"Immer wenn einer starb, ging der nächste in die Berge"

Selim Yıldız greift in seinem Film "Dialogue" ein gesellschaftliches Tabu und die Realität vieler Kurden in der Türkei auf: Junge Männer, die plötzlich verschwinden und sich irgendwann in den Bergen einer bewaffneten Gruppierung anschließen. Mit ihm sprach Semiran Kaya.

Von Semiran Kaya

Wie entstand die Idee zum Film "Dialogue"?

Selim Yıldız: Als ich kurdische Soldaten 29 Tage lang für eine Dokumentation begleitete, lernte ich einen Guerillakämpfer kennen, der seine Mutter seit 22 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er war damals 13 Jahre alt als er plötzlich verschwand und "in die Berge" ging. Als mein Bruder Enes auch verschwand, versprach ich meiner Mutter: Ich werde dich mit deinem Sohn zusammenzubringen. Diese Möglichkeit ergab sich acht Jahre später, also 2015. Aber wir mussten durch den Krieg in Syrien zwei Jahre lang warten, bis wir die Straßen passieren konnten.

Gab es vor dem Verschwinden irgendwelche Anzeichen?

Yıldız: Nein, überhaupt nicht. Ich war in Istanbul als mich meine Mutter eines Nachts anrief. Enes war nicht nach Hause gekommen und sein Telefon war abgeschaltet. Tagelang haben wir Gott und die Welt angerufen und schwebten in großer Ungewissheit. Eine Woche später erhielten wir einen Zettel mit der Nachricht: Ich werde in eine andere Stadt gehen. Dass er sich einer bewaffneten Gruppierung anschließen würde, verschwieg er. Zwei Monate später erhielten wir über eine dritte Person erneut eine Nachricht: Sorgt euch nicht, er ist "dorthin" gegangen.

Wie reagierten ihre Eltern?

Yıldız: Meine Mutter war wie in Trance und weinte 15 Tage lang. Sie aß nichts mehr. Sie riss sich die Haare aus. Am 16. Tag mussten wir sie zwingen zu essen. Wir wussten ja nicht, wo er war. Mein Vater versuchte sie zu trösten, versteckte sich aber, um heimlich zu weinen. Er hat sich seitdem zurückgezogen, meidet das Haus aus dem Enes verschwand und redet nicht mehr. Davor war er auch mal wütend oder lachte. Die Tragik dabei ist, mein Bruder war nicht der Erste, der ging. Es sind mehr als zehn Personen aus der nahen Familie gegangen. Keiner kam wieder. Wir sind eine Familie, die mitten im Konflikt steht. Immer wenn einer starb, ging der nächste in die Berge.

Kinoplakat "Dialogue" des kurdischen Regisseurs Selim Yıldız
Der Film „Dialogue“ erzählt die Geschichte einer Mutter, deren Familie vom langjährigen Konflikt im Südosten der Türkei zerrissen wurde. 2008 verschwindet ihr Sohn Enes schlagartig. Er ist knapp 18 Jahre alt. Acht Jahre später (2015) erfährt die Familie, dass sich Enes nun in Rojava (Syrien) einer Gruppierung der PKK angeschlossen hat, um gegen den IS zu kämpfen. Selim Yildiz begleitet seine Mutter auf der Suche nach Enes, seinem Bruder, den sie nach zehn Jahren (2018) wiedersehen können.

Wurde diese Tradition, dieses schwere Erbe je in Frage gestellt?

Yıldız: Diejenigen, die gehen, verschwinden ja plötzlich. Sie sagen nichts. Wir haben versucht herauszufinden, ob sich jemand vorbereitet zu gehen, sobald es wieder einen Gefallenen gab. Aber das schafft man nicht, weil die Person ja oft heimlich und ohne Erklärung geht. Und es ist keinem, selbst meiner Generation, die Waffen ablehnt, gestattet, solch eine Entscheidung zu hinterfragen. Uns bleibt nur der tiefe Schmerz. Letztlich will doch keine Mutter oder kein Vater, dass ihr Kind stirbt; auch nicht im Krieg. Sobald aber jemand verschwindet, verfolgen gerade die Mütter akribisch die Nachrichten. Warum?

