"Mit Denkschärfe und Selbstkritik"

Anfang des Jahrtausends forschte der Jesuitenpater Felix Körner in Ankara und traf dort auf Theologen, die in freiheitlichem und fortschrittlichem Denken viele ihrer arabischen Kollegen hinter sich ließen. Inzwischen hat sich die Rolle der Religion am Bosporus stark gewandelt. Im Interview mit Carolin Kubo spricht Körner über die Verflechtungen von Religion und Staat und darüber, warum Deutschland im interreligiösen Dialog einen Startvorteil hat.

Von Carolin Kubo

Zwischen 2002 und 2008 haben Sie in Ankara geforscht und sich der interreligiösen Arbeit mit Theologen und Philosophen gewidmet. Damals feierte man den aufsteigenden Recep Tayyip Erdoğan als Visionär und Heilsbringer. Was ist aus "Ihrer" Türkei geworden?

Felix Körner: Ich kam in ein Land im Aufbruch. Man konnte geradezu sehen, wie die Türkei wuchs, in drei Dimensionen: Mehr Reichtum, mehr Vertrauen und auch mehr Pluralität. Verschiedenheit begann man zu genießen; die eine trägt Kopftuch, die andere nicht, und beides geht. Aber das ist so nicht weitergegangen. Jetzt erleben die alten Polarisierungsmuster, die wir aus dem 20. Jahrhundert kannten, eine Neuauflage.

Schon Anfang 2015 warnten Sie davor, wie Erdoğan unter anderem die Religion für seine politischen Zwecke instrumentalisiert. Und nun? Hat "der Mohr" Religion seine Schuldigkeit getan, oder steckt mehr dahinter?

Körner: Moment! Erdoğans Instrumentalisierung von Religion folgt nicht dem Straßenbahnprinzip, bei dem man abspringt, wenn man da ist, wo man hin will. So instrumentalisiert hat er die Demokratie. Die braucht er nur, um an die Macht zu kommen. Religion instrumentalisiert er anders. Er ist, nach allem, was man von außen sagen kann, ein überzeugter Muslim und meint, der Verwirklichung des Islam zu dienen. Aber er nutzt die Religion seiner Bevölkerungsmehrheit auch, um Unterstützung zu bekommen: "Endlich einer von uns, der diese verruchte Laizität wegfegt, die uns aufgedrückt worden war."

Wie geht die Türkei aktuell mit Minderheiten um?

Körner: Christen werden in der Türkei nicht verfolgt. Sie sind auch nicht rechtlich diskriminiert. Eine gesellschaftliche Diskriminierung wird von Christen allerdings gelegentlich empfunden. Das heißt, man wird zum Teil als Fremdling betrachtet, der die Einheit der Nation stört. Eine alte Armenierin hat mir einmal erzählt, dass ihre türkische Nachbarin sie, durchaus freundlich, fragte: Ach, Sie sind ja Armenierin, wann sind Sie eigentlich nach Ankara gekommen? Da antwortete die Armenierin: Gekommen? Das muss ich Sie fragen! Wir waren vor euch hier.

Anton Bulai, Generalsekretär der Türkischen Bischofskonferenz; Quelle: vimeo
Kein Anlass zur Besorgnis: Auch nach dem Putschversuch in der Türkei gibt sich die katholische Minderheitenkirche ruhig. Weder während des Putschs noch im Zuge der Rückeroberung der Kontrolle durch die Regierung habe es Bedrohungen gegeben, erklärte jüngst der Generalsekretär der Türkischen Bischofskonferenz, Anton Bulai. "Es ging nicht gegen Christen oder Religionen. Unter diesem Gesichtspunkt sind wir ruhig", so Bulai.

Welche Auswirkungen erwarten Sie vom Urteil des Europäischen Gerichtshofs, dass die Türkei durch ihre Ungleichbehandlung die Religionsfreiheit der Aleviten verletzt?

Körner: Dass die Aleviten sich als getrennte Religionsgemeinschaft verstehen, wird von offiziell-türkischer Seite wahrscheinlich so gedeutet: Ihr habt da einen Spaltpilz aus Europa in die Türkei gebracht. Wir –die Nation – verlieren so unsere Einheit, und wir – die Religionsbehörde – verlieren so unseren Einfluss auf einen bedeutenden Bevölkerungsteil, den man bisher als muslimisch verstehen und verwalten konnte.

Dieser Religionsbehörde, einst eingerichtet als Garant für einen vernünftigen Umgang mit der Religion, werfen Sie vor, sich im Umgang mit Erdoğan "duckmäuserisch bis kollaborativ" zu verhalten.

Körner: Hier liegt ein Fehler in der Zuordnung von Politik und Religion vor. Eine dem Ministerpräsidenten unterstellte Behörde soll die islamischen Religionsangelegenheiten regeln? Die Religionsbediensteten sind staatlich besoldet? Da ist die Unterwürfigkeit ja vorprogrammiert. Da kann ja Religion nicht mehr ein kritisches Gegenüber zur Politik sein.

