"Rassistische Vorstellungen hängen nicht nur an Hautfarbe"

Was hat Black Lives Matter mit Deutschland zu tun? Warum gelten Menschen, die nicht deutsch aussehen, auch mit deutschem Pass als fremd? Ein Gespräch mit dem Rassismusforscher Mark Terkessidis

Von Jorg Hantzschel

In Deutschland haben Zehntausende für Black Lives Matter demonstriert. Aus Solidarität mit den Schwarzen in den USA - oder weil sie ihre eigene Situation in diesen Bildern wiederkennen?

Mark Terkessidis: Es waren viele jüngere Leute bei den Demonstrationen. Die haben entweder selbst Diskriminierungserfahrung oder hören durch ihre Mitschüler davon. Sie sehen nicht mehr ein, dass Ahmed, Vassili, Songül, Leyla oder deren Eltern anders behandelt werden von den Behörden oder der Polizei. Und es gab Hanau. Das war ja unfassbar: Leute wurden ermordet, weil sie in Shisha-Bars waren. Es gibt in Deutschland nicht die gleichen Fälle von tödlicher Polizeigewalt wie in den USA, aber es gibt unglaubliche Geschichten von Verharmlosung rassistischer Taten, von falschen Ermittlungen, der unsensiblen Behandlung von Opfern, von Opfern, die für Täter gehalten werden. Die NSU-Geschichte hat das ja gezeigt.

Müsste der Slogan bei uns nicht anders lauten, so, dass er etwa auch türkischstämmige Minderheiten einschließt?

Terkessidis: Es kommt immer darauf an, wer sich gerade am meisten engagiert. Organisationen schwarzer Menschen wie Each One Teach One oder ISD (Initiative Schwarze Menschen in Deutschland) haben Rassismus und Kolonialismus sehr entschlossen auf die Tagesordnung gesetzt. Sie sind auch in der Lage, ihre Probleme kurzzuschließen mit der Situation in den USA und mit der Erfahrung des Schwarzseins, das ja heute als eine universelle Form der Rassismuserfahrung betrachtet wird. Aber es ist völlig klar, dass viele Menschen, die in Deutschland diskriminiert werden, andere Herkünfte haben, auch europäische.

Black Lives Matter-Demo am 27.06.2020 vor der Siegssäule in Berlin; Foto: Reuters/Fabrizio Bensch
Widerstand gegen Rassismus und Diskriminierung auch in Deutschland: Mehr als 1.000 Menschen demonstrierten am 27. Juni in Berlin auf der Straße des 17. Juni an der Siegessäule gegen Rassismus. Auf Transparenten zeigten die Demonstranten Slogans wie "Polizeigewalt tötet", "I can't breathe", "Rassismus hat auch hier System" und "White silence is violent".

Warum tut sich Deutschland so schwer mit seiner Rolle als Einwanderungsland?

Terkessidis: De jure ist Deutschland erst seit kurzem Einwanderungsland. Erst 1998 hat die Bundesregierung einen "unumkehrbaren Prozess der Zuwanderung" anerkannt. Vorher ging man davon aus, dass die sogenannten Ausländer alle wieder nach Hause zurückgehen. 2000 ist das Staatsangehörigkeitsrecht geändert worden, was klargemacht hat: Es gibt auch Deutsche nichtdeutscher Herkunft. Das Bewusstsein ist häufig nicht so schnell mitgekommen. Aber wenn wir rassistische Äußerungen von heute mit denen aus den Neunzigern vergleichen, wird klar: Der krasse Biologismus ist weniger geworden, etwa die Rede von Eingewanderten als "Parasiten".

Warum hat Deutschland so lange am Ius Sanguinis festgehalten?

