In der Mitte liegt die Kraft

Der Politikwissenschaftler Vali Nasr ist Berater von US-Präsident Obama und gilt als einer der führenden Iran-Experten der USA. In der neuen Mittelschicht der islamischen Welt erkennt er einen Motor der Reformbewegungen. Ramon Schack hat sich mit ihm unterhalten.

Vali Nasr; Foto: &copy wikipedia
Vali Nasr: "Das Anwachsen einer Mittelschicht, die Vernetzung mit der Weltwirtschaft, führt langfristig zu größerer Stabilität und zum Abbau von internationalen Spannungen"

​​ In Ihrem Buch "Forces of Fortune" analysieren Sie die neue Mittelschicht im Nahen Osten, welche die Volkswirtschaften von Ländern wie der Türkei, Dubai oder anderen Staaten in der Region nachhaltig verändert haben. Betrachten Sie die anhaltenden Unruhen im Iran auch als Aufstand dieser neuen Mittelschicht?

Vali Nasr: Die Reformbewegung im Iran hat ihre Wurzeln im Aufstieg der neuen Mittelklasse, welche sich seit den späten 1980er Jahren entwickelt hat. Diese Mittelschicht entstand damals durch die Privatisierungen in der Wirtschaft und durch ökonomische Reformen nach dem Ende des Iran-Irak-Krieges. Das Anwachsen dieser Mittelschicht, begleitet von wachsendem Wohlstand, ging einher mit den Forderungen nach größerer politischer Freiheit, weniger staatlichen Einschränkungen und gesellschaftlicher Liberalisierung sowie einer stärkeren Verknüpfung mit der Weltwirtschaft. In vielerlei Hinsicht beschleunigte die wirtschaftliche Liberalisierung im Iran die Forderungen nach politischen Reformen.

Die ökonomische Modernisierung führte zum Erstarken zivilgesellschaftlicher Elemente und spiegelte die Werte und das Lebensgefühl der wachsenden Mittelschicht wider. Die Stärke der heutigen Reformbewegung im Iran - wie auch deren Schwäche - hängen unmittelbar mit dem Anwachsen einer neuen Mittelschicht in der jüngeren Vergangenheit zusammen. Diese Mittelschicht hat die Reformbewegung erst möglich gemacht. Aber sie ist noch nicht groß genug, um für einen endgültigen Erfolg der iranischen Reformbewegung zu garantieren.

Börse in Dubai; Foto: AP
Moderne islamische Gesellschaften im Wandel: Die neue bürgerliche Mittelschicht ist nicht vom Staat abhängig, sondern von den Märkten, meint Vali Nasr.

​​ In der Vergangenheit wurde die Mittelschicht im Nahen Osten häufig von dem jeweiligen Regime gestützt und beherrscht – beispielsweise durch politische Kampagnen im Bildungssystem oder durch einen forcierten kulturellen Wandel. Inwieweit unterscheidet sich die heutige neue Mittelschicht von der erwähnten alten Mittelschicht in den Staaten der Region?

Nasr: Die alte Mittelschicht stellte keine Bourgeoisie im klassischen Sinne dar. Darum spielte sie auch keine historische Rolle wie die Bourgeoisie des Westens. Eine Mittelschicht, die vom Staat aufgebaut und gestützt wurde, ist auch vom Staat abhängig. Sie kann sich deshalb auch nicht zu einer treibenden Kraft politischer Modernisierung entwickeln. Die bürgerliche Mittelschicht, welche einst die Gesellschaften des Westens veränderte und heute dabei ist, die Gesellschaften der Schwellenländer zu verändern, ist nicht vom Staat abhängig, sondern von den Märkten. Deren Interessen sind mit der Entwicklung der Weltwirtschaft verknüpft und vertreten kulturelle und politische Vorstellungen, die ihren ökonomischen Interessen dienen.

