Der Westen will uns im Klischee fixieren

Der Blick von außen mit dem Wissen von innen: Ein Gespräch mit dem irakischen Schriftsteller Sinan Antoon über die Zukunft seines Heimatlandes. Von Lena Bopp

Von Lena Bopp

Sinan Antoon, Sie haben von Anfang an sehr hoffnungsvoll auf die Proteste im Irak geschaut. Was wird nach der Tötung des iranischen Milizenführers Soleimani von ihnen übrig bleiben?

Sinan Antoon: Eine der wichtigsten Forderungen der Demonstranten bezieht sich auf Souveränität. Die Leute wollen die Hoheit über ihr Land und seine Ressourcen zurück, und sie weisen alle ausländische Beeinflussung zurück, sowohl aus Iran als auch aus Amerika. "Weder Iran noch Amerika", rufen sie in Bagdad, Basra und Nasiriyya. Der Tötung Soleimanis und die iranische Vergeltung sind beides Verletzungen der irakischen Souveränität, und sie zeigen einmal mehr, wie schwach, wenn nicht sogar verräterisch, das irakische Regime ist. Die Gefahr eines neuen Kriegs droht von der Protestbewegung abzulenken, und sie hat einigen Milizen, etwa in Nasiriyya, emöglicht, Demonstranten anzugreifen. Aber ich glaube, deren Entschlossenheit und Widerstandskräfte sind stärker.

Welches Potential haben die Proteste im Irak?

Antoon: Niemand hatte erwartet, dass die Proteste ein solches Ausmaß annehmen und über drei Monate hinweg andauern würden. Die irakische Politik, die ohnehin nur über geringe Glaubwürdigkeit verfügte, hat diese nun vollständig verloren: 600 Demonstranten wurden getötet, Zehntausende verwundet oder zu Krüppeln gemacht. Das Regime und die Milizen haben alle möglichen Tricks angewandt, um die Proteste niederzuschlagen, aber es ist ihnen nicht gelungen.

Das irakische Parlament hat die amerikanischen Streitkräfte aufgefordert, das Land zu verlassen. Geschieht das aus Furcht davor, zum Schauplatz einer iranisch-amerikanischen Konfrontation zu werden, oder ist dieser Beschluss auch Ausdruck einer älteren Wut gegenüber den Amerikanern?

Antoon: Das Parlament ist keine legitime oder glaubwürdige Vertretung des irakischen Volks. Die Demonstranten haben ein neues Wahlrecht und eine neue Verfassung gefordert, weil sie den Glauben an all diese korrupten Leute verloren haben, die sich loyaler gegenüber ausländischen Kräften und deren Klüngel zeigen als gegenüber dem Land. Das muss man im Hinterkopf haben, wenn man die Entscheidung des Parlaments bewertet. Die meisten Iraker sind es leid, ihr Land und ihr tägliches Leben als Schlachtfeld von regionalen und globalen Konflikten zu sehen. Weil die aus Iran unterstützten Milizen die Proteste mit so schamloser Gewalt niederzuschlagen versuchten, mag die Wut über den Einfluss der Iraner größer sein, aber viele Iraker, auch Demonstranten, sagen: Wir wissen noch sehr genau, wer 2003 den Iranern die Türen geöffnet hat und wer den Konfessionalismus in die Politik trug...

Für wie widerstandsfähig halten Sie das irakische Regime?

Antoon: Ich glaube nicht, dass es widerstandsfähig ist. Es ist brutal. Aber die jungen Leute werden weiter protestieren, sie haben gar keine andere Wahl. Die Kluft besteht ja nicht nur zwischen den Generationen, sondern auch zwischen der politischen Klasse, die in der Grünen Zone in Bagdad im Luxus lebt, und diesen vielen Männern und Frauen, die oft aus armen Gegenden kommen. Das Gute an den Entwicklungen der vergangenen zwei, drei Jahre ist, dass die meisten Proteste keine sektiererischen Slogans benutzten. Es ist ein neues Gefühl des Irakerseins entstanden, das nicht durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession oder Gruppe geprägt ist. Das ist sehr wichtig. Der sektiererische Diskurs der politischen Parteien ist überholt. Sie haben nichts mehr, womit sie den Leuten Angst machen können. Deswegen benutzen sie Kugeln. Das ist das Einzige, was ihnen bleibt.

Sie sind im Irak geboren worden und 1991 in die Vereinigten Staaten emigriert. Sie schreiben auf Arabisch, aber Ihre Bücher werden alle ins Englische übersetzt. Sehen Sie sich als irakischen oder amerikanischen Autor?

Antoon: Als irakischen Autor. Meine Mutter war Amerikanerin, ich bin im Irak aufgewachsen. Meine ganze Verwandtschaft hat so lange gesagt, ich wäre ein halber Amerikaner, bis ich es selbst geglaubt habe. Aber es war nicht leicht, in einem Land anzukommen, das mein Heimatland gerade ins vorindustrielle Zeitalter zurückgebombt hatte und dann mit Sanktionen belegte.

Wie schreibt man über Gewalt, ohne sie zu instrumentalisieren?