Um herauszufinden, ob ihre Kinder unter den Getöteten sind. Dann gibt es auch ernsthafte Auseinandersetzungen zwischen den Müttern selbst. Jene, deren Kinder sich in den Bergen befinden oder diese verloren haben, setzen sich meist für eine friedliche Lösung ein, demonstrieren und wollen, dass der Krieg aufhört, während andere Mütter darum kämpfen, dass ihre Kinder gar nicht erst verschwinden. Es sind nicht die Mütter, die ihre Kinder zur PKK schicken. Auch kommt die PKK nicht in die Dörfer und holt sich einfach die Kinder, wie oft behauptet. Es ist die Gewalt und die Unterdrückung, die der Staat im Osten aufgebaut hat, weshalb Kinder und junge Erwachsene wortlos gehen und in den Kampf ziehen.

Im Film wird gezeigt, wie Ihre Mutter für ihren verschwundenen Sohn, den sie bald wiedersehen wird, einen Pullover strickt und sich lachend fragt, ob dieser ihm wohl passe. In der Abschiedsszene gibt es keinen Kuss. Mutter und Sohn sitzen Schulter an Schulter im Auto. Die Mutter lehnt sich an und Enes kann diese maximale körperliche Nähe nur regungslos annehmen. Hat Ihre Mutter danach geweint?

Yıldız: Sie ist stärker als ich. Sie hat sich schnell wieder gefangen. Weil die Grenzen geschlossen waren, mussten wir uns der türkischen Gendarmarie stellen, um wieder einreisen zu können. Wir rechneten damit, dass ich festgenommen werde. Deshalb sollte ein anderer Bruder meine Mutter an der Grenze abholen. Da sagte sie zu mir (lacht): Wenn sie dich dabehalten, werde ich im Garten der Gendarmarie solange warten, bis sie dich entlassen.

Was die körperliche Nähe angeht - militante Personen wie mein Bruder verändern sich zwangsläufig. Sie haben wenig familiäre Bindungen, ihr Denken und Handeln ist komplett auf die Organisation ausgerichtet. Aber das heißt nicht, dass er nicht glücklich ist.

Der Film wurde letzten Sommer während des Festivals für Dokumentationsfilme in Istanbul gezeigt. Wie waren Reaktionen?

Yıldız: Das Interesse war überaus groß. Der Saal war überfüllt und der Film gewann den Preis für die beste Dokumentation. Die Menschen wunderten sich, dass der Film unter diesen Schwierigkeiten entstehen konnte und wollten wissen, ob es juristische Probleme gibt.

Und, gibt es die?

Yıldız: Bislang nicht. Ich warte immer noch (lacht). Wann das passieren wird, weiß ich nicht. Im kommenden März werde ich in Batman und anderen kurdischen Städten im Osten der Türkei sein. Dort wird es wohl eher Schwierigkeiten geben.

Welche meinen Sie?

Yıldız:  Das Übliche - Anzeige, Anklage wegen Propaganda oder Haft.

Das scheint Sie nicht sonderlich zu beunruhigen…

Yıldız:  Die Situation der Menschenrechte in der Türkei ist seit vier Jahren unglaublich schlimm. Wir sprechen hier von einem Land, dessen Justiz einen lauten Tod stirbt und am Boden liegt. Weil ich aber nichts gesetzeswidriges getan habe, habe ich keine Angst. Ich werde mich verteidigen und die Wahrheit erzählen. Es ist kein Verbrechen, einen Film über bestimmte Realitäten zu drehen. Hier gibt es nichts, wovor ich wegrennen oder weswegen ich mein Land verlassen müsste. Jede Mutter hat das Recht, ihre Kinder zu sehen. Es geht hier um Existenzen. Deshalb gibt es juristisch keinen Grund, mich zu inhaftieren.

Trotzdem stellt der Film eine Tabuverletzung dar.

Yıldız: Für einen Teil der Gesellschaft ist es noch immer ein Tabu, ja. Aber es ist ein Prozess, bei dem kleine Anstöße das Gesamtbild verändern können.

Das Interview führte Semiran Kaya.

© Qantara.de 2020