeichnet von einem Übergewicht des Ägyptischen und Libanesischen. Manche Länder fehlen dagegen gänzlich. Die arabische Halbinsel etwa ist völlig unterrepräsentiert. Jemenitische und omanische Literatur sucht man vergeblich. Saudische Literatur ist ebenfalls praktisch nicht vorhanden. Die maghrebinische Literatur wird meist nur aus dem Französischen übersetzt. Aus Tunesien liegen nur ein oder zwei aus dem Arabischen übersetzte Werke vor. Ähnliches gilt für Algerien und Marokko. Auch aus Mauretanien gibt es meines Wissens nichts, das aus dem Arabischen übersetzt wurde. Der Irak ist mit ein paar Büchern vertreten. Libyen mit einem einzigen Autor.

Sie haben soeben „Das Halsband der Tauben“ der saudi-arabischen Schriftstellerin Raja Alem übersetzt, einen Roman, der überhaupt nicht den Klischees entspricht, die man von Saudi-Arabien hat. Und es scheint, als würde man den Roman hierzulande kaum zur Kenntnis nehmen. Haben Sie den Eindruck, dass die Leser sich mit einer bestimmten Erwartungshaltung der arabischen Literatur zuwenden und ignorieren, was dieser Erwartung nicht entspricht?

Hartmut Fähndrich: Die arabische Literatur hat bei uns nach wie vor das Etikett von „Tausendundeine Nacht“. Das Werk spielt eine wichtige literarische Rolle. Aber gleichzeitig stülpt es ein Klischee über den Orient. Die neue „Tausendundeine-Nacht“-Übersetzerin erhält in Deutschland überall Einladungen. Da wird ein bisschen orientalische Musik gespielt und aus den „Märchen“ gelesen und die Säle sind voll. Wenn ich dagegen mit einem neuen Schriftsteller aus Syrien oder Libyen eine Lesung abhalten möchte, muss ich erst einmal eine Buchhandlung finden, die bereit dazu ist, und dann froh sein, wenn zehn oder zwanzig Zuhörer kommen. „Das Halsband der Tauben“ ist ein sehr komplexer Roman mit verschiedenen Handlungssträngen, Bildern und Entwicklungen. Er entspricht keinem Orient-Klischee, sondern ist ein eigenständiger und eigenwilliger Roman über eine Stadt, die der Pol des religiösen Denkens von eineinhalb Milliarden Menschen dieser Welt ist.

Stehen Ihnen als Übersetzer Möglichkeiten offen, Verlage zur Veröffentlichung arabischer Schriftsteller zu bewegen?

Hartmut Fähndrich: Grundsätzlich gibt es die Funktion des Scouts, also des Beraters, der den Verlagen Titel zur Übersetzung vorschlägt. Ich weiß von Übersetzern aus skandinavischen Sprachen, dass sie als Scout sehr gefragt sind. Bei der arabischen Literatur ziehen die meisten Verlage es jedoch vor, sich ihre Informationen aus dem Internet zu holen. Das ist für mich eine demoralisierende Haltung. Denn sie bedeutet, dass sie nur die Titel übersetzen können, die bereits auf Englisch oder Französisch vorliegen. Ich habe auf meiner Webseite eine Reihe von Werken aufgeführt, deren Übersetzung lohnenswert wäre, für die ich aber keinen Verlag finde. Dagegen werden Bücher übersetzt, die es nicht unbedingt wert wären, die aber mit einem Tabubruch und einem Skandal winken. Solche Übersetzungen haben natürlich kommerzielle Gründe, aber ob sie in unserem Verhältnis zur arabischen Welt eine Bereicherung darstellen, bleibe dahingestellt.

Welche Verlage im deutschen Sprachraum engagieren sich überhaupt für arabische Literatur?

Lesende Frauen auf der Kairoer Buchmesse; Foto: DW/Amira El Ahl
"Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich in arabischen Ländern an Buchläden vorbeigehe, was alles an deutscher Literatur übersetzt wurde. Elfriede Jelinek ist bekannt, ebenso Heinrich Böll. Es gibt auch Übersetzungen von Rilke, Hölderlin, Trakl und Grass", sagt Hartmut Fähndrich.

