Erdoğans Redefreiheit

Präsident Erdoğan hatte im April eine Gruppe von Akademikern, die in einem Aufruf das Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte gegen kurdische Rebellen kritisierten, als "niederträchtig" und "ekelerregend" bezeichnet. Als einer der Betroffenen reichte der Politologe Baskın Oran darauf eine Zivilklage ein und verlangte Schmerzensgeld von Erdoğan. Mit ihm sprach Selçuk Caydı

Von Selçuk Caydı

Hunderte von Journalisten, Karikaturisten und Wissenschaftlern wurden schon wegen Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten angezeigt. Sie haben nun Ihrerseits gemeinsam mit drei Kollegen einen Beleidigungsprozess gegen Erdoğan eröffnet. Warum?

Baskın Oran: Einige Akademiker haben einen Aufruf zum Stop des Kurdenkrieges initiiert. Erdoğan hat die Unterzeichner in mehreren Fernseh-Ansprachen schwer beleidigt. Er nannte sie niederträchtig, grausam, abscheulich, bezeichnete sie unter anderem als Landesverräter, Lumpen, und schmutziger Mob. Ich habe ihn aus drei Gründen angezeigt. Einmal konnte ich persönlich diese schweren Beleidigungen einfach nicht aushalten. Dann war da der berufliche Grund: Einige meiner Studenten und junge Akademiker wurden wegen ihrer Unterschriften unter diesen Aufruf ins Gefängnis gesteckt. Da konnte ich als emeritierter Professor nicht schweigen. Und es gibt den öffentlichen Grund: Ich wollte, dass jeder weiß, dass auch die Regierenden in der Türkei dem Recht unterstehen. Wer nur eine dieser Beleidigungen äußert, bekommt in der Türkei eine Geld- oder Haftstrafe. Besonders gravierend sind die Begriffe "niederträchtig" und "Landesverräter". Gegen Jugendliche, die auf Facebook solche Begriffe nutzen, hat Erdoğan mehr als 2.000 Prozesse eröffnen lassen. Also habe ich gegen den Staatspräsidenten ebenfalls einen Prozess eröffnet, schließlich hat er dieselben Begriffe benutzt.

Sie haben sich für den juristischen Weg entschieden, trotz des massiven Drucks der Regierung auf die Gerichte.

Oran: Was hätte ich sonst tun können? Soll ich von meinem "Recht auf friedliche Demonstration" Gebrauch machen, wie es im Paragraphen 34 der türkischen Verfassung verbrieft ist, um dann von Polizeifahrzeugen Tränengaswasser auf die Schnauze zu bekommen? Mich verprügeln lassen, um dann festgenommen zu werden? All das käme am Ende auch nur wieder Erdoğan zupass. Er braucht ja diese anhaltende Spannung und den Streit im Land, um sein Ein-Mann-Regime zu stabilisieren, nach der Devise "Wenn man den Menschen nur genügend Angst einjagt, suchen sie Zuflucht in autoritärer Herrschaft".

Der türkische Präsident Erdoğan; Foto: Getty Images/AFP/A. Altan
Autoritäre Restauration: "Erdoğan braucht ja diese anhaltende Spannung und den Streit im Land, um sein Ein-Mann-Regime zu stabilisieren, nach der Devise 'Wenn man den Menschen nur genügend Angst einjagt, suchen sie Zuflucht in autoritärer Herrschaft'", meint Oran.

Die Friedensrichter, die von Erdoğan selbst gegen das herkömmliche Richter-Prinzip ernannt wurden, entscheiden bereits in der ersten Sitzung über die Verhaftung der jeweiligen Angeklagten. Wenn Sie also nach Beendigung des Prozesses von einem richtigen Richter freigesprochen werden, bleiben sie dennoch zuvor monatelang im Gefängnis. Das ist Staatsterror. Da bleibt nur eins: Erdoğans Methode "Angriff ist die beste Verteidigung" zu übernehmen und selbst einen solchen Prozess anzustreben. Hinzu kommt, dass doch die Bürger des Landes diejenigen sind, die von der Justiz beschützt werden sollen, nicht die staatstragenden Personen. Wenn ich in der Türkei nicht zu meinem Recht komme, dann werde ich eben nach Straßburg gehen.