Im April wurde erneut debattiert, dass weiterhin rund 900 Imame in den (ebenfalls rund 900) Ditib-Moscheen aus der Türkei entsandt sind. Die Türkei übe einen zu starken Einfluss auf die in Deutschland lebenden Muslime aus, hieß es. Brauchen wir also wirklich deutsche Imame?

Körner: Das sollen natürlich die Muslime selbst entscheiden. Wir können nicht dagegen vorgehen, dass die Religionsbehörde Personal schickt, und das müssen wir auch gar nicht. Imame sind ja mehr und mehr Seelsorger; und eine gute Seelsorge gönnen wir jedem. Im Gespräch mit in Deutschland lebenden Muslimen frage ich auch: Haben die entsandten Imame genug Ausbildung und Talent, um Menschen hier geistlich weiterzuhelfen? Verstehen sie wirklich die Herausforderungen des religiösen Lebens in einer Doppelwelt? Manche entsandte Imame sind auch Akademiker, sind einfühlsam, sind interessiert an den deutschen religiösen und kulturellen Szenen, sind Brückenbauer. Aber ja, der nächste Schritt nach der Eröffnung der islamisch-theologischen Institute ist jetzt: ein Seminar zur Ausbildung von islamischen Seelsorgern für Deutschland.

Ditib-Imam in einer Kölner Moschee; Foto: picture-alliance/dpa/O.Berg
Ditib-Imame in der Kritik: Vor allem die mangelnden Deutschkenntnisse der Religionsbeauftragten stehen am Pranger. Zusätzlich ist die enge Bindung der Ditib an die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet vielen deutschen Politikern ein Dorn im Auge. Die Ditib betont dagegen, dass die Moscheevereine in Deutschland von sich aus die Theologen aus Istanbul und Anatolien anforderten. Ein Verbot von ausländischen Religionsbediensteten in Deutschland lehnt die Ditib ab.

Ihre Forschungen in Ankara behandelten seinerzeit die Theologen der "Ankaraner Schule", die in ihre Koranexegese hermeneutische Gesichtspunkte einbezogen. Einer von ihnen, Professor Ömer Özsoy, lehrt heute an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie wirken zeitweise nebenan an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Gibt es da noch Kontakte?

Körner: Vor allem haben wir jedes Jahr einen sehr wichtigen Austausch, wenn wir als Gesprächspartner, als Freunde, als Theologenkollegen und als Team-Teacher in Jerusalem sind. Im Theologischen Studienjahr an der Abtei Dormitio auf dem Zionsberg halten wir zusammen eine Vorlesung. Unsere Hörerinnen und Hörer – und zugleich unsere Kritikerinnen und Kritiker – sind evangelische und katholische – aber neuerdings auch immer einige muslimische Jung-Theologen.

Was ist aus den reformtheologischen Ansätzen der "Ankaraner Schule" geworden?

Körner: Vieles geschieht in Ankara derzeit ohne großes Fahnenwehen. Theologiedozierende unterrichten da zum Teil mit viel Denkschärfe und Selbstkritik, laden auch christliche Gesprächspartner ein, mit ihnen und ihren Studierenden zu sprechen – ich versuche, einmal im Jahr dort zu sein; aber dafür muss man sich nicht erst ein Etikett aufkleben wie "modern" oder "hermeneutisch" oder "historisch-kritisch", oder auch nur "Ankaraner Schule". Sauber Theologie an der Universität treiben: das tut doch jeder Religionsgemeinschaft gut!

Sie gelten seither als Vorbild für den Dialog mit dem Islam. Beobachten Sie auch regionale Besonderheiten, wenn Sie Deutschland, Türkei und Italien vergleichen?

Körner: Die meisten meiner Studierenden kommen ja nicht aus Italien. Wir haben an der Gregoriana junge Menschen aus 124 Nationen. Aber der Islam – der ist den Italienern doch sehr fremd. Es fehlt dem Land natürlich auch eine Geschichte des Zusammenlebens von Konfessionen. Da hat Deutschland mit seiner gleichstarken evangelischen und katholischen Bevölkerung einen Startvorteil.

Sie beschrieben einmal "Dialog" als "Die Bescheidenheit zu akzeptieren, dass mein Gesprächspartner bereits von Gottes Geist berührt wurde und dass Christus mir durch ihn oder sie etwas Neues mitteilt." Welche Botschaft bringen uns die Geflüchteten mit, durch die viele Deutsche erstmalig in den Dialog mit Muslimen eintreten?

Dass Religionen das ganze Leben prägen wollen, die Weise, wie ich mit Schicksalsschlägen umgehe, aber auch, wie ich mir die politische Weltgestaltung vorstelle. Eine Bekannte sagte mir kürzlich: die Flüchtlinge machen uns zu besseren Menschen.

Das Interview führte Carolin Kubo.

© Qantara.de 2016

Der jesuitische Theologe und Islamwissenschaftler Professor Felix Körner forschte von 2002 bis 2008 in Ankara zu Hermeneutischen Neuansätzen in der Koranexegese und widmete sich dort dem Interreligiösen Dialog. Seit 2008 lehrt er an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.