Muezzin-Ruf in Corona-Zeiten

Ein Muezzinruf per Lautsprecher ist rechtlich prinzipiell erlaubt, allerdings muss man verschiedene Grundrechte und Interessen abwägen, erklärt der Erlanger Rechtsprofessor Mathias Rohe im Gespräch mit Judith Kubitscheck.

Von Judith Kubitscheck

In Zeiten von Corona, in denen Moscheen geschlossen sind und gemeinschaftliche Gebete nicht stattfinden können, wird von vielen Islamverbänden und Moscheen der Wunsch nach einem lautsprecherverstärkten Gebetsruf laut. Ist dies nach deutschem Recht erlaubt?

Mathias Rohe: Der Gebetsruf fällt im Prinzip unter die Religionsfreiheit und ist damit rechtlich erlaubt. Allerdings muss man abwägen, ob es gegenläufige Interessen gibt. Dazu zählt beispielsweise Schutz vor Lärm. Außerdem kommt es auf den einzelnen Ort und die Tageszeit an, ob das zulässig ist, oder nicht. So sieht es im Industriegebiet anders aus als im Wohngebiet.

Ein Gebetsruf zu Sonnenaufgang im Wohngebiet ist also eher nicht möglich?

Rohe: Rechtlich wäre er frühmorgens oder spätabends nicht vorstellbar. Außerdem muss man zwischen dem Freitagsgebet unterscheiden, zu dem man sich in der Moschee versammeln sollte und den anderen Gebeten, die man auch zu Hause verrichten kann. Der Ruf zum Freitagsgebet zur Mittagszeit wäre vielleicht am wenigsten belastend für die Umgebung.

Sie sind nicht nur Jurist, sondern auch Islamwissenschaftler: Ist ein Gebetsruf für Muslime verpflichtend?

Rohe: Ein Gebetsruf gehört zum Ritualgebet dazu. Die Ritualgebete werden immer mit dem Gebetsruf eingeleitet, den der Imam in der Moschee ertönen lässt. Die Frage ist eben nur, soll man das auch per Lautsprecher übertragen? Das ist keineswegs eine Pflicht und hat keine Auswirkungen auf die Gültigkeit eines Gebets. Der erste Gebetsrufer im Islam, Bilal, hatte natürlich damals keinen Lautsprecher, sondern sich die Hände an den Mund gehalten.

Mathias Rohe ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Foto: privat
Wenn es einen lautsprecherverstärkten Gebetsruf auch nach der Corona-Pandemie geben soll, dann wäre der wöchentliche Gebetsruf zum Freitagsgebet ein guter Kompromiss, schlägt Mathias Rohe, Islamwissenschaftler und Experte für Islamisches Recht, vor.

Kann man aus Ihrer Sicht Glockengeläut und Muezzinruf rechtlich gleichsetzen?

Rohe: Im Wesentlichen ja, weil es sich in den allermeisten Fällen um eine religiöse Übung handelt, die auch ihren Schutz durch die Religionsfreiheit erhält. Aber beides ist nicht zwingend notwendig, weder im Christentum noch im Islam. Von dem her kann man es gleichsetzen, auch was die Intensität der Einwirkung auf die Umgebung angeht. Es sind beides Geräusche, die intensiver auf Menschen einwirken als zum Beispiel der Anblick eines Kirchturms oder Minaretts.

Aber eine Glocke ist ein neutraler Klang, während der Muezzin eine Botschaft verbreitet, nämlich das islamische Glaubensbekenntnis, ist das tatsächlich vergleichbar?

Rohe: Diese inhaltliche Botschaft müssen Angehörige anderer Religionen oder ohne Religion aushalten. Aber im Einzelfall müssen die einzelnen Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und auch negative Religionsfreiheit - also das Recht nicht mit Religion konfrontiert zu werden - gegeneinander abgewägt werden.

Ist es ein Unterschied, ob in einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft zum Gebet gerufen wird, oder in Deutschland?

Rohe: Der Gebetsruf kommt aus einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft wo es einfach dazugehört hat, dass zur Gebetszeit gerufen wurde. Heutzutage haben die meisten Muslime ja irgendeine Gebetsapp auf ihrem Smartphone, die sie an das Gebet erinnert, brauchen diesen also nicht mehr zwingend.

Viele Moscheevereine nehmen auch von dem Gebetsruf Abstand, weil sie wissen, dass sie in einer nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung damit gar nicht die Leute erreichen, die sie eigentlich mit dem Ruf erreichen wollen. Außerdem wollen sie nicht, dass es zu gesellschaftlichen Spannungen in der Umgebung kommt.

Auf der anderen Seite kann der Gebetsruf auch als Zeichen gesehen werden, dass Muslime Teil dieser Gesellschaft sind und das auch zum Ausdruck bringen wollen. Es könnte also auch ein Signal sein für Muslime "Wir gehören dazu".

Dei DITIB-Merkez-Moschee in Duisburg; Foto: dpa/picture-alliance
Die vier sunnitischen Rechtsschulen sind sich einig darüber, dass der Ruf zum Gebet eine verpflichtende Vorstufe des gemeinschaftlichen Gebetes ist. Der erste Gebetsruf in der Geschichte des Islams soll von Bilal al-Habaschi, einem engem Vertrauten des Propheten Mohammed, im Jahr 622 oder 623 nach Christus gerufen worden sein. In Deutschlands wird meist im Inneren der Moschee in Zimmerlautstärke zum Gebet gerufen.

Sollten Moscheen ihren Gebetsruf auch nach der Corona-Zeit behalten?

Rohe: An den Standorten, wo es bisher Gebetsrufe gibt, hat man meist gute Kompromisse gefunden, indem man nur einmal wöchentlich zum Freitagsgebet ruft. Das wäre aus meiner Sicht in manchen Fällen eine gut verträgliche Option - auch nach Corona.

Schaut man sich die muslimischen Reaktionen im Internet auf den ersten Gebetsruf vom Minarett in der Duisburger Zentralmoschee an, dann triumphieren dort zahlreiche Menschen, dass sich nun der Islam in Deutschland verbreite?

Rohe: Für manche Leute ist das bestimmt eine Machtdemonstration. Sie leiten aus der Religionsfreiheit ab, dass sie jetzt mit der Erlaubnis zum Gebetsruf "gewonnen" haben. Aus meiner Sicht liegen sie allerdings völlig falsch. Der Rechtsstaat ist stärker, als sie vielleicht denken. Er ist stark genug, um auch einer Minderheit ihre Rechte einzuräumen.

Das ist leider in vielen islamisch geprägten Staaten im Umgang mit anderen Religionen nicht der Fall. Aus meiner Sicht ist es gerade ein Zeichen der Stärke des Rechtstaates, auch Minderheiten wie den Muslimen ihre Rechte zu gewähren - auch wenn es parallel dazu eine intensive gesellschaftliche Diskussion über den lautsprecherverstärkten Gebetsruf braucht.

Das Gespräch führte Judith Kubitscheck.

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