Sie haben 1984 einen Aufruf gegen das damalige Militärregime initiiert. Kann man die damalige Situation der Akademiker mit der heutigen vergleichen?

Oran: Ich habe zwischen 1960 und 1997 vier Militärputsche erlebt. Ich war 1971 im Gefängnis. Nach 1980 wurde ich für acht Jahre von der Uni geschmissen. Aber eine Zeit wie heute hat es noch nicht gegeben. Akademiker werden drangsaliert, bedroht und verlieren ihren Job, wenn sie eine Petition unterzeichnen. Zeitungen werden geschlossen, Urteile des Verfassungsgerichts und ganze Wahlen einfach einkassiert - als die letzte Wahl nicht zu Erdoğans Gunsten ausfiel, hat er 45 Tage lang die Regierungsgründung verhindert und danach Neuwahlen durchführen lassen.

Was bedeutet für Sie Mut?

Demonstration gegen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der Türkei; Foto: picture-alliance/dpa/S. Suna
Freie Meinungsäußerung unerwünscht: Kritiker werfen Erdogan vor, das Recht auf freie Meinungsäußerung immer weiter einzuschränken. Seit seinem Amtsantritt als Präsident im Sommer 2014 sind fast 2.000 Strafverfahren wegen mutmaßlicher Beleidigung des Staatsoberhauptes eingeleitet worden. In der Rangliste der Pressefreiheit, die von "Reporter ohne Grenzen" erstellt wird, belegt die Türkei derzeit den 151. von 180 Plätzen. Die Europäische Union drängt die Türkei, ihre Definition von Terrorismus abzuändern, so dass eine Verurteilung von Journalisten und Wissenschaftlern wegen "terroristischer Propaganda" nicht mehr möglich ist.

Oran: "Konsequent zu sein" trifft es eher. Ich bin pensioniert, meine Frau hat ein Einkommen, ich würde nicht verhungern. Und einen emeritierten Professor ins Gefängnis zu werfen würde dem Erdoğan-Regime mehr schaden als mir. "Mut" nenne ich, was der Richter Murat Aydın aus Izmir tat. Er beantragte beim Verfassungsgericht, den Paragraf 299 abzuschaffen, der die Präsidentenbeleidigung unter besondere Strafe stellt. Daraufhin wurde er nach Trabzon versetzt. Es wäre besser, wenn er in die Sahara versetzt worden wäre, Trabzon ist eine Gegend, in der vor der Gründung der Republik viele Armenier und Griechen lebten. Heute ist es die Kaaba der nationalistischen waffenverherrlichenden Konservativen an der östlichen Schwarzmeerküste.

Glauben Sie, dass Sie Ihren Prozess gewinnen werden?

Oran: Hab' ich doch schon! Wissen Sie, wie Erdoğan sich gegen die Anklagen von mir und meinen drei Akademikerfreunden verteidigte? Er sagte: ,Diese Dinge zu sagen' - er meint die Beleidigungen -, das gehört nun mal zu meiner Redefreiheit.'" Könnte es einen noch größeren Sieg geben gegen einen, der sich gerade in einen Diktator verwandelt? - Ich glaube übrigens daran, dass in der türkischen Justiz sehr ehrliche Richter arbeiten. Wenn wir bei unserem Prozess einen von ihnen bekommen, haben wir kein Problem. Außerdem gehen solche Initiativen in die Geschichte ein, so wie der "Bericht über Minderheiten", den ich 2004 schrieb oder die Unterschriftenkampagne "Wir entschuldigen uns bei den Armeniern", 2008, die 32.000 Menschen unterschrieben. Diese Aktivitäten können vielleicht nicht die Türkei von heute, aber vielleicht die von morgen zu einem Land machen, in dem es sich besser leben lässt.

Interview und Übersetzung: Selçuk Caydı

© Süddeutsche Zeitung 2016