"Erst müsst ihr alle verschwinden. Alle heißt alle"

Der libanesische Regisseur Rabih Mroué erklärt, warum eine Whatsapp-Steuer den Volksprotest in seinem Land auslösen konnte. Und wieso die Regierung nicht mit Gewalt reagiert. Bislang. Mit Rabih Mroué hat sich Till Briegleb unterhalten.

Von Till Briegleb

Seit Wochen protestieren im Libanon Millionen Menschen gegen die Regierung. Rabih Mroué, einer der bekanntesten Theatermacher und Künstler des Landes, beschäftigt sich seit zwanzig Jahren in seiner Arbeit mit den Traumata im Nahen Osten. Seine Theaterarbeiten verbinden Schauspiel, Video und zuletzt auch Tanz, um historische Vorgänge rund um Krieg und Gewalt zu rekonstruieren. Mroué hat an den Münchner Kammerspielen gearbeitet. Seine Installationen und Videoarbeiten wurden auf der Documenta 12 oder im Centre Pompidou gezeigt. Anlässlich der Premiere seines neuen Stücks "You should have seen me dancing waltz" auf Kampnagel in Hamburg analysiert Mroué die Lage in seiner Heimat.

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Der Ausgangspunkt für den libanesischen Volksprotest war eine Steuer auf Whatsapp-Gespräche. Was steckt dahinter?

Rabih Mroué: Die Menschen in Libanon beobachten seit Jahren, wie ihr Land immer weiter Richtung Abgrund driftet. Politisch, ökonomisch, alles löst sich auf. Dann kam der Haushalt der Regierung heraus mit neuen Lasten für die Bevölkerung. Neue Steuern auf Benzin, auf Zigaretten, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die Whatsapp-Steuer brachte das Fass dann zum Überlaufen. Kein Libanese hätte sich vorstellen können, dass die Korruption, Kleingeistigkeit und Unverantwortlichkeit in der Regierung solch groteske Ausmaße annimmt. Deswegen gingen die Leute am 17. Oktober spontan auf die Straße. Plötzlich waren alle da. Und niemand wollte zurückkehren, bevor es nicht einen Systemwechsel gibt.

Was fordern die Menschen?

Mroué: Der Hauptslogan lautet: "Alle heißt alle". Die Politiker in Libanon sind korrupt und müssen alle abtreten. Dann braucht es eine Interimsregierung aus Fachleuten. Ein sofortiges Ende der Korruption. Rückgabe allen gestohlenen Geldes. Und schnelle Neuwahlen. Diese neuen Wahlen müssen frei sein von dem religiösen Proporz, nach dem seit dem Bürgerkrieg die Ämter im Staat unter den Konfessionen verteilt werden. Das Parlament muss die Anschauung der Bürger wiedergeben.

Anti-Regierungsproteste in Beirut; Foto: Getty Images/AFP
Über politische, ethnische und konfessionelle Gräben hinweg: "Wir alle hatten das Gefühl, das ist der Moment, wo der libanesische Bürgerkrieg endlich vorbei ist. Hier sind alle Konfessionen endlich vereint. Es gibt keine politischen oder religiösen Symbole, keine Führer. Das einzige Zeichen ist die libanesische Flagge, die für alle steht", so Mroué.

In den sozialen Medien sieht dieser Aufstand aus wie ein großer Rave. Frauen mit Megafon, DJs, die die Menge beschallen. Stimmt der Eindruck?

Mroué: Die Reaktion des 17. Oktobers war eine Überraschung für die Libanesen selbst: Wir können etwas tun. Plötzlich kehrte die Hoffnung zurück. Deswegen verbindet sich großer Ärger mit großer Freude. Und wir alle hatten das Gefühl, das ist der Moment, wo der libanesische Bürgerkrieg endlich vorbei ist. Hier sind alle Konfessionen endlich vereint. Es gibt keine politischen oder religiösen Symbole, keine Führer. Das einzige Zeichen ist die libanesische Flagge, die für alle steht.

Der Bürgerkrieg hat seine abschreckende Wirkung verloren?

Mroué: Die jungen Leute, die diese Revolution hauptsächlich ausführen, wissen nichts mehr von diesen Wunden. Das hat die Politikerklasse vielleicht am meisten schockiert, dass diese Generation sich um ihre alten Rivalitäten nicht mehr kümmert. Sie schauen auf ihre Zukunft und können in diesem Staat keine mehr erkennen. Das lässt sie gemeinsam kämpfen. Und was immer Politiker noch sagen, sie werden dafür nur verspottet. Es gibt im Libanon keinerlei Vertrauen mehr in die politische Klasse.

Verglichen etwa mit den brutalen Methoden der Sicherheitskräfte gegen die Aufständischen im Irak wurde keine Gewalt eingesetzt. Warum?

DANCE ON ENSEMBLE / RABIH MROUÉ: "You should have seen me dancing Waltz" from DIEHL+RITTER on Vimeo.

