"Das geeinte Jerusalem ist ein Mythos"

Im Gespräch mit Inge Günther berichtet der renommierte israelische Historiker und Publizist Tom Segev über das Leben in einer Stadt, mit der kein Frieden zu machen ist.

Von Inge Günther

Sie sind in Jerusalem geboren und haben die meiste Zeit hier gelebt. Was macht die Stadt für Sie aus?

Tom Segev: Ich habe Jerusalem früher viel lieber gehabt, es ist eigentlich eine zum ziemlich unerträgliche Stadt geworden. Durch Jerusalem zieht sich eine Linie von Angst, Hass und von nationaler Verschiedenheit, die die Stadt teilt. Viele junge Israelis ziehen weg nach Tel Aviv oder sonst wohin. Viele nationalgesinnte Juden wohnen demonstrativ in arabischen Vierteln. Die Stadt wird immer religiöser. Sie verlangt allen dauernd ab, Bezug auf den Konflikt zu nehmen.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu spricht sogar darüber, Palästinensern die Residenzerlaubnis zu entziehen. Offenbar erwägt er, arabische Viertel abzustoßen, so dass sie sich außerhalb der Stadtgrenzen wiederfinden.

Segev: Netanjahu hat die Eigenschaft, Dinge zu sagen, die nicht stimmen. In diesem Fall gibt es ein Grundgesetz, das dieser Idee entgegensteht. Man müsste es erst ändern, um Arabern in Jerusalem das Residenzrecht zu entziehen. Das geht einfach nicht. Aber seine Idee zeigt, dass das "geeinte Jerusalem", das man gerne feiert, ein nationaler Mythos ist.

Inzwischen redet man von einer "dritten Intifada". Aber hat die nicht bereits nach dem Scheitern der Friedensinitiative von John Kerry im April 2014 begonnen? Seitdem flammt die Gewalt immer wieder auf - mit nationalistisch motivierten Morden und Anschlägen wie derzeit den Messerattacken.

Segev: Ob es eine dritte Intifada ist, weiß ich nicht. Der Messerterror kommt ja nicht von einer Organisation. Jeder kann ein Messer ergreifen und losziehen. Manche dieser Messerangreifer handeln aus Verzweiflung oder aus religiösem Fanatismus, den es auf unserer Seite ja auch gibt. Der liebe Gott spielt keine gute Rolle in diesem Konflikt. Und ab und an bricht der Konflikt eben in Wellen von Gewalt aus.

Militante Palästinenser im Flüchtlingscamp Jabalia; Foto: Getty Images/AFP/M. Abed
Von der Messerattacke zur Intifada? Seit Anfang Oktober sind bei palästinensischen Messerattacken und Konfrontationen zehn Israelis und mehr als 70 Palästinenser getötet worden. Die meisten der getöteten Palästinenser waren Attentäter, die bei ihren Anschlägen von israelischen Sicherheitskräften oder Zivilisten erschossen wurden. Der Rest kam bei Ausschreitungen im Westjordanland, in Ost-Jerusalem und an der Grenze zum Gazastreifen ums Leben.

Naturbedingt ist das aber nicht. Der jetzige Ausbruch hat doch damit zu tun, dass Palästinenser nicht gleichberechtigt in diesem Land leben.

Segev: Richtig. Trotzdem ist es ein Konflikt, der schon lange andauert. Es geht um fast fünfzig Jahre systematischer Verletzung von palästinensischen Menschenrechten, in denen immer mehr israelische Siedler in die palästinensischen Gebiete gezogen sind. Nehmen wir den Tempelberg: Seit 1967, nachdem der Sechs-Tage-Krieg zu Ende ging, hat man den Streit darum zu managen versucht, ab und zu ist er explodiert. Jetzt ist es wieder passiert und zwar wegen unnötigen Provokationen nationalreligiöser Siedler, die auf den Tempelberg gehen, um dort zu beten. Auch wenn wir das vermeiden, bleibt der israelisch-palästinensische Konflikt ungelöst, aber er wäre zumindest besser gemanagt.

Jetzt sollen Überwachungskameras auf dem Al-Aksa-Gelände, von Juden als Tempelberg verehrt, zur Beruhigung beitragen. Reicht das? Einige israelische Regierungsmitglieder sind nach wie vor für Besuche - inklusive Gebeten - auf dem Tempelberg, der drittheiligsten Stätte im Islam. Ministerpräsident Netanjahu hat sie zurückgepfiffen. Aber er hat sie nur bedingt unter Kontrolle. Und auch palästinensische Kräfte schüren den Konflikt, um Israel Druck zu machen.

Segev: Fanatiker gibt es auf beiden Seiten. In Israel kann man fast schon sagen, dass Netanjahu der linke Flügel der Regierung ist. Aber eigentlich war es schon immer so, dass die Politik in diesem Land von den Extremisten bestimmt wird. In ruhigen Zeiten kann das Leben in Jerusalem durchaus schön sein. In den Krankenhäusern arbeiten Juden und Araber zusammen. Es gibt kaum noch eine Apotheke ohne Araber. Man geht dorthin und manchmal hat man die Illusion, dass das Zusammenleben zu funktionieren scheint. Aber es explodiert dann immer wieder.

Der Tempelberg in Jerusalem; Foto: AFP/Getty Images/Ahmad Gharabli
Tempelberg und Al-Aksa Moschee im Mittelpunkt des Konflikts: Der von den Muslimen als "Das Edle Heiligtum" verehrte Tempelberg steht im Zentrum einer seit Wochen anhaltenden Gewaltwelle in Jerusalem, den Palästinensergebieten und Israel. Bei dutzenden Anschlägen sind seit dem 1. Oktober neun Israelis von Palästinensern getötet worden.