Terkessidis: Die Abstammung sollte als Garant des Zusammenhalts wirken. In der Hymne heißt es nicht umsonst "Einigkeit" - und dann erst "Recht und Freiheit". Auf dem Weg von der Kleinstaaterei zum späten Reich blieb die Einigkeit immer ein Thema - und "Blut" galt als Lösung. Frankreich dagegen förderte schon im 19. Jahrhundert Einwanderung. Wer sich zu Frankreich bekannte, sollte auch Franzose sein können. Später war das Blutrecht auch ein bequemer Weg, Einwanderung zu regulieren: Man gibt den Migranten einfach gar keine Rechte.

Das Staatsbürgerrecht ist geändert, aber mit dem Label "Migrationshintergrund" wird die nicht-deutsche Herkunft dennoch bis in die zweite Generation festgehalten. Was haben syrische Flüchtlinge gemeinsam mit jemandem wie Ihnen, der in Deutschland geboren wurde, nur eben einen griechischen Vater hat?

Terkessidis: Migrationshintergrund macht natürlich keine Gruppe. Aber Ihr Armutsrisiko ist statistisch mehr als doppelt so hoch, wenn Sie Migrationshintergrund haben. Jobs, Bildung, Gesundheit, alles deutlich schlechter. Der Anteil an Entscheidungsträgern mit Migrationshintergrund liegt weit unter dem Durchschnitt. Mit einem türkischen Nachnamen werden sie nachweislich seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Ohne so ein Kriterium kann ich das nicht thematisieren.

Beharrt man damit nicht auf der alten Definition des Deutschseins?

Terkessidis: Es stimmt, dass durch den "Migrationshintergrund" die Spaltung auch perpetuiert wird. Eine Klasse, in der 70 Prozent Kinder Migrationshintergrund haben, wird als Problem betrachtet. Warum sagt man nicht: 100 Prozent Kinder? Das benachteiligt auch die Kinder deutscher Herkunft. Ein Viertel von ihnen hat die gleichen Sprachprobleme wie die mit einer anderen Muttersprache. Die nimmt man aber weniger ernst, weil man Sprachprobleme mit "fremder" Herkunft koppelt.

[embed:render:embedded:node:40448]Wie haben Sie selbst es erlebt?

Terkessidis: Ich wurde früher immer als Ausländer betrachtet. Jetzt habe ich Migrationshintergrund, schon ein Fortschritt (lacht), die Zugehörigkeit steht immerhin nicht mehr in Frage. Früher hat auch das Sprechen mit Akzent Personen regelrecht entwertet. Das erlebe ich beim Elternabend in der Schule meines Sohnes in Kreuzberg nicht mehr. Oder nehmen wir die Integrationskonferenzen, auf denen ich oft zu Gast bin: Früher fand man es unfein, wenn ich mich dort als Experte zu Wort meldete. Denn als Betroffener konnte ich ja nicht "objektiv" sein. Das war wirklich irre. Heute ist die Zusammensetzung dort ganz anders. Ich bin nicht zufrieden, aber da hat sich was getan.

Auch ein Erfolg des Antirassismus?

Terkessidis: Ja, allerdings stört mich in letzter Zeit dieses Belehrende. Jedes falsche Wort wird zum Anlass genommen, "weiße" Personen über ihre Privilegien aufzuklären. Wenn ich Professor an der Uni bin und nicht-deutscher Herkunft oder BPoC und schulmeistere den Hausmeister, dann sollte ich mir auch über mein Privileg, meine Schichtzugehörigkeit, bewusst sein.

Unterstützen Sie den Vorstoß der Grünen, den Begriff Rasse aus dem Grundgesetz zu streichen?

Terkessidis: Ja. Der Begriff steht in der biologistischen Tradition, der deutsche Wissenschaftler bis in die Neunziger anhingen. Genetiker haben dann gezeigt, dass Rassen nicht existieren. Ich finde die Diskussion aber etwas wohlfeil. Welche Rolle spielt der Begriff im Grundgesetz letztlich? Die Verbesserung des Antidiskriminierungsgesetzes wäre dringlicher. Berlin hat gerade die Grundpfeiler der Antidiskriminierungsrichtlinien der EU wieder eingeführt, nämlich Beweislastumkehr und Verbandsklagen. Daraufhin meinten Polizeivertreter, sie könnten ihre Arbeit nicht mehr machen. Das ist grenzwertig undemokratisch.