Hartmut Fähndrich: Die Verlage, die sich in den letzten Jahrzehnten am meisten mit arabischer Literatur beschäftigten, waren der Lenos Verlag in Basel und der Unionsverlag in Zürich. Im Verlag C. H. Beck bestand in den achtziger Jahren in Zusammenarbeit mit der Verlagsgruppe Kiepenheuer eine „Orientalische Bibliothek“. Dann gibt es die Edition Orient in Berlin und den Alawi-Verlag in Köln, der neue arabische Frauenliteratur herausgibt. Der Luchterhand Verlag hat den Roman „Azazel“ von Youssef Ziedan herausgebracht. Im Hanser Verlag sind einige Titel erschienen wie etwa der Roman „Morgen des Zorns“ des libanesischen Autors Jabbour Douaihy, und der Verlag zeigt sich auch offen für eine Fortsetzung der arabischen Titel. Inzwischen hat der S. Fischer Verlag angefangen, Romane des ägyptischen Schriftstellers Alaa al-Aswani zu veröffentlichen, und bei Suhrkamp sind in jüngster Zeit ein paar libanesische Titel erschienen. Was ich vermisse, ist ein kontinuierliches Interesse an arabischer Literatur. Ich würde mir wünschen, dass einer dieser Verlage einmal fünf oder zehn Werke aus verschiedenen Teilen der arabischen Welt übersetzte.

Wie ist es umgekehrt um die Kenntnis der deutschsprachigen Literatur in der arabischen Welt bestellt?

Hartmut Fähndrich: Es ist eine Menge bekannt. Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich in arabischen Ländern an Buchläden vorbeigehe, was alles übersetzt wurde. Elfriede Jelinek ist bekannt, ebenso Heinrich Böll. Häufig wird aufgrund persönlicher Initiativen übersetzt. Ich kannte einen libanesischen Übersetzer, der leider jüngst verstorben ist und der sich hauptsächlich mit Rilke, Hölderlin und Trakl beschäftigt hat. Meist sind es Vertreter der akademischen Germanistik, die Texte von Handke, Süskind oder Grass übersetzen.

Interview: Ruth Renée Reif

© Qantara.de 2014

Hartmut Fähndrich, geboren 1944 in Tübingen, studierte ab 1966 in Tübingen, Münster und Los Angeles Semitistik, Islamwissenschaften und Philosophie. Seit 1978 lehrt er an der ETH Zürich Arabisch und Islamische Kulturgeschichte. Seine Laufbahn als Übersetzer literarischer Werke begann er in den achtziger Jahren mit den Romanen des palästinensischen Schriftstellers Ghassan Kanafani. Von 1984 bis 2010 gab er die Reihe „Arabische Literatur“ beim Schweizer Lenos Verlag heraus.

Aufgrund seiner Verdienste um die Übersetzung arabischer Literatur erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1995 den Hieronymus-Ring des Verbands deutscher Schriftsteller, 2004 den Übersetzerpreis der Arabischen Liga, 2009 den Internationalen Übersetzerpreis des Hüters der beiden Heiligtümer König Abdallah Ibn Abdalaziz von Saudi-Arabien und 2013 die Médaille Joseph Zaarour der Université Saint Joseph in Beirut. Er übersetzte Werke des ägyptischen Schriftstellers Nagib Machfus, des palästinensischen Schriftstellers Emil Habibi sowie des libyschen Schriftstellers Ibrahim al-Koni. Kürzlich erschien im Unionsverlag seine Übersetzung des Romans „Das Halsband der Tauben“ der saudi-arabischen Schriftstellerin Raja Alem. Gegenwärtig arbeitet er an der Übersetzung eines neuen Romans des ägyptischen Schriftstellers Alaa al-Aswani, der im S. Fischer Verlag erscheinen wird

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de