Kam es nicht auch deshalb zu diesem neuen Gewaltausbruch, weil es keinerlei diplomatischen Horizont gibt, keine Perspektive, dass sich etwas bessert?

Segev: Auch der Friedensprozess, den es zuvor gab, war in Wahrheit keiner. Netanjahu hat zwar mal gesagt, dass er für eine Zwei-Staaten-Lösung ist, aber es eigentlich nicht so gemeint. Für was er tatsächlich ist, weiß ich nicht. Vielleicht beschäftigt ihn nur, wie viele Jahre er noch an der Regierung ist. Vor fünfzig Jahren hätte ich gesagt, bis 2015 Frieden haben wir Frieden. Heute denke ich, dass ein Friedensabkommen nicht möglich ist.

Weil die nötige Kompromissbereitschaft fehlt?

Segev: Ja, und zwar hier wie dort. In diesem Konflikt geht es nicht nur um Land, Wasser und Sicherheit. Es geht um Identität, weil beide Völker sich über das gleiche Land definieren. Man bräuchte also einen Kompromiss mit der eigenen Identität, die nicht mal klar umrissen ist. Wir streiten dauernd darüber, wer Jude, wer Israeli ist. Auch die Palästinenser sind zwischen Fatah und Hamas zerstritten. Unsere Identitäten sind nicht klar kristallisiert, das macht es so schwer, einen Kompromiss zu finden. Zudem gibt es in Israel keine Mehrheit für die Räumung der Siedlungen im Westjordanland.

Damit wird eine Zwei-Staaten-Lösung immer unmöglicher. Bleibt zwangsläufig nur noch der binationale Staat, in dem es dann so zugeht wie jetzt in Jerusalem?

Segev: Natürlich macht mir ein binationaler Staat Angst, zumal er wahrscheinlich nicht demokratisch wäre. Die Situation für die Menschen in den arabischen Teilen Jerusalems ist ja noch viel schlechter als die der ärmsten Juden hier. Seit fast fünfzig Jahren sind diese Unterschiede verewigt – aus Dummheit, denke ich. Wenn man die Stadt vereinigt haben will, hätte man doch aus nationalem Interesse das Lebensniveau zwischen dem West- und Ostteil angleichen sollen. Historisch gesehen halte ich die Eroberung von Ost-Jerusalem 1967 für den größten Fehler. Weil man mit der Annexion beschlossen hat, dass eigentlich kein Frieden sein kann. Wir können Ost-Jerusalem nicht zurückgeben, und die Palästinenser können das niemals akzeptieren.

Veranstaltung in Gedenken an den 20. Todestag von Rabin in Tel Aviv; Foto: Reuters
"Die Sehnsucht nach Führungspersönlichkeiten wie Rabin ist groß": Fast 100.000 Menschen versammelten sich am Wochenende auf dem Platz in Tel Aviv, auf dem Rabin am 4. November 1995 von einem jüdischen Rechtsextremisten ermordet worden war und der heute seinen Namen trägt. In ihren Augen war der Berufssoldat und Generalstabschef im siegreichen Sechstagekrieg ein Vorkämpfer für eine Hinwendung zum Frieden - zertifiziert durch einen Nobelpreis für seinen Beitrag zum Oslo-Abkommen mit den Palästinensern.

Gehören Sie zu denen, die denken, alles wäre anders gekommen, hätte Jizchak Rabin vor zwanzig Jahren das Attentat überlebt?

Segev: Das kann man nicht wissen. Er ist ermordet worden, bevor klar war, wohin die Osloer Friedensverträge führen. Ich glaube, dass das Attentat die jetzige Situation nicht erzeugt, sondern widergespiegelt hat. Wir sind eine gespaltene Gesellschaft. Das Attentat war ein Ausdruck dieser inneren Konflikte.

Warum sind seitdem die national-religiösen Kräfte immer nur stärker geworden?

Segev: Weil die Israelis, auch die des linken Flügels, nicht mehr an einen Frieden mit den Palästinensern glauben. Die Gesellschaft ist sehr weit nach rechts gedriftet. Die größte Gefahr für Israel ist nicht die "Messer-Intifada", nicht mal der Iran. Ich fürchte um die innere Demokratie. Sie war nie so schwach wie heute. Der erste ursprüngliche Versuch, den neuen Juden zu schaffen, ist gescheitert. Die Menschen fühlen sich umso mehr gebunden an die jüdische Religion. Es ist die Suche nach geistigen Inhalten, die das säkulare Israel nicht mehr zu bieten imstande ist. Die Sehnsucht nach Führungspersönlichkeiten wie Rabin und David Ben-Gurion ist allerdings groß. Die Erklärung dafür heißt Benjamin Netanjahu.

Das Gespräch führte Inge Günther.

© Qantara.de 2015

Tom Segev zählt zu den führenden "Neuen Historikern" in Israel. In zahlreichen Büchern hat er sich kritisch mit der zionistischen Bewegung, dem Sechs-Tage-Krieg und der Integration des Holocaust in die nationale Erinnerungspolitik auseinandergesetzt. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. Lange Jahre schrieb er auch als Kolumnist für die Zeitung "Haaretz". Geboren wurde Segev 1945, kurz vor Kriegsende in Jerusalem. Seine Eltern waren 1933 aus Nazi-Deutschland in das Mandatsgebiet Palästina ausgewandert.