"Die Dschihadisten haben in Libyen keine soziale Basis"

Alaya Allani, Professor für Zeitgeschichte an der Manouba-Universität in Tunis und Spezialist für islamistische Bewegungen, rechnet nicht damit, dass sich die IS-Terrormiliz dauerhaft in Libyen halten wird, obgleich die Dschihadisten bereits in einigen Regionen erfolgreich Zellen bilden konnten. Mit ihm sprach Beat Stauffer in Tunis.

Von Beat Stauffer

Noch vor wenigen Monaten haben Sie dezidiert Stellung gegen "Fadschr Libya" bezogen. Mittlerweile plädieren Sie für Verhandlungen mit der islamistischen Miliz. Wie erklärt sich dieser Kurswechsel?

Alaya Allani: Die Situation in Libyen ist sehr stark im Wandel begriffen. Man muss daher eine politische Analyse den realen Verhältnissen anpassen. Es steht zweifelsohne fest, dass das Land heute tief gespalten ist und dass die Hauptstadt Tripolis – und fast der ganze Westen des Landes – faktisch unter Kontrolle der Miliz "Fadschr Libya" ("Morgenröte Libyens") steht. Und die anhaltend verworrene Lage in Libyen wird zunehmend auch zu einem regionalen Problem. Um das Schlimmste zu verhindern, hoffen mittlerweile fast alle Länder Nordafrikas, dass es eine Verhandlungslösung gibt, obwohl sie selbst keinerlei Sympathien für "Fadschr Libya" hegen.

Trifft dies auch auf Tunesien zu?

Allani: So ist es. Schauen Sie: "Fadschr Libya" kontrolliert die Grenzen zu Tunesien, aber auch zu Algerien. Diese Grenzen sind für beide Länder, vor allem aber für Tunesien, von vitaler Bedeutung. Sie haben deshalb im vergangenen Mai eine Initiative für eine Verhandlungslösung lanciert, und Abdelhakim Belhadsch, der ehemalige Vorsitzende des Militärrates von Tripolis und Vertreter von "Fadschr Libya", ist in offizieller Mission nach Algier gereist. Der Premierminister der Regierung in Tripolis ist zudem kürzlich in Tunis von Präsident Béji Caid Essebsi empfangen worden. 

Die tunesische Regierung hat sich aber bislang doch stets geweigert, die Tripolis-Regierung anzuerkennen...

Allani: Das ist richtig. Tunis erkennt offiziell nur die Regierung in Tobruk an. Doch faktisch ist die tunesische Regierung zu einer Zusammenarbeit mit der Regierung in Tripolis bereit. Aus diesem Grund hat sie dort kürzlich auch ein Konsulat eröffnet. Dieses pragmatische Vorgehen macht auch Sinn, denn es müssen zahlreiche konkrete Probleme gelöst werden.

Parlament in Tripolis; Foto: dpa/picture-alliance
Tauziehen um die Macht: Seit Monaten ringen in Libyen zwei Regierungen und ihre Milizen um die Macht: eine international anerkannte in der ostlibyschen Stadt Tobruk und eine von Islamisten dominierte in Tripolis. Die Hauptstadt und fast der ganze Westen des Landes stehen faktisch unter der Kontrolle des Milizenverbandes "Fadschr Libya".

"Fadschr Libya" grenzt sich in letzter Zeit zunehmend von radikalen Strömungen ab. Ist das glaubwürdig?

Allani: Die offiziellen Vertreter von "Fadschr Libya" haben gar keine andere Wahl, als sich von den radikalen Gruppierungen zu distanzieren. Bekanntlich ist die Gruppierung "Ansar al-Scharia" sowohl von Tunesien als auch von den USA als terroristische Vereinigung eingestuft worden. Wenn "Fadschr Libya" mit diesen Staaten verhandeln will, ist eine Distanzierung unumgänglich.

Führt dies für "Fadschr Libya" nicht zu einer Zerreißprobe ?

Allani: Das ist denkbar. Doch man muss wissen, dass die mächtigste Gruppe innerhalb dieses Milizenverbandes weder die Muslimbrüder noch die Mitglieder der ehemaligen islamistischen Kampfgruppe unter ihrem Chef Abdelhakim Belhadsch sind. Es sind vielmehr die sogenannten "Unabhängigen" von Misrata, hinter denen vor allem Geschäftsleute stehen. Sie haben sich in erster Linie aus Gründen der Stammessolidarität mit Belhadsch zusammengetan. Sie sind sehr daran interessiert, dass ein nationaler Dialog Erfolg haben wird. Belhadsch und die Muslimbrüder ihrerseits wissen sehr genau, dass sie in der Minderheit sind und dass ihre Popularität gesunken ist. Sie sind deshalb gezwungen, Kompromisse einzugehen. Belhadsch ist nach Algerien gereist, obwohl er sehr genau weiß, dass seine Gruppe und die Muslimbrüder in Algerien nicht besonders geschätzt werden. Umgekehrt ist auch Algerien gezwungen, mit "Fadschr Libya" zu verhandeln.

Welche Rolle spielt die libysche Zivilgesellschaft beim Versuch eines nationalen Dialogs?

Allani: Sie spielt eine wichtige Rolle. Kürzlich habe ich in Tunis eine Delegation der libyschen Zivilgesellschaft getroffen. Sie haben ein Dokument ausgearbeitet, das als Basis für eine nationale Aussöhnung dienen soll. Es beinhaltet mitunter die Entwaffnung der Milizen, die Fertigstellung der Verfassung, die Durchführung von neuen Parlamentswahlen, um einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden. Diese Initiative hat meines Erachtens ein großes Gewicht, weil dahinter Vertreter von rund 100 libyschen Stämmen sowie 1.300 anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens stehen – etwa Anwälte und Ärzte. Diese Initiative repräsentiert alle unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen Libyens.