Eine unabhängige Bourgeoisie, also eine bürgerliche Mittelklasse, die mit der Weltwirtschaft verbunden ist, war und ist immer ein Motor für die Entwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft, für Stabilität und den Niedergang radikaler Ideologien. Wir können diese Entwicklung im Rückblick wie auch an aktuellen Beispielen erkennen. Die alte Mittelschicht im Nahen Osten war nicht kapitalistisch und dynamisch, sondern statisch. Doch die neue Mittelschicht in diesen Ländern ist inzwischen dynamisch, kapitalistisch und am freien Handel interessiert.

Wie könnten denn islamische Staaten wie der Iran in die Weltwirtschaft integriert werden?

Iranerin in Teheran; Foto: AP
Eine unabhängige Bourgeoisie als Motor für die Entwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft, für Stabilität und den Niedergang radikaler Ideologien: moderne Iranerin in Teheran

​​Nasr: Die Integration in den Weltmarkt basiert zuallererst auf internen Wirtschaftsreformen im Zusammenhang mit mehr Handel in den jeweiligen Ländern. Diese Kombination zwingt die jeweiligen Volkswirtschaften zum Wandel und verknüpft den wachsenden Wohlstand – wie auch die gesellschaftliche Schicht, die am meisten davon profitiert –, mit der Weltwirtschaft.

Diese ökonomische Transformation erfordert dann weitere politische Reformen, welche die betreffenden Länder dazu bringen, ihre Interessen mit denen im Rest der Welt in Einklang zu bringen und eine größere politische Transparenz zu gewährleisten – basierend auf den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der universellen Werte.

Wenn Sie die Außen- und Verteidigungspolitik der USA in den vergangenen Jahren betrachten, würden Sie dafür plädieren, weniger auf politischen Druck und militärische Stärke zu bauen, dafür aber mehr auf eine Öffnung der Weltmärkte zu setzen, um die islamische Welt besser zu integrieren?

Nasr:Die ökonomische Transformation bietet einen langfristigen Lösungsansatz für die bestehenden Probleme zwischen dem Westen und großen Teilen der islamischen Welt. Langfristig, wenn das bestehende Klima aus Konfrontation und Misstrauen zwischen dem Westen und der islamischen Welt überwunden ist, müssen wir die Beziehungen so gestalten wie zwischen dem Westen und Ostasien oder Lateinamerika. Dafür bedarf es eines verstärkten wirtschaftlichen Austausches und gemeinsamer wirtschaftlicher Werte und Interessen sowie einer Partizipation am Weltmarkt.

Aktuell scheint das "chinesische Modell", also die Verbindung von wirtschaftlicher Liberalisierung im Verbund mit einer autoritären Führung, weltweit an Anziehungskraft zu gewinnen. Könnte dieses Modell nicht für die islamischen Länder, gerade für deren politische Eliten, attraktiver sein, als das von Ihnen gepriesene westliche System? Immerhin würde den Regimes dort ein Machtverlust erspart bleiben, was ja in deren ureigenstem Interesse sein dürfte.

​​Nasr: Das "chinesische Modell" verfügt sicherlich über eine gewisse Anziehungskraft auf autoritäre Regimes sowie auf Staaten, die von einer Diktatur und einer Staatswirtschaft geprägt sind. Wahrscheinlich befindet sich das "chinesische Modell" langfristig betrachtet aber selbst in einer dynamischen Veränderungsphase hin zu einer demokratischen Marktwirtschaft.

Doch viel wichtiger in Hinblick auf die Debatte um die islamische Welt ist nicht das jeweilige Regierungssystem, sondern die Tatsache, dass selbst in China die Mittelschicht, sobald diese sich in die Weltwirtschaft integriert hat, bestimmte Werte - basierend auf den universellen Werten - übernimmt und diese auch vertritt. Ob nun in einem autoritären politischen System oder in einer Demokratie: das Anwachsen einer Mittelschicht, die Vernetzung mit der Weltwirtschaft, führt langfristig zu größerer Stabilität und zum Abbau von internationalen Spannungen.

Interview: Ramon Schack

© Qantara.de 2010

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