Mroué: Natürlich wollten sie die Revolution gewalttätig unterdrücken. Zuerst wollten sie die Sicherheitskräfte dafür einsetzen, dann die libanesische Armee. Aber beide haben es abgelehnt. Vor allem aus politischem Kalkül. Der Generalkommandeur der Armee möchte selbst Präsident werden. Deswegen schießt er nicht auf Bürger, die ihn später wählen sollen. Aber wenn die Revolution größer wird, wenn sie alle sich persönlich bedroht fühlen, werden sie vielleicht trotzdem Gewalt einsetzen. Die schiitische Hisbollah und die schiitische Amal-Bewegung haben bereits Schläger geschickt, um Angst zu verbreiten. Aber die Reaktion zu ihrer und unserer Überraschung war, dass noch mehr Leute auf die Straße gingen. An einem Tag waren es 2,5 Millionen. Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Gewalt funktioniert nicht.

Die Regierung Hariri ist Ende Oktober zurückgetreten. Wie geht es weiter?

Mroué: Die politische Klasse versucht auf verschiedenen Wegen, die Revolution zu stoppen. Jetzt, und das ist sehr gefährlich, indem sie den Druck auf den Alltag der Leute noch erhöht. Die Politiker behaupten, es gäbe kein Benzin mehr. Die Banken schließen. Die Krankenhäuser erklären, dass sie keine Medikamente mehr haben. Und natürlich geben sie den Protestierenden die Schuld, obwohl sie es selbst veranlassen. Nach dem Rücktritt von Saad Hariri haben sie nach Vertretern des Aufstands gefragt, bieten ihnen Kabinettsposten an, um die Bewegung zu spalten. Aber die Leute sind sich sehr bewusst, was diese Spiele bezwecken sollen. Die Erklärung ist klar: Wir haben keine Vertreter, und selbst wenn wir welche hätten, werden wir mit euch nicht verhandeln. Erst müsst ihr alle verschwinden. Alle heißt alle.

Ist es ein Klassenkampf?

Mroué: Es ist eine Revolution gegen eine Politikerkaste, die in einer Allianz mit den Banken das Land ausplündert. Dagegen demonstrieren auch viele reiche Leute. Denn es geht um den Verfall der gesamten Infrastruktur. Diese Erhebung findet auch nicht nur in der Hauptstadt statt, sondern im ganzen Land. Das eher sunnitische Tripoli im Norden ist das Juwel dieser Revolution. Und der schiitisch geprägte Süden war die größte Überraschung. Dort versucht die Hisbollah sehr rabiat, dass keine andere Stimme aus der Region kommt als ihre eigene. Trotzdem gehen auch dort die Leute tapfer demonstrieren. Das macht Mut.

Kann es diesmal besser laufen als beim Arabischen Frühling?

Mroué: Ich glaube, der Arabische Frühling ist noch lange nicht vorbei. Die Revolution wird zurückkehren. Das kann man gerade im Irak erleben. Die Regierung hat Hunderte Demonstranten getötet und Tausende verwundet. Aber der Widerstand hört nicht auf. Auch in Ägypten kann das nicht ewig so weitergehen. Zwar steckt General Sisi jeden ins Gefängnis, der ein freies Wort sagt, aber das wird sich rächen.

Welche Rolle spielen Künstler, Theaterleute, Filmemacher in dieser Revolution?

Mroué: Unsere Aufgabe als Künstler findet sich nicht jetzt. Im Moment sollten wir bescheiden sein. Unsere Stimme soll sich vermischen mit den anderen Stimmen und sich nicht abheben.

Ihre neue Produktion mit dem "Dance On"-Ensemble, die jetzt in Hamburg auf Kampnagel herauskommt, dreht sich um den Zusammenhang zwischen Gewalt in den Medien und dem menschlichen Körper. Worum genau geht es?

Mroué: "You should have seen me dancing waltz" konfrontiert zwei Medien miteinander. Tanz als abstraktes Medium, und die gegenwärtigen Nachrichten. Damit versuche ich, die Frage aufzuwerfen, wie weit man Tanz in den Bereich des Politischen schieben kann. Das ergibt manchmal ein Zusammenspiel, eine Komplizenschaft. Und manchmal geschieht nichts zwischen Text und Tanz. Es ist ein Spiel aus Impuls und Gegenimpuls. Kleine Blitze aus Libanon wird es auch geben.

Wird der Wandel im Libanon Ihre Arbeit beeinflussen?

Mroué: Ich wünschte lange, der Libanon wäre mir egal geworden. Ich fühlte mich taub. So habe ich kürzlich ein Stück mit Lina Majdalanie und Mazen Kerbaj entwickelt, "Borborygmus", das bedeutet: Magengrummeln. Es ist sehr pessimistisch. Wir nennen es "Requiem auf das Leben". Doch am 17. Oktober kam das Blut zurück in meinen Körper. Und zu allen Libanesen. Ich werde das Stück trotzdem zeigen, denn ich mag es, aber ich bin mit dem Inhalt nicht mehr glücklich. Denn diese Hoffnung hat mich verändert.

Das Interview führte Till Briegleb.

© Süddeutsche Zeitung 2019