Ein Armutszeugnis für das kritische Denken

Im Gespräch mit Rachid Boutayeb moniert Stefan Weidner, dass selbst die kritischsten Denker der westlichen Tradition praktisch nie über den westlichen Tellerrand hinaus gesehen hätten. Der Islam, indische Religionen sowie Philosophien außereuropäischer Kulturen seien so gut wie abwesend in diesem Denken.

Von Rachid Boutayeb

Herr Weidner, Sie beginnen Ihr neues Buch "Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken" mit einer Meditation über die Aufklärung und verteidigen die Idee, dass die Aufklärung nicht "entweder nur gut oder nur schlecht" sei. Heißt das auch, dass der weitverbreitete Vorwurf gegenüber der islamischen Welt, welche die Probleme dieser Welt mit einem Mangel an Aufklärung erklären, einseitig und unkritisch ist, weil er die Schattenseiten der Aufklärung nicht bedenkt?

Stefan Weidner: Das ist eine interessante Frage, die leider viel zu selten gestellt wird. Während die Aufklärung im Westen selbst seit langem kritisch diskutiert wird (spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg und der "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno), will man der islamischen Welt die Aufklärung auf völlig unkritische Weise als Heilmittel für alles und jedes verschreiben.

Das ist natürlich naiv, zumal die islamische Welt die Kehrseiten der Aufklärung bereits in vollem Umfang erfahren hat: Totalitarismus, blinder Glaube an Technik und Fortschritt, Umweltzerstörung, Zerstörung der Tradition.

Angesichts dieses Imports der negativen Aufklärung in der Kolonialzeit haben es die positiven Seiten der Aufklärung natürlich schwer, auf offene Ohren zu stoßen - meistens nur bei einer zahlenmäßig geringen Schicht reicher und oft verwestlichter Eliten, die von der technischen und wirtschaftlichen Moderne allein profitieren konnte. So gesehen konnte die positive, intellektuelle Aufklärung nur als geistige Unterwerfung unter die Herrschaft einer sich am Westen orientierenden Elite aufgefasst werden - es ist für mich logisch, dass sie daher abgelehnt wird.

Sie betrachten Francis Fukuyama und Samuel Huntington als Vertreter jener Ideologie des Westens, die Sie in Ihrem Buch kritisieren. Darüber hinaus bezeichnen Sie die liberale Demokratie als eine Ideologie, weil Populärdenker wie Fukuyama sich auf sie berufen und weil sie sie wie Fukuyama als Zukunft der Weltgeschichte betrachten? Aber liegt nicht das Problem der islamischen Welt eher im Fehlen einer liberalen Demokratie?

Weidner: Ich glaube dass die Konzepte von Fukuyama und Huntington eine Verengung und Verschlechterung der liberalen Demokratie darstellen. Das letzte Wort über die liberale Demokratie ist noch nicht gesprochen. Vielleicht erlebt sie noch einmal eine Renaissance, obwohl es zurzeit nicht danach aussieht.

Der Politologe Francis Fukuyama; Foto: Imago/Jakob Hoff
Verengung und Verschlechterung der liberalen Demokratie: "Was sicher diskreditiert ist, ist die neoliberale Demokratie, für die Fukuyama die philosophischen Grundlagen legen wollte. Natürlich fehlt in der islamischen Welt die liberale Demokratie - aber fehlt sie nicht fast überall in der Welt und geht sie nicht auch im Westen langsam verloren oder wandelt sich in eine menschenfeindliche, nur noch elitenfreundliche neoliberale Pseudo-Demokratie?", fragt Weidner.

Was jedoch sicher diskreditiert ist, das ist die neoliberale Demokratie, für die Fukuyama die philosophischen Grundlagen legen wollte. Natürlich fehlt in der islamischen Welt die liberale Demokratie - aber fehlt sie nicht fast überall in der Welt und geht sie nicht auch im Westen langsam verloren oder wandelt sich in eine menschenfeindliche, nur noch elitenfreundliche neoliberale Pseudo-Demokratie?