Wenn der Begriff Rasse überholt ist, warum hält man am Begriff Rassismus fest?

Terkessidis: Das Wort Rassismus geht längst über den Begriff "Rasse" hinaus. Es ist der Begriff, mit dem wir illegitime Spaltungen zwischen "uns" und "ihnen" adressieren. Es geht wie bei Sexismus um eines der großen Ungleichheitsverhältnisse der Moderne.

Ein Dilemma bleibt immer: Benennt man die Dinge, erneuert man die Diskriminierung; benennt man sie nicht, tut man so, als gäbe es kein Problem.

Terkessidis: Mit diesem Paradox müssen wir leben. Das ist bei Geschlecht, Behinderung oder sexueller Orientierung ähnlich. Eigentlich dürfte es keine Rolle spielen, dass eine Person weiblich ist, aber wenn am Arbeitsplatz auf der nächsthöheren Hierarchie-Ebene nur Männer arbeiten, wie soll das thematisiert werden, ohne von Geschlecht zu sprechen? Es bleibt kompliziert, aber wir müssen uns dieser Kompliziertheit stellen.

Ebenso kompliziert ist das Thema Kolonialismus, über das Sie in Ihrem letzten Buch geschrieben haben.

Terkessidis: Ich bin froh, dass wir jetzt in Deutschland angefangen haben, darüber zu sprechen, ich finde nur, dass sich die Debatte zu sehr auf die Kolonien in Afrika beschränkt. Das deutsche imperiale Projekt war auch ein sehr kontinentales. 150 Jahre lang waren polnischsprachige Gebiete Teil Preußens oder des Deutschen Reiches. Warum sprechen wir da nicht auch von Kolonialismus? Dann gab es den "Drang nach Osten", das Projekt der ökonomischen Durchdringung und der moralischen Eroberung durch auswärtige Kulturpolitik in Osteuropa, dem Balkan oder dem Osmanischen Reich. Es war eine andere Idee von Kolonialismus als in Frankreich oder Großbritannien. Das wirkt auf vielen Ebenen bis heute nach, sei es durch die verbreiteten Klischees über Polen oder in der Austeritätspolitik gegenüber Griechenland.

[embed:render:embedded:node:37575]Warum ist das heute so wenig präsent?

Terkessidis: Das Wissen vom Kolonialismus war bis vor kurzem überhaupt schwach ausgeprägt. Die Erinnerung an die Shoah stand im Vordergrund, weil das Verbrechen so ungeheuerlich war. Seit den Neunzigern kamen aber mit den Debatten über die Zwangsarbeit und die Verbrechen der Wehrmacht auch andere Opfer in den Blick.

Wenn ich 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene hinter der Front verhungern lasse, was für eine Auffassung habe ich dann von diesen Menschen? Ist das nicht imperiales, koloniales Denken? Was ist das für eine Mentalität, die es möglich macht, in Griechenland 1.600 Dörfer niederzubrennen? An die "vergessenen Opfer" des Zweiten Weltkriegs wird ja jetzt erinnert, die Opfer in Polen, im ehemaligen Jugoslawien, der Ukraine. Ich plädiere dafür, die Debatte über den Kolonialismus mit der Debatte um die "vergessenen Opfer" zu verbinden.

Wie reagieren Polen oder Griechen, wenn sie von Ihnen als ehemalige Kolonisierte beschrieben werden?

Terkessidis: Darüber müsste man ins Gespräch kommen. In Griechenland spricht man aber schon von "Krypto-Kolonialismus".

Offenbar fällt es auch uns schwer, uns die Polen als Kolonisierte vorzustellen.