Doch bisher sind alle Versuche gescheitert, am runden Tisch eine politische Lösung zu erzielen...

Libysche Kämpfer bei Derna; Foto: DW
Hoffen auf ein Ende der erbitterten Kämpfe zwischen Libyens verfeindeten Milizen: Nicht nur aus innenpolitischen Gründen sind Verhandlungen mit der „Regierung des nationalen Heils“ und damit mit „Fadschr Libya“ unumgänglich. Auch die Nachbarländer Tunesien, Algerien und Ägypten fordern mittlerweile eine pragmatische Lösung: Die prekäre Sicherheitslage und die Bedrohung durch dschihadistische Gruppierungen lassen mittlerweile keine andere Wahl zu.

Allani: Das Hauptproblem ist, das radikale Gruppierungen innerhalb der "Fadschr Libya" sowie bestimmte Milizen verhindern wollen, dass es zu einer Verhandlungslösung kommt. Diese Akteure haben ein Interesse daran, dass der libysche Staat schwach bleibt. Die kürzliche Entführung von über hundert Tunesiern in Tripolis gehört möglicherweise zur Strategie von "Ansar al-Scharia", um eine solche Lösung zu torpedieren. Doch ich bin zuversichtlich, dass eine Verhandlungslösung gefunden werden kann.

Auch in Libyen scheint der IS vorzurücken. Teile von Sirte, der Geburtsstadt von Gaddafi, befinden sich derzeit unter Kontrolle des "Islamischen Staates". Müssen wir uns womöglich auf ein Szenario wie in Syrien gefasst machen?

Allani: Nein. Zuerst einmal gilt es festzuhalten, dass die konfessionelle Lage in Libyen völlig anders gestaltet als in Syrien und im Irak. Es gibt dort keine Spaltungen zwischen Schiiten und Sunniten, denn in Libyen sind alle Muslime Sunniten malekitischer Ausrichtung. Der Umstand, dass sich in Sirte und Derna IS-Zellen bilden konnten, hat in erster Linie mit der Abwesenheit eines starken Zentralstaates zu tun. Meiner Ansicht nach verfügen die Dschihadisten in Libyen über keine soziale Basis. Gegenwärtig wird der IS in Libyen sowohl von "Fadschr Libya" als auch von der Armee General Haftars ("Karama") bekämpft. Ich denke daher nicht, dass sich die Terrorgruppe dauerhaft in Libyen wird festsetzen können. Sobald der nationale Dialog gelingt, werden die Dschihadisten außer Landes flüchten müssen – vermutlich nach Mauretanien und allenfalls in andere Sahelstaaten.

In Tunesien hat sich im Dschebel Chaambi an der Grenze zu Algerien seit rund zwei Jahren ein Ableger von Al-Qaida im Maghreb gebildet. Die tunesische Armee war bislang nicht in der Lage, diese Dschihadisten zu vertreiben oder festzunehmen. Für wie gefährlich schätzen Sie die Lage für Tunesien ein?

Allani: Die "Okba Ibn Nafaa" ist derzeit die einzige dschihadistische Gruppe, die für Tunesien eine echte Gefahr darstellt. "Ansar al-Scharia", die aktivste dschihadistische Organisation der letzten Jahre, ist in Tunesien weitgehend zerschlagen worden. Dabei sind rund eintausend Kämpfer inhaftiert worden, die anderen sind abgetaucht, nach Libyen oder in die Chaambi-Berge geflüchtet. Das Attentat auf das Bardo-Museum ist wohl als Rache für diese "Null-Toleranz"-Politik der Behörden zu interpretieren. Manche ehemalige Mitglieder von "Ansar al-Scharia" kämpfen jetzt mit der Brigade "Okba Ibn Nafaa", andere bilden wahrscheinlich Schläferzellen, die mit ihr in Verbindung stehen.

Dennoch erachte ich die dschihadistische Gefahr in Tunesien als relativ gering. Die Regierung unter Premierminister Essid verfolgt eine neue, erfolgreiche Strategie im Kampf gegen die Dschihadisten. Es ist zudem augenfällig, dass die Terroristen kaum Rückhalt in der Bevölkerung haben.

Ist davon auszugehen, dass die Brigade "Okba Ibn Nafaa" sich der IS-Terrormiliz anschließen wird?

Allani: Alles weist darauf hin, dass Al-Qaida im Maghreb in dieser Hinsicht gespalten ist. So hat kürzlich die der Al-Qaida nahestehende mauretanische Nachrichtenagentur Al-Akhbar verlautbaren lassen, die dschihadistische Gruppierung "Al-Murabitun" habe sich dem IS angeschlossen. Doch wenig später hat dies Mokhtar Belmokhtar, der Chef derselben Gruppierung, dementiert und erklärt, dass seine Gruppe Al-Qaida treu bleibe. "Al-Murabitun" war sowohl für den Anschlag auf das algerische Gasfeld von In-Amenas wie auch auf das Attentat auf ein Hotel in Mali im März 2015 verantwortlich. Diese faktische Spaltung ist meines Erachtens eher als Zeichen der gegenwärtigen Schwäche von Al-Qaida im Maghreb zu interpretieren.

Das Gespräch führte Beat Stauffer.

© Qantara.de 2015