Interview mit dem islamischen Reformdenker Mustafa Akyol
"Der Islam braucht seine eigene Aufklärung"

Der türkische Autor und Journalist Mustafa Akyol gehört zu den bedeutendsten Vordenkern eines Islam, der mit der Moderne versöhnt ist. Musa Bagrac hat für Qantara.de mit Akyol über sein neues Buch "Reopening Muslim Minds: A Return to Reason, Freedom, and Tolerance” und die Chancen einer islamischen Reform gesprochen.

Herr Akyol, zu den Kernthemen Ihres Buches gehört die Frage nach einer “unsittlichen Religiosität”. Für viele Muslime ist ethisches Verhalten allein durch Religiosität möglich. Jemand, der regelmäßig betet, ist danach auch moralisch integer. In der Türkei sind seit etwa 20 Jahren Islamisten an der Regierung. Dennoch scheint die Gesellschaft ihren moralischen Kompass verloren zu haben. Wie ist das zu erklären?

In der Tat ist es eine weitverbreitete Sichtweise unter heutigen konservativen Muslimen, dass der liberale Westen hinsichtlich Wissenschaft und Technologie zwar fortgeschritten sei, “wir” aber tugendhafter sind und daher alles tun sollten, um unsere Sittlichkeit zu bewahren. Und da Muslime zudem oft Moralität mit religiöser Praxis und sexueller Sittsamkeit gleichsetzen, ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass daraus auch ein solches Denken entsteht.

Aber wenn wir Moralität an universelleren Werten wie Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Fairness, Unparteilichkeit oder dem Fehlen von Korruption und Vetternwirtschaft in einem politischen System messen, dann können wir nicht so zuversichtlich sein.

Ich kenne das aus der Türkei gut, wo "unsittliche Religiosität“ zur vieldiskutierten Charaktereigenschaft einer neuen herrschenden Elite geworden ist. Mit diesem Schlagwort sind  konservative Muslime gemeint, die hinsichtlich religiöser Praktiken wie dem Tragen von Kopftuch oder dem Alkoholverzicht tatsächlich fromm sind, sich aber in ihrer Machtausübung durch zutiefst unethische Praktiken wie Korruption und Autoritarismus,  einem arroganten verhalten, Grausamkeit, Betrug und vielen Arten eines hässlichen Machiavellismus auszeichnen.  

In dem Kapitel "Wie wir die Moral verloren haben“ meines Buches beziehe ich mich genau auf diese türkische Tragödie. Die Gleichsetzung von Moral mit religiösen Ge- und Verboten ohne eine auf Prinzipien basierende ethische Haltung hat dieses Problem einer "unsittlichen Religiosität“ erst verursacht, nicht nur in der Türkei, sondern auch in vielen anderen muslimischen Gesellschaften. Der Weg in die Zukunft erfordert es, das religiöse Recht (im Islam die Scharia) wieder neu mit ethischen Werten zu verbinden, die als universell gelten.

Buchcover von Msuata Akyol, Reopenng Muslim Minds. A Return to Reason, Freedom and Tolerance, St. Martins Essentials 2021; Quelle: Verlag St. Martins Essentials
In seinem aktuellen, im April 2021 erschienenen Buch untersucht Akyol die Ursachen der Krise des Islam in der modernen Welt und beschreibt mögliche Wege in ein neues Verständnis dieser Religion. Er zeigt auf, wie Werte, die üblicherweise mit der westlichen Aufklärung in Verbindung gebracht werden – Freiheit, Vernunft, Toleranz und ein Streben nach Erkenntnis – im Islam durchaus vorhanden waren, aber zugunsten einer dogmatischen Sichtweise allzuoft in Vergessenheit gerieten, häufig aus politischen Gründen.

Braucht Ethik die Religion?

Im Westen können wir beobachten, dass auch säkulare Menschen durchaus moralisch integer sein können. Widerspricht das nicht der muslimischen Vorstellung, dass Religion für die Moralität erforderlich ist?

Gewiss ist es der Fall: Die gelebte Erfahrung der Menschheit, insbesondere in der heutigen Zeit, zeigt, dass es keine einfache Korrelation zwischen ethischem Handeln und Religion gibt. Mit anderen Worten: Auch säkulare Menschen können durchaus moralisch einwandfrei handeln, manchmal tun sie es sogar noch mehr als Gläubige.Traditionalistische Muslime leugnen diese Tatsache bisweilen, aber nur, weil sie eine "göttliche Befehlsethik" vertreten.