Eine liberale Demokratie, die diesen Namen verdient, ist mehr als nur eine Regierungsform. Eine liberale Demokratie arbeitet für den Bürger, und zwar für alle Bürger. Sie beruht auf Wechselseitigkeit. Mit anderen Worten: Sie muss mithelfen, dass der Mensch, der diese Demokratie trägt, überhaupt erst einmal entsteht und sich entfalten kann.

Wenn die Menschen vernachlässigt und verachtet oder sogar verarscht werden, wie mittlerweile fast überall in der Welt, kann nie eine liberale Demokratie entstehen. Das ist aber für mich kein Problem der islamischen Welt, sondern unseres globalisierten, neoliberalen Wirtschaftssystems.

Um Fukuyamas Geschichtstheologie zu kritisieren, greifen Sie unter anderem auf Karl Popper zurück, wenn Sie schreiben: "Lesen wir Fukuyama mit Popper, so kommen wir zu dem verstörenden, wenngleich nicht erstaunlichen Ergebnis, in Fukuyama (...) einen Feind der offenen Gesellschaft sehen zu müssen": Was wollen Sie konkreter damit sagen?

Weidner: Popper sieht die Ursprünge der nicht-offenen, illiberalen Gesellschaft bereits bei Platon. Fukuyama beruft sich aber ausgerechnet auf Platon und seine Gesellschaftstheorie und sein Menschenbild, besonders mit Bezug auf Platons Vorstellung vom Thymos, Ehrgeiz, Zorn oder Mut, was in der islamischen Tradition eins zu eins als Quwwah ghadabiyya wiederkehrt, die hierin direkt auf Platon zurückgeht. Mit diesem Menschenbild ist es schwer, eine offene Gesellschaft zu begründen, weil der Mensch als in seinen Trieben (Quwwât) gefangen scheint, determiniert. Fukuyama und Popper, obwohl beide Vertreter des Liberalismus, sind daher in Wahrheit unvereinbar.

Das geschlossene Bild vom Westen oder von Europa ist nicht etwas Neues - und nicht nur bei Fukuyama und Huntington zu finden. Sie haben in Ihrem Buch andere Beispiele analysiert, die zwar nicht politisch motiviert waren, aber in Ihrem Verständnis des Westens und seiner Kultur sehr eurozentristisch geblieben sind, nämlich Edmund Husserl und Max Weber, aber man kann dazu auch Heidegger zählen. Woher kommt Ihrer Meinung nach dieses Gefühl bzw. dieses Denken der Selbstgenügsamkeit? Liegt das etwa in der bedingungslosen Verherrlichung der Idee der Aufklärung?

Weidner: Man könnte das westliche Denken als selbstgenügsam bezeichnen, aber ich würde es lieber als arrogant und überheblich bezeichnen - als ein Denken, das nicht nur von seiner Überlegenheit überzeugt ist (auch der Muslim oder Buddhist ist von der Überlegenheit seines Denkens überzeugt), sondern das - anders als die traditionellen Weltanschauungen - unter dem Zwang leidet, immer wieder die eigene Überlegenheit bestätigen zu müssen.

Buchcover "Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken" des Autors Stefan Weidner im Hanser Verlag
Stefan Weidners "Jenseits des Westens" ist ein zutiefst originelles und zugleich höchst anspruchsvolles Buch. Über 230 Autoren kommen zu Wort, von denen er - wenn es um die Definition des Westens geht - u.a. Denker wie Kojève, Spengler, Huntington und Fukuyama ausführlich interviewt.

Damit das gelingt, bleibt dem westlichen Denken nichts anders übrig, als sich immer wieder neu erfinden zu müssen. Das heißt, es ist bereit, zur Not auch die eigenen Grundlagen über Bord zu werfen. Das ist das, was die Aufklärung gemacht hat, später dann Nietzsche und Heidegger. Deswegen gibt es im westlichen Denken kein Tabu, keine rote Linie, nichts Heiliges. Wichtig ist nur, dass man klüger, weiter, schlauer, fortschrittlicher, rücksichtsloser ist als die anderen, ganz egal was es kostet.

Mit dieser Mentalität gewinnt man natürlich jede Auseinandersetzung. Aber die anderen sind nicht dumm. Mittlerweile haben alle kapiert, wie der Westen tickt, imitieren ihn nach und sind dabei teilweise noch rücksichtsloser und noch erfolgreicher. So etwa China.