Antoon: Im Irak hat die Zerstörung des Staates und der staatlichen Institutionen dazu geführt, dass sich viele Leute auf eine nationalistische Position besinnen, von der aus sie die Vergangenheit betrauern. Oder sie lassen sich in Lager spalten. Das war schon 2003 so: Damals war man entweder für Saddam oder für die Invasion der Amerikaner. Eine doppelte Positionierung war nicht erlaubt. Für mich als Schriftsteller lautet also die Herausforderung: Wie stellt man den Irak im Lauf seiner Geschichte dar, ohne in Konfessionalismus oder Nationalismus zu verfallen? Wie wird man der Komplexität der Situation etwa von 2003 gerecht, ohne die Dichotomie von Diktatur und Invasion aufzugreifen? Es ist kontraproduktiv, den Irak allein als Ort des Chaos und der Gewalt darzustellen, weil man damit nur die Vorstellung reproduziert, dass der Irak keine Geschichte hätte, dass er irgendwie immer so gewesen wäre.

Buchcover "Book of Collateral Damage", Quelle:Yale University Press
Sinan Antoon: "Das 'Book of Collateral Damage' ist kein autobiographisches Buch, obwohl es Ähnlichkeiten geben kann. Mein Befremden in den Vereinigten Staaten hat nicht nur mit der amerikanischen Politik gegenüber dem Irak zu tun, sondern auch mit dem Weißsein und mit der Art, in der amerikanische Liberale ihre Komplizenschaft in der Gewaltgeschichte des Landes gegenüber Afroamerikanern und Ureinwohnern ignorieren."

Es stimmt: Wenn wir über den Irak reden, dann meist als Kriegsgebiet, wir reden kaum über seine Kultur.

Antoon: Und wenn doch, dann über Archäologie. Ich will das nicht generalisieren, aber es gibt eine Tendenz, bestimmte Teile der Welt als Museen zu betrachten, mit einer Kultur, die mal großartig war, aber irgendwie in der Zeit festgefroren ist.

Wenn Sie über moderne irakische Kultur sprechen, worüber reden Sie dann? Über eine Szene, die im Irak stattfindet oder im Exil?

Antoon: Über beides. Aber ich möchte eigentlich auf etwas anderes hinaus. Nur wenige Menschen im Westen wissen, dass der Irak im zwanzigsten Jahrhundert eine lebendige, vielversprechende Gesellschaft war, und ich sehe mich als ein Produkt dieser kulturellen Tradition. Ein Beispiel: Die moderne arabische Lyrik als Revolte gegenüber der traditionellen Dichtung nahm ihre Anfänge in den fünfziger Jahren im Irak. Zwei Dichter, ein Mann und eine Frau, Badr Shakir al-Sayyab und Nazik al-Malaika, begannen, in freier Versform zu schreiben, sie brachen mit der traditionellen Form der arabischen Dichtung. Das kam nicht aus dem Nichts, sondern entstand aus einer aufkeimenden Mittelschicht, einem guten Bildungssystem und natürlich auch einer reichen Vergangenheit. Dasselbe gilt für die Kunst. Ja, es gab Assyrer und Sumerer, aber warum reden wir nie über das zwanzigste Jahrhundert? Warum ist darüber so wenig bekannt? Wem nutzt das?

Was ist Ihre Antwort darauf?

Antoon: Meine Antwort wird nicht vielen gefallen. Ich denke, es ist Teil eines orientalistischen Narrativs, das Zivilisationen als ein lineares Kontinuum betrachtet, bei dem der Westen irgendwie immer vorne liegt. Das geschieht intuitiv, nicht explizit. Und in den Vereinigten Staaten dient dieses Narrativ auch dem Zweck, deutlich zu machen, dass es diese alten Zivilisationen zu schützen gilt. Das Paradox ist: Wir bombardieren, und wir retten sie. Dabei waren es neben dem Horror unter Saddam Hussein und dem Golfkrieg von 1991 auch die Sanktionen zwischen 1990 und 2003, die das wirtschaftliche und gesellschaftliche Gefüge im Irak zerstört haben.

Davon handelt Ihr letzter Roman. Ihr "Book of Collateral Damage" ist eine Art Archiv, ein Katalog voller Dinge, die es im Irak einmal gab und die verloren sind.

Antoon: Ich stelle mir den furchtbaren Begriff des Kollateralschadens als ein Schwarzes Loch vor, das alles verschluckt: Häuser, Menschen, Tiere, Bäume. Alles, was das Leben ist. Es geht in dem Buch aber auch um die Unmöglichkeit der Archivierung. Ich habe versucht, durch die Figur eines verrückten Buchverkäufers der Frage nachzugehen, wie man die Geschichte eines Krieges schreibt, ohne irgendetwas auszuschließen. Wenn man aber alles einschließen will, was nur in der ersten Minute eines Krieges zerstört wurde, kommt man nie über diese erste Minute hinaus.

Im "Book of Collateral Damage" gibt es eine Figur, die Ihnen ähneln könnte. Ein aus dem Irak geflohener Akademiker, der sich in New York unwohl fühlt ...

Antoon: Es ist kein autobiographisches Buch, obwohl es Ähnlichkeiten geben kann. Mein Befremden in den Vereinigten Staaten hat nicht nur mit der amerikanischen Politik gegenüber dem Irak zu tun, sondern auch mit dem Weißsein und mit der Art, in der amerikanische Liberale ihre Komplizenschaft in der Gewaltgeschichte des Landes gegenüber Afroamerikanern und Ureinwohnern ignorieren. All diese verfluchten Liberalen sind immer für den Krieg, lernen nichts dazu und haben keine kritische Haltung gegenüber dem Staat. Und wie sie immer "wir" sagen. Dann denke ich immer: Wenn es eine gute Sache daran gibt, in einer Diktatur zu leben, dann, dass man lernt, dass es kein "wir" gibt. In Diktaturen wissen die Leute, dass es ein Volk gibt und eine Regierung und dass das nicht dasselbe ist.

Das Interview führte Lena Bopp.

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2020