Terkessidis: Weil sie "weiß" sind? Deutsche Juden haben auch nicht anders ausgesehen, deswegen versuchte man, ihnen große Nasen oder sonstige "rassische" Merkmale anzudichten. Die SS hat sogar die "Volksdeutschen" aus dem Baltikum daraufhin untersucht, ob sie auch "rassisch" deutsch genug waren. Als in den USA der Depressionszeit die verarmten Bauern aus Oklahoma nach Westen migrierten, belegte man sie mit den gleichen Klischees wie die Schwarzen: dumm, nichtsnutzig, gewalttätig. In Kriminalromanen aus den Zwanzigern haben Griechen und Armenier das gleiche Image wie die Juden: Sie galten als schmierige Händlertypen. Rassistische Vorstellungen hängen nicht nur an Hautfarbe.

Der Historiker Achille Mbembe steht unter Beschuss, weil er Israel kritisiert, aber auch, weil er wie andere eine Linie zieht von kolonialen Gräueltaten wie dem Genozid an den Herero zum Holocaust. Das wird ihm als Relativierung vorgehalten.

Terkessidis: Der Autor Michael Rothberg unterscheidet zwischen kompetitiver und multidirektionaler Erinnerung. Erstere herrscht vor, weil man politisch etwas erreichen will. Der Holocaust ist auch ein globales Modell geworden für rassistische Opfererfahrungen. Deshalb haben schwarze Aktivisten von der Sklaverei als einer Art Holocaust gesprochen. In Israel wacht man zugleich sehr empfindlich über die Einzigartigkeit der eigenen Opfererfahrung. Ich bin für multidirektionale Formen der Erinnerung, weil man zusammen weiter kommt.

Wie sehen Sie die Debatte um Mbembe?

Terkessidis: Auch deutsche Historiker haben gesagt, dass Deutschland in Deutsch-Südwest Methoden der späteren Vernichtungspolitik vorweggenommen hat. Bisher hat sich niemand darüber echauffiert. Außerhalb von Deutschland kann niemand diese Debatte nachvollziehen. Dass der Antisemitismusbeauftragte des Bundes sozusagen dekretiert, wie ein "ausländischer Wissenschaftler" über den Holocaust zu sprechen hat! Wenn Mbembe mit Antisemitismus in Verbindung gebracht wird, wer ist dann nicht antisemitisch? Micha Brumlik spricht schon von einem neuen McCarthyismus.

Hätte unsere NS-Vergangenheit und deren Aufarbeitung nicht zu einem besonders fortschrittlichen und offenen Umgang mit Minderheiten führen müssen?

Terkessidis: Ich finde die Fortschritte in der Erinnerungspolitik nicht so schlecht. Kaum hatte die Debatte über den überseeischen Kolonialismus begonnen, hat die Große Koalition dieses Thema in den Koalitionsvertrag geschrieben. Auch die Entscheidung der Kulturminister für Rückgaben kam schnell. Wie das ablaufen wird, wird man sehen. Aber diese Beschlüsse sind große Erfolge.

Im Grunde müssten wir jetzt eine Art antirassistische Inventur machen, bei den Gesetzen, den Behörden, der Polizei. Und aus den bisherigen Erfahrungen mit Erinnerungspolitik müssten wir "unsere" Kultur kritisch betrachten, von den Denkmälern über die Institutionen bis zum Geschichtsunterricht: Welche Perspektive ist da vorherrschend? Wäre es nicht sinnvoller, Deutschland statt als Container als Knoten in einem transnationalen Netzwerk zu verstehen? Wir sollten das nicht als schreckliche Sache betrachten, sondern als notwendiges Innovationsprogramm, damit es für alle besser funktioniert.

Das Interview führte Jörg Häntzschel.

© Süddeutsche Zeitung 2020

Mark Terkessidis, 53, beschäftigt sich als Publizist vor allem mit dem Thema Rassismus. In seinem jüngsten Buch "Wessen Erinnerung zählt?" untersucht er das Erbe der deutschen Kolonialgeschichte.