Nach dieser theologischen Lehre sind menschliche Handlungen "gut" oder "schlecht", nicht aufgrund eines ihnen innewohnenden Wertes, den wir mit unserem Bewusstsein erfassen können, sondern nur, weil Gott dies sagt. So sind beispielsweise Diebstahl oder Mord nur deshalb schlechte Taten, weil Gott sie durch seine Offenbarung verurteilt. Wenn Gott uns aber gesagt hätte, dass dies gute Taten sind, dann wären sie auch gut.

In meinem Buch vertrete ich die Auffassung, dass diese theologische Doktrin - die vom Asch'arismus, der vorherrschenden theologischen Schule im Islam, aufgestellt wurde - die Wurzel vieler Probleme im religiösen Denken der Muslime heute ist. Ich zeige auch, dass es eine alternative Lehre gibt, die nicht weniger islamisch ist: die Lehre von der "objektiven Ethik".

Das bedeutet, Diebstahl oder Mord sind objektiv schlecht und deshalb hat Gott sie verurteilt. Aber selbst wenn wir nichts von Gott dazu hören würden, könnten wir es mit dem uns innewohnenden Bewusstsein und unseren moralischen Vorstellungen verstehen, dass diese Handlungen schlecht sind.

Die Lehre von der “objektiven Ethik” besagt, dass die Religion uns zwar dazu auffordert, ethisch zu handeln, die Ethik aber von universellen menschlichen Werten handelt, die über jede Religion hinausgehen. Ich glaube, dass die Wiederbelebung dieser Lehre der Schlüssel zu jeder sinnhaften religiösen Reform im Islam sein wird.

Die hässlichen Realitäten einer vormodernen Welt

Gemäß einer traditionalistischen Sichtweise auf islamisches Recht ist es legitim, wenn ein Mädchen im Kindesalter mit einem viel älteren Mann verheiratet wird. Dies ist eine moralische Perversion, wie lässt sich dieser gordische Knoten lösen?  

Das ist ein gutes Beispiel. Natürlich würden die meisten Muslime eine "Ehe" zwischen einem 12-jährigen Mädchen und einem 60-jährigen Mann verabscheuungswürdig finden, aber es ist wahr, dass es einige strenge islamische Gelehrte gibt, die dies rechtfertigen. Warum? Weil im traditionellen islamischen Recht die Pubertät als das legitime Heiratsalter angesehen wird. Dabei war dieses Heiratsalter ursprünglich nichts Islamisches, sondern ist einfach der Kultur der damaligen Zeit entsprungen, und zwar weltweit. In ähnlicher Weise hat das traditionelle islamische Recht auch Sklaverei und Konkubinat gerechtfertigt, nicht weil es sich dabei um Erfindungen des Islam handelte. Diese Phänomene waren schlichtweg die hässlichen Realitäten einer vormodernen Welt.

Der Schlüssel zu einem angemessenen Verständnis liegt in der Fähigkeit, "das Religiöse" vom "Historischen" zu unterscheiden. Es geht auch darum, eine universelle Sichtweise einzunehmen, so dass man den ethischen Wert in der Bildung von Mädchen (anstatt sie mit 12 Jahren zu verheiraten), in der umfassenden Emanzipation der Frauen oder in der Abschaffung der Sklaverei erkennen kann. Dies erfordert jedoch ein Neubestimmung der Bedeutung der Scharia im Islam, die ich mit diesem Buch zu leisten versuche.

In Ihrem 2013 erschienen Buch "Islam Without Extremes“ hatten Sie der Türkei noch einen freiheitlicheren, offeneren und demokratischeren Weg bescheinigt. Heute hingegen ähnelt die Türkei in puncto demokratischen Werten eher einem Alptraum. Ist die Religion dafür verantwortlich, dass die Türkei diesen Weg eingeschlagen hat?

Die Türkei ist in der Tat eine große Enttäuschung - die größte Enttäuschung in meinem eigenen Leben. Denn ich gehörte zu denjenigen, die die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) in ihren Anfangsjahren unterstützt haben, als die Türkei einige wichtige Rechtsreformen einführte und auf dem Weg in die Europäische Union zu sein schien. Aber dann, nachdem sie die Macht gefestigt hatte, sah ich, wie dieselbe AKP eine Kehrtwende hin zu Korruption, Autoritarismus, dem Schüren von Hass und schierer Grausamkeit vollzog.

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