Das große Problem dieser Weltanschauung, die logischerweise den Neoliberalismus hervorbringt, ist jedoch, dass sie den Menschen keinen Halt gibt. Dass sie ihnen immer wieder den Boden unter den Füßen oder das Dach über den Köpfen wegreißt. Deswegen gibt es gegen diese Weltanschauung jetzt eine neokonservative Revolution überall auf der Welt. Die Menschen wollen Sicherheit, Identität, Heimat - all das, was das westliche Denken abgeschafft hat, um seine Überlegenheit zu wahren.

Für mich liegt die große Überraschung Ihres Buches in Ihrer Kritik an Goethe und seiner Vorstellung von der "Weltliteratur". Waren Sie da in Ihrem Urteil nicht doch etwas voreilig oder zu einseitig?

Weidner: Nein, ich denke nicht! Tatsächlich hat man Goethe idealisiert, und zwar auf eine ungute Weise. Natürlich ist er ein großer Dichter und wichtiger Autor. Aber er ist zugleich ein Kind seiner Zeit. Indem wir ihn idealisieren und zum Klassiker erheben, dessen Einstellung man nicht kritisieren darf, tun wir so, als sei seine Weltanschauung (deren Teil seine Theorie der Weltliteratur ist) naturgegeben, selbstverständlich, "normal" und unbezweifelbar richtig. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr haben wir Goethes Sicht auf die Welt (welche vielfach identisch ist mit der Sicht der Aufklärung) so sehr verinnerlicht, dass wir nicht mehr sehen, wie verzerrt oder schlicht falsch sie in Wahrheit ist.

Goethe ist genauso ein Beispiel für das hegemoniale abendländische Denken wie Kant, Hegel, Nietzsche und viele andere. Solange wir Goethe nicht kritisch sehen, werden wir nie aufhören, von unserer Überlegenheit über andere überzeugt zu sein und werden immer weiter mit Begriffen operieren, die höchst fragwürdig sind: "Nation", "Entwicklung", "Natur", etc.

Kann man über ein Jenseits des Westens denken, ohne den Westen in diesem Projekt oder Vorhaben einzubeziehen, also ohne den kritischen Geist dieses Westens?

Weidner: Natürlich nicht. Jenseits des Westens heißt für mich nicht neben dem Westen oder ohne den Westen, sondern nach dem Westen, über den Westen hinaus. Das heißt: In meinem kritischen Denken ist das kritische Potenzial des Westens enthalten. Ich versuche aber, darüber hinaus zu gehen und zu fragen, was es außerdem noch gibt. Es ist eine absurde Vorstellung, zu glauben, das westliche Denken habe das Potenzial von Kritik oder die Möglichkeiten des Denkens vollständig ausgeschöpft, abgehandelt.

Ein Beispiel: Selbst die kritischsten und selbstkritischsten Denker der westlichen Tradition - inklusive von Postmoderne und Poststrukturalismus - haben praktisch nie über den westlichen Tellerrand hinaus gesehen. Nietzsche, Foucault, Derrida, Deleuze - sie alle arbeiten sich bis zuletzt an den Griechen oder an der Aufklärung ab, allenfalls noch an der jüdischen Tradition, die als jüdisch-christliche natürlich auch zum Westen zählt. Islam, indische Religionen, China - und sowieso Afrika oder die Indianer - sind so gut wie abwesend in diesem Denken.

Noch bei Spivak finden wir mehr Hegel, Marx und Foucault als außereuropäisches oder Indisches. Und das ist ein Armutszeugnis für das kritische Denken. Wir müssen darüber hinaus. Ich habe versucht, einen ersten Ausweg zu zeigen, auch indem ich auf die vielen alternativen, aber meist übersehenen und vergessenen Denker im Westen hingewiesen habe, die sich ernsthaft für außereuropäisches Denken interessiert haben. Der Westen ist also auch in der kritische Bewegung dabei, die ich anstrebe. Aber er ist nur ein kleiner Teil von ihr.

Das Interview führte Rachid Boutayeb.

Qantara.de 2019

Stefan Weidner: "Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken", Hanser Verlag 2018, 368 Seiten, ISBN: 9783446258495